Business Transformation Agilität

Wenn Organisationen zu Ökosystemen werden

Wir dürfen die Digitalisierung bei Marktorientierung und Marketing nicht auf das Thema Effizienz reduzieren. Es geht vielmehr darum, Unternehmen, Partner und Kunden in die Ko-Kreation zu bringen. Ökosystem statt Silo.

Digitale Transformation heißt vor allem Vernetzung.
Digitale Transformation heißt vor allem Vernetzung.

Neue Marktorientierung: Wenn Märkte zu Ecosystemen werden

Die Service-Dominante Logik, die den Wandel von Produkten hin zu Services und Ko-Kreationen fordert, wie auch die Customer Experience-Welle entspricht weitgehend den "4I der der Marktorientierung" nach Prof. Heribert Meffert. Diese 4I (Individualität, Integrität, Integration, Innovation) verändern aber nicht nur die eigenen Services und Ko-Kreationen von Unternehmen. Auch Märkte und Organisationen müssen sich entsprechend zu fluiden „Ecosystemen“ wandeln, damit sie eine optimale Werterfahrung im Sinne der 4I unterstützen können.

Wandel von der Produkt-Silo-Logik zur ko-kreativen Ecosystem-Logik. Grafik: W. Felser
Wandel von der Produkt-Silo-Logik zur ko-kreativen Ecosystem-Logik.

Was aber sind diese Ecosysteme, mit denen individualisierte und integrierte Services möglich werden? Die Service-Dominante Logik von Stephen L. Vargo und Robert F. Lusch, die im ersten Teil dieses Beitrags zur Ko-Kreation erwähnt wurde, liefert auch hierzu Antworten. Für die Forscher ist ein Service-Ecosystem ein „relatively self-contained, self-adjusting system of resource-integrating actors that are connected by shared institutional logics and mutual value creation through service exchange.”  

Danach kann die Ökonomie insgesamt als ein fraktales Netzwerk von (Service-) Ecosystemen verstanden werden, wo in überlappenden Plattformen jeweils Ko-Kreation stattfindet. Zum einen gilt es, Kunden und Service-Anbieter (Firm, Consumer generalisiert) auf neue Art ko-kreativ zu verbinden, um zum Beispiel überhaupt erst eine fortlaufende Individualisierung und Integration im Kontext einer dauernden Nutzung zu ermöglichen. Zum anderen gilt es aber auch, im größeren Bild komplementäre Partner zu integrieren, damit integrierte Services möglich werden.

Externe Ecosysteme stellen als „organisiertere“ Märkte
eine Zwischenform zwischen Märkten und Organisationen dar.

Neue Marktorientierung: Wenn Organisation zu Ecosystemen werden

Ashbys Gesetz weist vereinfacht formuliert („die Komplexitätsfähigkeit eines steuernden Systems muss mindestens der Komplexität seiner Umwelt entsprechen“) darauf hin, dass eine neue Komplexität von Märkten und Kundenschnittstellen beziehungsweise Services auch die Organisation nicht unberührt lässt. Und in der Tat haben neben den Autoren der Service-Dominanten Logik verschiedene Autoren die Organisation neugedacht, um den neuen Marktanforderungen leistungs- oder komplexitäts- und dynamikfähiger zu entsprechen, wie es schon früh Gerhard Wohland forderte.

Wandel vom Konzern-Monolithen zum Ecosystem marktorientierter Zellen
Wandel vom Konzern-Monolithen zum Ecosystem marktorientierter Zellen.   Grafik: Detecon

Unter anderem greift der Company ReBuilding-Ansatz den Ecosystem-Gedanken auf und geht quasi den umgekehrten Weg von der funktionalen Silo-Organisation in Richtung Markt durch marktorientierte Zellen im Ecosystem.  Wagner et al. verstehen Organisationen als flexible Ko-Kreations-Ecosysteme, organisiert in unternehmerischen Zellen und Gemeinschaften. Die einzelne Zelle individualisiert und integriert Marktorientierung und Unternehmertum für einen spezifischen Markt oder spezifische Services. 

Es reicht allerdings nicht, das Unternehmen nur in marktorientiertere Zellen und Ecosystemen zu reorganisieren. Auch die Systeme und die Kultur für diese Ecosysteme und Zellen müssen sich ändern. Gerade Customer Experience Management fordert eine Perspektive aus Kundensicht, wie es Johannes Ceh in „Warum das Kundenerlebnis DIE Managementleitlinie sein sollte“ konkretisiert. Kundenbeziehungen nur zu verwalten (CRM) oder, noch schlimmer, den Verkauf nur zu unterstützen (Computer Aided Selling, CAS), reicht im kundenzentrierten Zeitalter nicht mehr. Der Kunde „zieht“ nach seinen Bedürfnissen die Ko-Kreation und Experience, die die markt- und kundenorientierte Zelle realisieren. Insofern müssen nicht nur Produkte zu Ko-Kreationen und Silos auf Märkten und in Organisationen zu Ecosystemen, sondern auch CAS oder CRM zu CXM werden.

Ein neues Paradigma der Marktorientierung als große Chance

Die bisherigen Ausführungen weisen den Weg zu einem paradigmatischen Wandel von Marketing und Marktorientierung, damit aber auch von Märkten, Organisationen, Systemen etc.. Das Verständnis beziehungsweise das Paradigma des Marketing hat sich über die Jahrzehnte kontinuierlich verändert. Ursprünglich standen das Unternehmen selbst und sein „Absatz“ im Fokus („Absatzwirtschaft“), später kamen Aspekte wie der Verbraucher und die Umweltorientierung hinzu.

Wandel der Marketing-Paradigmen nach Meffert et al.
Wandel der Marketing-Paradigmen nach Meffert et al.   Grafik: W. Felser

  

Digitalisierung kennzeichnet nun bei den Paradigmen nach Meffert et al. die bisher letzte Neuorientierung des Marketing. Hier darf man aber nicht zu eng Technologie-fixiert denken. Ecosysteme sind dann die emergente Veränderung der Wertschöpfung und Marktorientierung auf Basis der Digitalisierung, wo dann nicht mehr Markt und Organisation im Fokus stehen, sondern ein Kontinuum komplexer, kollaborativer, ko-kreativer Ecosysteme.

In Ecosystemen stehen nicht mehr Markt und Organisationen im Fokus, sondern ein Kontinuum komplexer, kollaborativer, ko-kreativer Systeme. 

Dieser Wandel hat enorme ökonomische Potenziale. Mit dem neuen Paradigma sind nicht nur verbesserte Mehrwerte durch Individualisierung und Integration der Services verbunden. Auch die Zusammenarbeit und die Produktivität profitieren von den Synergien im Netzwerk oder Ecosystem – durch die neue Partnerschaftlichkeit und Skalierungsfähigkeit der Power of Pull bei gleichzeitigem Empowerment des Einzelnen. Die 4I lassen sich also auch als 4P (Powers of …) als Basis für mehr Wert beziehungsweise eine leistungsfähigere Ökonomie interpretieren:  Power of Personalization (Individualisierung der Leistung!) und Integrating Platforms (Integration der Services) für neue ko-kreative Services und Power of Empowerment der einzelnen Zellen und Power of Pull/Partnership im Netzwerk / Ecosystem für eine neue Produktivität!

Herausforderungen des neuen Ecosystem-Paradigmas

Zugleich sind in den Unternehmen mit dem neuen Paradigma eine Vielzahl neuer Fragen zu beantworten, zum Beispiel:

… für New Frontiers/Ecosysteme (Werte, Compliance …)

  • Warum müssen wir unser Ecosystem bzw. Geschäftsmodell weiterentwickeln bzw. wer greift unsere bisherigen Geschäftsmodelle an?
  • Wer sind die relevanten Akteure des Ecosystems, wie werden sie eingebunden?
  • Wie regeln geteilte Werte und institutionelle Logiken das Miteinander?

… für Core/Geschäftsmodell (Verhalten, Ko-Kreation, Use Cases …)

  • Warum sind unsere bisherigen Ko-Kreationen und Kundenerfahrungen unzureichend?
  • Was sind für Kunden die wichtigsten ko-kreativen Prozesse im Ecosystem?
  • Wie werden gemeinsame Wertschöpfung und Wertpartizipation sichergestellt?

… für die Foundations/Fähigkeiten (Daten, Technologie, Organisation …)

  • Warum ist unsere heutige Fähigkeitsbasis unzureichend bzw. welche Lücken bei Daten, Technologie, … beschränken unsere Fähigkeiten?
  • Welche Daten, Informationen … sind im Ecosystem für diese Fähigkeiten nutzbar?
  • Wie wird die Co-Evolution der Fähigkeiten im Ecosystem sichergestellt?

Durch Ecosysteme und Ko-Kreation wird marktorientierte Führung nicht einfacher. Sie fordern eine ganzheitliche Sicht und ein komplexeres Handeln. Hier ist auch die Wissenschaft gefordert, etwa über die Austauschbeziehungen auf Märkten und in Organisationen hinaus, die die vielfältigen Fragen institutioneller, sozialer und normativ-kultureller Natur im Rahmen der veränderten marktorientierten Unternehmensführung zu beleuchten. Diese Herausforderungen gilt es im Rahmen der digitalen Transformation aufzugreifen und im Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis weiterzuentwickeln. Die größte Herausforderung wird wahrscheinlich die umfassende Transformation der Alltagspraxis sein.