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Wie verhält sich unsere Arbeitswelt zur Wirklichkeit?

Die Arbeitswelt ist nur ein Teilaspekt der Wirklichkeit. Nicht die Wirklichkeit selbst. Organisationen dürfen die Veränderungen in der Außenwelt nicht verschlafen. Sonst geraten sie in die Krise, mahnt Michael Andrick.

Im Ausdruck „Arbeitswelt“ gebärdet sich ein Teil fälschlich als das Ganze.
Im Ausdruck „Arbeitswelt“ gebärdet sich ein Teil fälschlich als das Ganze.

Von Arbeitsleben und Arbeitswelt

Es gibt keinen Alltagsgegenstand, der nicht seine „Welt“ hätte: „Bettenwelt“, „Motorwelt“, „Fußballwelt“, „Kosmetikwelt“; noch allgemeiner die „Einkaufswelt“, geographisch etwas bescheidener: das „Kaufland“ oder die „Autostadt“. In der Wirtschaft ist auch von der „Welt der Forschung“, der „Welt des Marketing“ usw. die Rede. Aus derselben Mentalität heraus, die solche Ausdrücke hervorbringt, sprechen wir vom „Arbeitsleben“ und der „Arbeitswelt“.

„Welt“ steht für die Wirklichkeit, den Gesamtzusammenhang der Dinge; der Ausdruck „Arbeitswelt“ bezieht sich auf diesen Gesamtzusammenhang, aber mit der Behauptung, er bestehe nur aus Arbeit.

Diese Ausdrücke haben etwas für sich, aber auch etwas Entscheidendes gegen sich. Ein wenig Spitzfindigkeit lohnt an dieser Stelle. Bei einer so grundlegenden Frage wie der nach dem Verhältnis von Arbeitswelt und Wirklichkeit sollten wir uns besser nicht irren. „Aus Lügen, die wir glauben, werden Wahrheiten, mit denen wir leben“ (Oliver Hassencamp). Aus diesem Grund haben wir schon im ersten Artikel das Begriffsmonstrum „work-life-balance“ zurückgewiesen.

Ist Arbeitswelt die Wirklichkeit?

Eine „Arbeitswelt“ wäre eine Welt, die in irgendeinem Sinne aus Arbeit besteht. Das ist aber undenkbar: „Welt“ steht für die Wirklichkeit, den Gesamtzusammenhang der Dinge; der Ausdruck „Arbeitswelt“ bezieht sich auf diesen Gesamtzusammenhang, aber mit der Behauptung, er bestehe nur aus Arbeit.

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Über das Verhältnis der Arbeitswelt zur Wirklichkeit denkt Michael Andrick in seinem Buch Erfolgsleere nach.

Das ist ein Widerspruch in sich. Die „Welt“, von der im Ausdruck „Arbeitswelt“ die Rede ist, kann also nicht die Wirklichkeit sein. Denn im Gesamtzusammenhang der Dinge spielt noch anderes als nur Arbeit eine Rolle. Im Ausdruck „Arbeitswelt“ gebärdet sich folglich ein Teil fälschlich als das Ganze.

Dennoch ist es verständlich, dass wir von der Teilwelt etwa einer bestimmten Arbeit wie von der Wirklichkeit selbst sprechen. Wir verbringen lange Zeiträume mit Arbeit, und das prägt Erinnerung und Erleben. Diesen sinnvollen Kern des Begriffs „Arbeitswelt“ erkenne ich an, denn ich will mich nicht gedanklich in den Elfenbeinturm zurückziehen.

Mehr als das Mosaik der Institutionen

Unsere Arbeitsumgebung kann sich wie eine abgeschlossene Umgebung mit eigener Logik, Atmosphäre und Routine anfühlen, die wir wie eine eigene Welt für sich innerhalb der weiteren Wirklichkeit wahrnehmen. Damit bleiben zwei Fragen: Was ist das tatsächliche Verhältnis unserer „Arbeitswelten“ zur Wirklichkeit? Und was nützt es uns, dieses Verhältnis zu verstehen?

Entscheidend für uns ist, dass jede „Arbeitswelt“ ihre Insassen dafür belohnt, so zu agieren, als gebe es nichts außer ihr: Belohnt wird, was den Zweck der Institution erfüllen hilft.

Jede „Arbeitswelt“ ist die Innenseite einer Institution – einer Organisation, die um eines bestimmten Zweckes Willen da ist und die auf diesen Zweck hin organisiert ist. Die Soziologen sagen, die moderne Welt sei „funktional ausdifferenziert“, sie bestehe also aus einem Bündel solcher zweckbezogenen Institutionen.

Erfolgsleere
Wie sind unsere Arbeitswelten entstanden – und wie funktionieren sie? Warum fasziniert, fesselt und verdummt uns der Ehrgeiz? Warum sollten wir uns gegen die Durchformung unseres Daseins durch die Karriere wehren? Und wie ermöglicht es das Philosophieren, sich eine eigene Lebensweise zu bewahren?
Zu Michael Andricks Buch

Die Wirklichkeit ist aber etwas anderes, etwas mehr als das Mosaik unserer Institutionen. Denn das Elend aus den Abendnachrichten ist ebenso wie ein funktionierender Sozialstaat eine Koproduktion vieler „Arbeitswelten“. Entscheidend für uns ist, dass jede „Arbeitswelt“ ihre Insassen dafür belohnt, so zu agieren, als gebe es nichts außer ihr: Belohnt wird, was den Zweck der Institution erfüllen hilft. Jemanden, der sich auf diese Vereinseitigung seiner Überlegungen und Handlungen gut versteht, nennt man anerkennend „professionell“.

Lenkt uns die Arbeitswelt von der Wirklichkeit ab?

Unsere Professionalität ist unser Kapital in den „Arbeitswelten“, nicht unsere forschenden Nachfragen dazu, welche Rolle unsere Erwerbsarbeit wohl in der Welt – also dem tatsächlichen Gesamtzusammenhang der Dinge – genau spielt. Die jüngere Wirtschaftswissenschaft ist fixiert auf die Transaktionen, die Unternehmen betreiben, und betrachtet ihre Folgen außerhalb des Unternehmens als „Externalitäten“. Das wird nicht eingerechnet, weil es sich in der Gewinn- und Verlustrechnung nicht direkt spiegelt.

Das erklärt das Auf und Ab unserer Unternehmen, Verwaltungen und sonstigen Einrichtungen: Ihre Betreiber, also wir, werden dauernd vom Bedenken der größeren sozialen Zusammenhänge abgehalten.

„Arbeitswelten“ sind wie Pfeile, jede zielt auf einen Zweck hin; die Wirklichkeit ist der Gesamtzusammenhang, der so entsteht – und der in keiner Institution selbst zum Thema gemacht wird. Insofern lenkt unsere Einbindung in die „Arbeitswelt“ uns jeden Tag von der Wirklichkeit ab. Denn zur erfolgreichen Ausführung einer bestimmten Funktion reicht uns Professionalität, d.h. der im übrigen fraglose Gehorsam gegenüber den Erfordernissen des Institutionszwecks.

Führung heißt auch, institutionelle Krisen herbeiführen

Das erklärt das Auf und Ab unserer Unternehmen, Verwaltungen und sonstigen Einrichtungen. Ihre Betreiber, also wir, werden dauernd vom Bedenken der größeren sozialen Zusammenhänge abgehalten. Daraus folgt, dass wir die Veränderungen in der Wirklichkeit – der „Außenwelt“ oder „Umwelt“ unserer Institutionen – immer in gewissem Grade verschlafen.

Philosophie für die Arbeitswelt
Michael Andrick macht sich in einer Artikelserie Gedanken über den Sinn der Arbeit und gelingendes Leben.
Teil 2: Wann sind wir erfolgreich?

Hat dieses pathologische Verpennen der Wirklichkeit einen Grad erreicht, der unsere Institution gefährdet, haben wir eine Krise. In dieser Situation müssen die professionellen Scheuklappen abgenommen werden. Die Wirklichkeit muss wieder in Betracht gezogen und die „Arbeitswelt“ an ihre neuen Eigenschaften angepasst werden.

Diese Notwendigkeit zu erkennen, am besten vorauszuahnen, und dann eine Veränderungskrise in der Institution herbeizuführen, ist die Arbeit der Führung. Darum, was die eigentümliche Professionalität der Führungskraft ausmacht, geht es im nächsten Artikel in der nächsten Woche.