Innovation New Work

Meetings sind das neue Rauchen

Analyse Alle schimpfen auf Meetings. Gäbe es dafür eine Ecke, Besprechungen müssten ganze Tage dort stehen und sich schämen. Aber: Meetings erfüllen wichtige Bedürfnisse von Mitarbeitenden, meint Jule Jankowski. Zum Beispiel das, gesehen zu werden, an einer Gemeinschaft teilzuhaben und das Bedürfnis nach dem Gefühl, alles auf dem Schirm zu haben.

Zusammensitzen, Dinge besprechen, Entscheidungen treffen – das soll so potenziell tödlich sein wie das Rauchen? Foto: Daniel Peter
Zusammensitzen, Dinge besprechen, Entscheidungen treffen – das soll so potenziell tödlich sein wie das Rauchen? Foto: Daniel Peter

Meeting: Die Wurzel allen Übels

Bevor der Sturm der Entrüstung ob dieser Analogie losbricht: Ja, Meetings sind NICHT vergleichbar mit Rauchen. Ja, ist gibt keinen einzigen vernünftigen Grund, der FÜR das Rauchen spricht. JA, auch zu viele und schlechte Meetings schaden nachweislich der Gesundheit. Und nein, es geht nicht darum, Meetings in öffentlichen Gebäuden zu verbieten. Wobei, diese lustige Vorstellung heben wir uns vorsichtshalber mal für später auf. Was hat es nun auf sich mit dem Vergleich zwischen Meetings und Rauchen? Ist am Ende ein wahrer Kern an dieser unangenehmen Aussage?

Das Meeting ist der neue Prügelknabe der Arbeitswelt. Kein Tag vergeht, an dem nicht darauf medial eingedroschen wird. Ausnahmsweise sind sich an dieser Stelle Vertreter sämtlicher Lager – von klassischer Unternehmensführung bis hin zu New Work Community – einig. Hier liegt die Wurzel fast allen Übels unserer ineffizienten und vollgestopften Bürotage. Die Gründe fürs Abstrafen sind ebenso mannigfaltig wie einleuchtend. Ziellos, zeitfressend, zermürbend – so lautet das verbale Fallbeil, das auf unsere ritualisierten Besprechungen herniedergeht.

Das Meeting ist der neue Prügelknabe der Arbeitswelt.

Ein kurzer Blick auf unsere Meetingrealität verrät: Wir haben viel zu viele davon. Die Meetings, die wir abhalten, sind in der Regel schlecht oder gar nicht vorbereitet, unstrukturiert und ohne klare Agenda. Von der Dokumentation oder gar Moderation ganz zu schweigen. Letztere übernimmt in der Regel die Führungskraft, um sich anschließend über mangelnde Beteiligung der Mitarbeiterschaft am zarten Pflänzchen der co-kreativen Diskussion zu beklagen. „Merkste selber“ würden uns TikTok-Comedians, die die Absurditäten unseres Alltags auf die Schippe nehmen, entgegnen. Ganz offensichtlich stellen wir uns selbst das Bein, über das wir immer wieder stolpern. Daran ändert auch die Digitalisierungsoffensive in Sachen Meeting kein Stück.

Bis hierhin haben Sie vermutlich noch nicht viel Neues gelesen. Nichts, worüber sie sich nicht selbst schon hundertfach geärgert hätten und doch wieder nichts daran geändert haben. Und damit sind wir beim springenden Punkt angelangt:

Warum – in aller Welt – halten wir an etwas, das uns so sehr Arbeitszeit und Arbeitslust kostet, mit aller Gewalt fest? Warum gelingt es uns nicht, die Finger vom Bestätigungsknopf „nehme an Besprechung teil“ zu lassen? Besser noch: Das Thema komplett auf den Prüfstand zu stellen?

Studie: Kosten von Arbeitsunterbrechungen
Vera Starker, Next Work Innovation Think Tank, hat gemeinsam mit Dr. Katharina Roos und Dr. Eva M. Bracht, Netzwert Partner GmbH, Daniel J. Hanke, Klenk & Hoursch AG, Dr. Dirk Graudenz und Dr. Robert Coppik eine Studie zu den Kosten von Arbeitsunterbrechungen durchgeführt. Es geht um die Frage, welche Folgen Unterbrechungen für die Produktivität und die Stressentwicklung haben. Meetings spielen darin auch eine wichtige Rolle.  
Die Studie finden Sie hier.

Es ist bitterer Bestandteil unserer Lebenserfahrung, dass Wissen um einen Umstand allein noch keine Veränderung auslöst. Was steht uns im Weg? Manchmal sind es die Schmerzen, die nicht groß genug sind, um den Aufwand der Anpassung zu rechtfertigen. In anderen Fällen fehlt es uns an Ideen zur Umsetzung. Ein anderes Mal scheuen wir uns davor, die Konsequenzen des Unterlassens allzu plastisch auszumalen. Nicht so beim Rauchen, nicht so bei Meetings: Selbst an die Wand projizierte, vergeudete Arbeitsminuten – umgerechnet in Euros – können uns ebenso wenig von der Meetingitis heilen wie abgedruckte Raucherlungen auf Zigarettenpackungen Menschen zu Nichtrauchern transformieren. Zu wenig Schmerz, zu wenig klare Konsequenzen, zu wenig Umsetzungsideen - all diese Annahmen können wir im Fall des Sanierungsstaus unserer Meetings getrost zu den Akten legen.

Oh ja, Meetings stiften Nutzen

Wenn das Offensichtliche nicht als Erklärung herhält, ist ein zweiter Blick erforderlich. Hinter den Kulissen der professionellen Stuhlkreise türmen sich eine ganz Reihe von Gründen, die uns an der Hassliebe zu Meetings festhalten lassen. Meine Vermutung: Es sind die Sekundärnutzen, die uns dazu bringen, alles beim (schlechten) Alten zu belassen. Unsere Regelmeetings und Jourfixes versprechen offenbar einen weniger offensichtlichen Zugewinn, der uns all die Mühen wert erscheinen lässt.

Was könnten sekundäre Nutzen von Meetings sein?

Hier sind die acht wichtigsten Nutzen von Meetings, die auf keiner Agenda stehen.

1. Meetings veranstalten soziales Schaulaufen

Wer sitzt wo, neben wem? Wer spricht wann, wie viel und vor allem: wer spricht nicht? Jedes Meeting gleicht einer Familienaufstellung im Arbeitskontext. Mit gehöriger Wirkmacht. Nicht umsonst hat sich der Begriff „verorten“ in unseren Businessjargon eingeschlichen. Unsere regelhaften Sitzungen sind die Versinnbildlichung, wo wir im Arbeitsprozess stehen. Sie geben Auskunft über unseren (informellen) Status, unsere Nähe und Distanz zu Kollegenkreis, Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Je nach persönlicher Präferenzstruktur wird somit jede Veranstaltung zum Catwalk oder Spießrutenlauf.

2. Meetings sind sozialer Kleber

Jenseits aller Fachlichkeit erhaschen wir einen kleinen Blick auf das, was die Menschen wirklich umtreibt. Der größte Schwachpunkt der meisten Meetings wird unter diesem Gesichtspunkt zu seiner heimlichen Superkraft: die Informalität, das Ungeplante. Sozialer Zusammenhalt ergibt sich nicht in erster Linie aus dem gemeinsamen Abarbeiten an Meilensteinen. Es sind die kleinen Blitzlichter auf persönliches Erleben und Erfahren, das uns im besten Fall Kohäsion serviert.

3. Mutproben für eigene Ideen

Zugegeben: Es braucht Mut, eigene Ideen erstmalig im Kollegenkreis vorzustellen. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es ein deutlich größeres Risiko birgt, sich mit eigenen Lösungen zu positionieren als fremde Ideen klug zu analysieren, aka: zu zerreden, wird schnell klar: Meetings sind moderne Arenen. Hier finden die wahren Gladiatorenkämpfe statt. So wird ein profaner Mittwochmorgen schnell zur Höhle des Löwen. Und der Körper signalisiert uns, was er hormontechnisch so draufhat: Endophirne, Adrenalin, Cortisol usw.

4. Dopaminbad für Feedbackjunkies

Apropos Hormone. Die Kapitalverzinsung des Risikos, eine eigene Idee, einen eigenen Gedanken preiszugeben, ist das positive Feedback. Coram publico ausgesprochen ist es die höchste Währung in unserer Aufmerksamkeitsökonomie. Das Gleiche gilt für brillante Analysen in kollegialer Runde. Wer sich feedbacktechnisch gerne mal einen Schuss gönnt, kommt im Meeting – wenn alles glatt läuft – voll auf seine Kosten.

5. Kleine Inseln der Sichtbarkeit

„Wer nicht sichtbar ist, findet nicht statt.“ Ein böser, leider allzu wahrer Sinnspruch, der in Zeiten von Remote Arbeit noch an Bedeutung gewonnen hat. Es geistern bereits Begriffe und Phänomene wie Remote Anxiety und Proximity Bias durch die Gegend. Demnach wird die Produktivität nicht Anwesender geringer eingeschätzt als die von Kollegen und Kolleginnen im direkten Sichtfeld. Das stellt Führungskräfte vor die große Herausforderung, sich diesen Dynamiken zunächst bewusst zu sein und sie aktiv zu bekämpfen. Die Angst, vergessen und übersehen zu werden, sitzt tief und wirkt sich verheerend auf unsere Produktivität aus. Laut einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2023, erstellt vom Software Unternehmen HUMU, zeigt sich ein eklatanter Unterschied zwischen Remote-Mitarbeitern (+32 Prozent) und den Mitarbeitenden vor Ort hinsichtlich ihrer Ängste vor anstehenden Veränderungen, bevorstehenden Re-Organisationen oder möglicher Entlassungen. So wird die Angst zum Produktivitätskiller und damit zur selbsterfüllenden Prophezeiung, die uns signalisiert: Ohne synchrones Miteinander in geselliger Kollegenrunde bin ich schnell weg vom Fenster.

6. Taktgeber in einer entgrenzten Arbeitswelt

Eigene, neue Strukturen zu bauen, ist verdammt anspruchsvoll. Das haben wir kollektiv und leidvoll zu Beginn der Pandemie (wann war das nochmal?) erfahren. Sehr schnell haben wir gelernt, dass wir komplett ohne Strukturen verloren sind. Mental Load ist der Sondermüll der modernen Arbeitswelt. Um unsere Konzentrationsfähigkeit ist es ohnehin nicht zum Besten bestellt, wie die Wirtschaftspsychologin und Bestseller-Autorin Vera Starker mit ihrem Team erforscht hat. Alle 4 Minuten unterbrechen wir im Durchschnitt unsere Arbeit, im Medienbereich sind es sogar alle 2 Minuten. Die Tagebuchaufzeichnungen, die die Forscherin ausgewertet hat, weisen eine weitere spannende Erkenntnis auf: Wir brauchen nicht mal eine Ablenkung von außen. Wir suchen uns sogar selbst die Zerstreuung, unterbrechen uns eigenständig im Arbeitsflow, wenn kein Impuls von außen kommt.

Meetings sind, nüchtern betrachtet, keine hilfreiche Gegenmaßnahme. Doch sie transportieren die vermeintliche Entlastung, dass wir für die nächsten 60 bis 90 Minuten das Thema „aktiv Strukturen schaffen“ delegieren können. Anfang und Ende sind gesetzt. Ein offenbar wichtiger Taktgeber, der es uns ironischerweise einfacher macht, durch den Alltag zu kommen. Nach dem Motto: Lieber eine beschissene Struktur als gar kein Ende in Sicht. Dafür nehmen wir offenbar sogar in Kauf, dass sich für die eigene Tätigkeit irrelevante Meetings im Durchschnitt auf 2 Tage pro Monat pro Person aufsummieren. Verdammt teuer.

7. Praktizierte Illusion, wir hätten alles auf dem Schirm

Sehr viele Regelmeetings folgen dem Prinzip: Jeder, jede sagt mal kurz, an welchen Projekten er oder sie gerade sitzt und was gerade ansteht. Zu deutsch: Status-Reports. Sinnbefreite Übung aus der Mitte der Bullshit-Work-Industrie. Wir gaukeln uns dabei eine Transparenz vor, die wir zu keiner Zeit wirklich erhalten und im Zweifelsfall nicht einmal verwerten könnten. Status-Reports sind rollierende Zwiegespräche vor Publikum. Die Zuhörer fallen wiederrum größtenteils in die Meetingtrance, wenn sie nicht aktiv eingebunden sind. Transparenz durch Meeting erweist sich – wieder einmal – als eine Illusion, der wir uns nur allzu gerne hingeben: Wenn ich so richtig gut „abgeholt werde“, was um mich herum passiert, dann kann ich meinen Job um so besser machen. Wetten nicht?

8. Strukturen, die uns vermitteln: Du gehörst dazu, Du wirst gebraucht.

Der letzte der Meeting-Zusatz-Nutzen hat es besonders in sich. Das Gefühl von Zugehörigkeit ist uns Menschen ins soziale Wesen gewebt. Niemand – auch wenn es manchmal den Anschein hat – kann komplett ohne das Gefühl des Eingebundenseins auskommen. Ausgrenzung ist – nach Beschämung – eines der negativsten Emotionen, die wir als Menschen – privat oder beruflich – aushalten müssen. Unsere Arbeitsrealität ist gespickt von Ereignissen, zu denen wir uns immer wieder durch Leistung, durch Gefälligsein, durch Anpassung Zutritt verschaffen müssen. Jedes Meeting, dem wir qua Rolle, qua Funktion angehören, nimmt uns den transaktionalen Druck. Hochtrabend ausgedrückt könnte man sagen: Im Regelmeeting kann ich einfach nur SEIN. Dort bin ich Teil von etwas, ohne eine unmittelbare Gegenleistung erbringen zu müssen.

Meetings befriedigen elementare Bedürfnisse

Bei kritischer Draufsicht könnten wir diese Sekundärnutzen einen nach dem anderen zerpflücken und abtun. Doch offenbar stehen sie – ob irrational oder nicht – für Bedürfnisse, die wir im Arbeitsalltag zu wenig repräsentiert sehen.

Wenn wir verstehen, wie stark das Gefühl von „Zugehörigkeit“ wirkt, wie sehr wir alle am Konzept des sozialen Vergleichs hängen und wie ausgeprägt unser Wunsch ist, diese verrückte Welt „im Griff“ zu behalten, dann wird schnell klar: Wir werden uns vermutlich noch sehr lange über schlechte Meetings unterhalten. Jede Form von Überarbeitung von Meetingstrukturen wird ins Leere zielen, zur reinen Oberflächenpolitur verkommen, wenn wir nicht den Mut haben, die Motive dahinter ehrlich zu besprechen. Wir können Organisationsprobleme und Herausforderungen nur lösen, wenn wir wirklich verstehen, worauf sie begründet sind. Alles andere ist Organisationskosmetik.

Wenn wir verstehen, wie stark das Gefühl von „Zugehörigkeit“ wirkt, wie sehr wir alle am Konzept des sozialen Vergleichs hängen und wie ausgeprägt unser Wunsch ist, diese verrückte Welt „im Griff“ zu behalten, dann wird schnell klar: Wir werden uns vermutlich noch sehr lange über schlechte Meetings unterhalten.

Mein Vorschlag: Jeder, jede darf gerne dazu erst Mal alleine in die Reflexion gehen. Und danach? Wie wäre es mit einem: Meeting?

PS: Unvorstellbar übrigens, dass es vor nicht allzu langer Zeit in vielen Büros noch durchaus gebräuchlich war, in Sitzungen zu rauchen. Man denke nur an Redaktionssitzungen oder Runden im Lehrerzimmer … Macht doch mal einen Screenshot von Eurem aktuellen Wochen-Arbeitskalender mit sämtlichen Meetingeinträgen, hebt ihn gut auf und lasst uns in zehn Jahren nochmal draufschauen. Vielleicht sagen wir dann: Meetingmarathon und Rauchen – wie waren echt mal ungesund drauf.

 

Quellen

Liz Fosslien and Sara Gottlieb-Cohen „Research: Remote Workers Are More Anxious About Layoffs“, Harvard Business Review, März 2023.

Vera Starker: „Endlich wieder konzentriert arbeiten“ Rossberg Verlag 2020.

Podcast GOOD WORK, Folge 203 mit Vera Starker „Endlich wieder konzentriert arbeiten“