Selbstorganisation Change Management

„Nur im Tun entwickeln wir Kompetenz“

Interview Neues Lernen umfasst viel mehr als neue Formate einzuführen. Es geht um Lernen durch Zusammenarbeit und eine neue Lernkultur in den Organisationen. Das stellt die Personalentwicklung vor neue Aufgaben, für die sie nur zum Teil gerüstet ist, meint Christian Friedrich, Manager Digital Learning Solutions bei der Haufe Akademie.

Die Lernreise besteht aus vielen unterschiedlichen Elementen.
Die Lernreise besteht aus vielen unterschiedlichen Elementen.

Formelles und informelles Lernen

Herr Friedrich, wenn von Neuem Lernen die Rede ist, fällt oft der Begriff 70-20-10. Gemeint ist ja, dass das meiste Lernen entweder fast unbewusst beim Arbeiten geschieht oder halb formell mit Mentoren oder Coaches. Liegt das Problem darin, dass Learning on the Job und Mentoring schwer zu steuern beziehungsweise zu managen sind?

Managen kann man das in der Gesamtheit nicht, steuern auch nur in Grenzen. Aber Unternehmen können es fördern. Die Diskussionen um 70-20-10 drehen sich fast immer mehrheitlich um Kulturfragen. Es geht beispielsweise um die Frage, ob Unternehmen eine Lernkultur haben, in der das Lernen durch Zusammenarbeit erwünscht ist und gefördert wird. Denn darum geht es bei den berühmten 20 und 70 Prozent. Es geht um Austausch, um Interaktion und um Kooperation – auf derselben Hierarchieebene und hierarchieübergreifend. Und dann geht es ganz schnell um Machtfragen. Wer bereit ist, von anderen zu lernen, muss Schwächen zugeben und ein wenig vom Status Quo abrücken. Dieser Status Quo steht oft einem wirklich offenen Austausch im Weg. Die andere Seite der Medaille ist beispielsweise die Frage, ob ich selbst dazu bereit bin, dass andere von mir lernen um nicht nur individuelle Weiterentwicklung sondern organisationales Lernen zu ermöglichen. Das zu fördern klappt nur dann, wenn Wissen und Kompetenz in der gegebenen Kultur nicht an Macht-, Einfluss- und Hierarchiegedanken gebunden sind. Ein (selbst-)kritischer Blick auf das eigene Handeln, oder die reale Interaktion zwischen Bereichen innerhalb der Organisation, kann an diesem Punkt Potentiale deutlich machen. Wäre es nicht wesentlich förderlicher für die Zukunftsfähigkeit einer Organisation, Business-relevantes Wissen und Kompetenzen in der Breite zu entwickeln und verfügbar zu haben, statt abgeschottet von dem Rest der Organisation in voneinander entkoppelten Silos? Deshalb spreche ich lieber von formellem und informellem Lernen.

Wer bereit ist, von anderen zu lernen, muss Schwächen zugeben und ein wenig vom Status Quo abrücken.
Christian Friedrich, Haufe Akademie

Organisationen müssen sich fragen, wie viel informelles Lernen sie ermöglichen. Und dann überlegen, wie sie die Brücke zwischen dem informellen und dem formellen Lernen schlagen. Wie können die beiden Spielarten des Lernens sinnvoll und erfolgreich verbunden werden? Existiert diese Brücke überhaupt, wollen wir das Informelle bewusst unterstützen? Das sind die entscheidenden Fragen. 70-20-10 ist nur ein etwas plakatives, leicht eingängiges Modell, das aber nicht wissenschaftlich fundiert ist. Die Zahlen sollten wir nicht absolut setzen.

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"Wir brauchen die Motivation bei den Menschen, sich den Veränderungen aktiv zu stellen und lernen zu wollen. Und zwar permanent." Christian Friedrich, Manager Digital Learning Solutions, Haufe Akademie

Ist das Modell dann überhaupt hilfreich?

Es sagt im Wesentlichen drei Dinge. Erstens, dass es unterschiedliche Arten gibt, wie wir lernen und dass das formelle Lernen nicht die einzige Möglichkeit ist. Zweitens: Lernen braucht Austausch und Vernetzung, und das benötigt die entsprechende Unternehmenskultur. Unternehmen müssen die Frage beantworten, ob sie die ganzen 100 Prozent wollen und nicht nur 10, 20 oder 70 Prozent. Und das Dritte ist: Erfolgsentscheidend ist, dass alle ins Tun kommen. Egal, ob man ein Seminar besucht hat, sich regelmäßig mit einem Mentor bespricht oder ein Buch beziehungsweise ein How-to-Video durcharbeitet: Es kommt darauf an, das, was man erfahren hat, anzuwenden. Nur im Tun entwickeln wir Kompetenz. Einen Aspekt des Neuen Lernens finde ich besonders spannend: Lernen durch Zuschauen und Nachahmen, Stichwort Spiegelneuronen. Das ist kein formeller oder bewusster Prozess. Aber wir beobachten tatsächlich die ganze Zeit, wie andere Menschen etwas erledigen, ein Problem lösen. Wir haben uns über diese Art von Lernen unglaublich viel an Fähigkeiten in unserem bisherigen Leben angeeignet. Zuschauen, abschauen, ausprobieren, hinterfragen und auf Basis der gemachten Erfahrung immer wieder nachjustieren. Insbesondere bei Kindern kann man die Effekte dieser Arten von Lernen sehr gut beobachten. Job Rotation, Hospitationen oder auch Ansätze wie Working out Loud greifen die darin enthaltenen Prinzipien auf und bringen sie in die, dann meist berufliche, ‚Erwachsenenwelt‘. Wir wissen das, aber wir nutzen es sehr selten im beruflichen Umfeld. Das liegt daran, dass wir meist in Silos stecken und uns diese Lernräume nicht zugänglich sind, weil sie in einem anderen Silo feststecken. Dabei steckt in dem Thema so viel Substanz.

Das alles klingt logisch. Da frage ich mich, warum wir im Jahr 2018 immer noch so ausführlich darüber sprechen müssen. Mein Sohn hat vor 18 Monaten gesagt, er will Mountainbike fahren, hat sich aufs Rad gesetzt und ist mit einem Kumpel, der das schon mal gemacht hatte, einfach den Berg rauf und runter gefahren. Und seit dem Tag macht er fast nichts anderes, ohne, dass ihn irgendjemand dazu auffordert. Dann geht er in die Schule oder wir ins Unternehmen und es ist alles ganz anders.

Das ist eben der Unterschied, ob uns etwas interessiert, ja begeistert, oder ob es unseren Chef interessiert. Wir sprechen ja immer von intrinsischer und extrinsischer Motivation. Nur: Aller Anfang ist schwer. Ein neues Thema geht uns nicht so locker von der Hand, dafür brauchen wir Energie. Am förderlichsten für den eigenen Lernprozess ist es, wenn die Energie dazu aus uns selbst kommt. Und wenn es ein schwieriges Thema ist, hilft es dem Lernprozess enorm, wenn uns jemand an die Hand nimmt. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem es leichter wird. Und dann muss der andere die Hand auch wieder loslassen. Denn wir müssen unsere eigenen Erfahrungen machen. Kompetenzen entwickeln wir nur mit und dank den positiven und negativen Erfahrungen, die wir machen. Aber wenn ein zweitägiges Seminar nur aus Frontalbeschallung seitens des Referenten besteht: Wie sollen wir da zum Tun kommen und Erfahrungen sammeln? Die Teilnehmer langweilen sich im besten Fall, im schlechtesten sind sie am zweiten Tag krank. Unternehmen müssen es schaffen, den Menschen deutlich zu machen, dass Lernen spannend ist, dass das Thema spannend ist. Wenn der Sinnbezug fehlt, wird es sehr schwer Entwicklungsprozesse oder Weiterbildung nachhaltig und Mehrwert stiftend zu gestalten. Jetzt geht es darum zu schauen, wie jede ihre Aufgabe bewältigt mit den Stärken und den Interessen, die sie hat. Unternehmen machen das viel zu selten, leider. Sie qualifizieren für Rollen. Das hilft aber nicht, denn die Aufgaben können völlig unterschiedlich sein, auch wenn die Rolle Führungskraft immer gleich zu sein scheint. Es dreht sich um den Menschen, der die Rolle hat.

Unternehmen qualifizieren für Rollen. Es geht aber um den Menschen, der die Rolle inne hat.

Was meinen Sie genau?

Wenn 20 Menschen an einem Seminar teilnehmen, werden die danach die nächsten Jahre ja nicht alle jeden Tag immer das Gleiche tun. Vor allem werden nicht alle 20 gleichzeitig das Gleiche tun. Die Personalentwicklung schaut aber klassischer Weise nur danach, wer hat welche Maßnahme absolviert. Nicht alle, klar, aber es ist doch die Regel. Dabei wissen alle, dass zwei Tage Schulung niemanden allein auf ein neues Niveau heben oder eine radikale Verhaltensänderung bewirken. Also lasst uns doch bitte auch nicht so tun, als wäre es so! Die entscheidende Frage lautet: Was macht die Digitalisierung, die Transformation mit den Menschen in den Unternehmen? Und was heißt das für die Personalentwicklung?

Digitalisierung bringt nicht nur die Anforderung an neue fachliche Kompetenzen mit sich, sondern sie stellt Anforderungen an überfachliche Kompetenzen, die sich zum Beispiel aus neuen Arbeitsformen ergeben welche die Digitalisierung mit sich bringt. Um nur ein Beispiel zu nennen, werden zukünftig weit mehr Menschen in Organisationen die Kompetenz zur Kooperation in agilen Arbeitsumfeldern benötigen. Das ausschließlich über formelle Lernprozesse oder, noch aussichtsloser, per Verordnung bewirken zu wollen, wird scheitern. Wenn dem so ist, was tun wir dann? Darauf gibt es nicht die eine statische Antwort, da jede Organisation in ihren Normen, Regeln und Werten die das Handeln bestimmen individuell ist. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, brauchen wir neue Lernkulturen. Wir brauchen die Motivation bei den Menschen, sich den Veränderungen aktiv zu stellen und lernen zu wollen. Und zwar permanent. Das gilt es zu fördern und zu entwickeln.

Weiterentwicklung par ordre funktioniert nicht

Personalentwicklung heißt also: Jeder und jede sollte sich selbst befragen, was er oder sie kann und erreichen möchte? Und was sie benötigen, um das zu erreichen? Das Unternehmen muss dann den Rahmen schaffen, in dem sich die Menschen ihren Wünschen gemäß entwickeln können. Und gleichzeitig einen Zusammenhang sicherstellen zwischen individuellen Wünschen und strategischen Notwendigkeiten und Unternehmenszielen?

Lernen und Entwicklung müssen in Verbindung stehen mit der Zielsetzung und dem Sinn und dem Zweck und der Strategie des Unternehmens, sonst bringt das Ganze das Unternehmen nicht weiter. Deswegen ist ein neues Verständnis von Lernen jenseits formaler Unterrichtung so wichtig. Ein Unternehmen möchte alle Mitarbeiter oder einen bestimmten Teil von hier nach da bringen. Zum Beispiel in Richtung Selbstorganisation und agiler Arbeitsweise. Das geht nicht in drei oder fünf Tagen, das haben wir ja ausführlich besprochen. Wir wissen das, handeln aber selten entsprechend. Denn wenn wir es ernst meinen, kommen wir beim Neuen Lernen zu Themen wir Hospitationen, wie Job Rotation. Und mit solchen Fragestellungen kommen weitere Fragen: Reicht ein Jahresgespräch mit jedem Mitarbeiter oder sollte man Entwicklungsgespräche viel öfter führen, zum Beispiel alle drei Monate oder mindestens bei Bedarf? Helfen klassische individuelle Jahresziele oder ist es besser, mit OKRs (Objective & Key Results) und ähnlichen Instrumenten zu arbeiten? Deutlich wird hier, dass es bei dem Thema „Neues Lernen“ nicht einfach nur um Formate geht, nach dem Motto „Ihr lernt jetzt alle digital“ oder „Wir geben nur noch Performance Support“. Es geht darum, alle Themen des individuellen Entwicklungsprozesses in ein Zusammenspiel zu bringen. Und das bedeutet, dass die Personalentwicklung sich von dem Anspruch lösen muss, für alle vorauszudenken und die Lernbedarfe zu bestimmen. Das fällt dem einen oder der anderen vielleicht noch ein bisschen schwer.

Beim Thema Neues Lernen geht es nicht einfach nur um neue Formate. Sondern darum, alle Themen des individuellen Entwicklungsprozesses in ein Zusammenspiel zu bringen.

Sehen die Unternehmen, mit denen Sie sprechen, diese Herausforderungen, die wir hier diskutieren?

Viele, wenn nicht alle, haben erkannt, wo die Wirksamkeitsgrenzen vom „klassischem Lernen“ beziehungsweise rein formalen Lernverläufen liegen. Die Logik „Da gibt es ein Problem, machen wir mal ein Training“ ist an ihr Ende gekommen. Denn wenn meine Mitarbeiter beispielsweise ein Motivationsproblem haben, kann ein Training vielleicht der dritte Schritt sein, davor muss aber anderes kommen. Wenn Unternehmen ein Strukturproblem haben, werden sie das mit Trainings auch nicht lösen. Handelt es sich um ein allgemeines Kulturproblem, können Unternehmen das mit Trainings auch nicht beheben, egal, wie viele sie durchführen. Entwicklung und Veränderung insbesondere im Kontext von Digitalisierung und Transformation brauchen eben mehr, als „einfach“ Wissen oder ein neues Modell in die Köpfe der Mitarbeiter zu pumpen. So funktionieren Menschen nicht und so funktioniert Weiterentwicklung nicht. Heute haben Menschen nicht mehr wie früher 20 Jahre lang dieselbe Rolle und dieselben Aufgaben, wie es früher vielleicht der Fall gewesen ist. Vieles ist im Fluss, dennoch arbeitet die Personalentwicklung weiterhin mit Modellen, die teilweise zwanzig, dreißig, vierzig Jahre alt sind. Jetzt sehen wir immer deutlicher, dass das im Kontext der heutigen Anforderungen an die Zukunftsfähigkeit von Organisationen nicht mehr ausreicht.

Keine Trennung zwischen Lernen und Arbeiten

Das neue, permanente Lernen bedeutet aber, dass Organisationen den Menschen Zeit fürs Lernen einräumen müssen ...

Klar! Das formale Lernen trennt meist zwischen Lernen und Arbeiten. Hier Seminar, da Schreibtisch. Im Neuen Lernen bringen wir das jetzt zusammen. Wir integrieren Lernen in die Workflows, in die täglichen Arbeitsabläufe. Damit erhält es einerseits eine andere Relevanz als bisher. Und zum anderen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Lernen wirklich nachhaltig ist. So let’s start!