Change Management Organisationsentwicklung

Was ist Führung? Oder: Mit Kuhn um die Kurve

Der Weg zur Veränderung führt nicht über intellektuelle Überzeugungsarbeit. Sondern über das Vorbild von PionierInnen, denen sich die Mehrheit nach und nach anschließt. Führung heißt, diesen Prozess zu initiieren und die "Wendegeschichte" zu erzählen.

Change is a long and winding road. Foto von Kaique Rocha von Pexels
Change is a long and winding road. Foto von Kaique Rocha von Pexels

Organisationen verdummen abgekoppelt von der Umwelt

In den vorherigen Artikeln haben wir darüber nachgedacht, was sinnvolle Arbeit ist, wie sie mit einer wertorientierten Lebensführung zusammenhängt – und darüber, wie sich unsere „Arbeitswelten“ zur Wirklichkeit verhalten.

Dabei wurde deutlich, dass die Kombination aus Zweckorientierung allen Handelns und Gehorsam gegenüber etablierten Vorgehensweisen (Professionalität) die gefährliche Tendenz haben, eine Organisation ungut von ihrer Umwelt abzukoppeln und in diesem Sinne zu „verdummen“, weil sie ihre Bewohner permanent von der Wirklichkeit ablenkt.

Um von einer alten zu einer neuen Weltsicht zu gelangen, müssen Menschen durch eine Kurve geführt werden – Schritt für Schritt.
Michael Andrick

Dieser Artikel ist zu kurz, um vor diesem kleinen Themenpanorama meines Buchs „Erfolgsleere – Philosophie für die Arbeitswelt“ die Führungsfrage wirklich zu beantworten. Also möchte ich zum Abschluss dieser kleinen Serie eine Parabel in den Raum stellen, die mir das Wesentliche zu erfassen scheint: Führung ist Veränderungskunst.

Führen ist die Kunst der Veränderung

Der Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn benutzt in seinem Buch über die Kopernikanische Wende ein eigenwilliges Bild, an dem sich veranschaulichen lässt, worum es bei Führung geht – worin genau die „Veränderungskrise“ besteht, die herbeizuführen wir am Ende des letzten Artikels als Aufgabe der Führungskraft bezeichneten.

Erfolgsleere
Wie sind unsere Arbeitswelten entstanden – und wie funktionieren sie? Warum fasziniert, fesselt und verdummt uns der Ehrgeiz? Warum sollten wir uns gegen die Durchformung unseres Daseins durch die Karriere wehren? Und wie ermöglicht es das Philosophieren, sich eine eigene Lebensweise zu bewahren?
Mehr zum Buch von Michael Andrick

Um von der aristotelischen Vorstellung, die Erde stehe still und die Sonne kreise um sie, zu Kopernikus‘ umgekehrter Ansicht zu gelangen, müssen die Mitmenschen Kuhns Bild zufolge durch eine Kurve geleitet werden. Steht man auf der Straße und blickt in Richtung der Kurve, so scheint die Straße einfach zu enden. Betrachtet man aber die Situation vom Scheitelpunkt der Kurve aus, so kann man in der einen Richtung auf seine alte Auffassung von der feststehenden Erde zurückblicken und ihre Begründung auch würdigen. Man kann aber vom Scheitelpunkt aus auch den Teil der Straße sehen, der nach der Kurve anschließt und in die neue Weltsicht führt, in der die Planeten um die Sonne kreisen und die Sonne stillsteht.

Schrittweise zum Neuen – ohne Revolution

Diesem Sinnbild nach kommt es für die Führungskraft in einem Veränderungsprozess darauf an, in nachvollziehbaren Schritten neue Aspekte ins Gespräch zu bringen und neue Vorkehrungen zu treffen; so beginnt die Neigung der geraden Straße in die Kurve. Neues wird schrittweise plausibel, ohne dass die Revolution – „Eure Straße endet da vorne!“ – ausgerufen wird.

Zum passenden Zeitpunkt, den zu bestimmen allein am Urteilsvermögen der Führungskraft hängt, kann dann eine „Wendegeschichte“ erzählt werden: „Wir kommen aus dieser Auffassung und Praxis. Sie hatte ihre guten Gründe und hat viel geleistet. Wir folgen jetzt aus den gemeinsam entwickelten Gründen einem anderen Ansatz und gehen in eine andere Richtung.“

Diese Botschaft kann am Scheitelpunkt der Veränderungskurve gesandt und auch verstanden werden, wenn die Veränderungsimpulse vorher klug dosiert und gesetzt wurden. Kuhns Bild lehrt, dass eine bestehende Professionalität, der blinde Gehorsam einer „Institutionsbesatzung“, nur schrittweise neu ausgerichtet werden kann.

Der Weg zur Veränderung führt nicht über die intellektuelle Überzeugung aller von der Richtigkeit bestimmter Ansichten, sondern über das Handeln einiger, das eine wachsende Dynamik erzeugt, bis – mit Kuhn zu sprechen – der Scheitelpunkt der Kurve gemeinsam erreicht ist.

Die Anführerin eines Veränderungsprozesses kann diesen nicht immer und im vollständigen Detail als einen Veränderungsprozess erläutern und diskutieren. Dann würde sie die Mitarbeiter überfordern und verlieren; nicht, weil sie intellektuell nicht folgen könnten, sondern weil sie als Menschen mit natürlicher Abneigung gegen Unsicherheit dann praktisch nicht folgen könnten.

Die etablierte Professionalität hat immer Recht

Zusätzlich zu diesen psychologischen Faktoren würden auch die in der etablierten Struktur wirkenden Kräfte zur sofortigen Blockade der Veränderung führen. Denn die etablierte Professionalität hat definitionsgemäß immer Recht, und ihre Vertreter haben die Macht in der aktuellen Struktur.

Deshalb muss eine Führungskraft pragmatisch nach den Leitgedanken ihres Veränderungsprogramms handeln und andere dafür gewinnen, dies mit ihr zu tun. Der Weg zur Veränderung führt nicht über die intellektuelle Überzeugung aller von der Richtigkeit bestimmter Ansichten, sondern über das Handeln einiger, das eine wachsende Dynamik erzeugt, bis – mit Kuhn zu sprechen – der Scheitelpunkt der Kurve gemeinsam erreicht ist.