Business Strategie Agilität

Über die Kluft

Agile Konzepte bleiben in den meisten Organisationen im Pilotstadium stehen und lassen sich nicht auf ein gesamtes Unternehmen skalieren. Die Mehrheit hat damit oft kein Problem, weil Agilität mit Chaos, Unordnung oder einem Trend verwechselt wird. Die Überzeugungsarbeit der Minderheit bleibt erfolglos. FLEAT zeigt, wie skeptische Pragmatiker und begeisterte Visionäre zueinander finden können.

Eine agile Arbeitsmethode kann erst dann mehrheitsfähig werden, wenn die Kluft zwischen den frühen Anwendern und der frühen und späten Mehrheit überwunden wird.
Eine agile Arbeitsmethode kann erst dann mehrheitsfähig werden, wenn die Kluft zwischen den frühen Anwendern und der frühen und späten Mehrheit überwunden wird.

Manche sehen die Welle, lange bevor sie anrollt

Im Netz macht aktuell ein schönes Bild die Runde: Die Schwarzweiß-Aufnahme zeigt eine Frau, schwarzer Hut, schwarzer Mantel, schwarzer Rock – man erkennt auf den ersten Blick, dass das Bild in einer anderen Zeit aufgenommen wurde – auf einem kleinen Motorroller. Die Frau auf dem Bild ist die Britin Lady Florence Norman. Der Motorroller, den sie fährt, ist ein Autoped, ein Roller, den man stehend fuhr. Das Bild wurde im Jahr 1918 aufgenommen. Lange bevor sich das Erscheinungsbild unserer Straßen und Innenstädte allmählich durch Elektroroller zu verändern scheint und Diskussionen darüber geführt werden, ob dieses Gefährt nun Fluch oder Segen ist, gab es also bereits eine Frau, die scheinbar ganz selbstverständlich stehend auf einem Roller durch die Straßen Londons fuhr.

Von Innovatoren und frühen Anwendern

Florence Norman könnte man heute, angelehnt an den Lebenszyklus der Verbreitung disruptiver Innovationen von Geoffrey Moore, als Early Adopter, als eine frühe Anwenderin bezeichnen. Innovatoren und früher Anwender zeichnen sich dadurch aus, dass sie bereit sind, ein neues Produkt zu nutzen, selbst wenn diese Nutzung noch Schwierigkeiten und einen gewissen Aufwand mit sich bringen. Innovatoren und frühe Anwender lassen sich begeistern vom Reiz des Neuen, sie wollen zuerst dabei sein, dafür nehmen sie ein noch nicht ganz ausgereiftes Produkt in Kauf. Florence Norman und ihr Roller zeigen aber auch: Bis eine Neuheit die breite Masse erreicht, braucht es mehr als nur ein paar begeisterte Erstnutzer. Die Kluft vom frühen Markt zum Mehrheitsmarkt ist groß und muss überwunden werden.

Eine Florence Norman findet man heute auch in vielen Unternehmen. Menschen, die neue, agile Konzepte vorantreiben, die Dinge anders angehen – und das meist in einem sauber von der restlichen Organisation abgetrennten Bereich. Diese Innovatoren und frühen Anwenderinnen nehmen einen Mehraufwand in Kauf, weil sie die Vorteile agiler Methoden erkannt haben, aber auch, weil sie etwas Neues schaffen wollen. Sie sind organisatorische Visionäre.

Die Kluft zwischen Visionären und Pragmatikern muss überwunden werden

Den Visionären steht im Unternehmen allerdings eine weitaus größere Gruppe gegenüber: die Pragmatiker. Sie wollen keine Kompromisse und Anstrengungen eingehen und ein Produkt oder eine agile Methode erst dann anwenden, wenn diese Methode erfolgreich getestet wurde und sich im Alltag bewährt hat.

Geoffrey Moore spricht von der „chasm“, der Kluft, die zwischen den frühen Anwendern und der frühen Mehrheit liegt. Wie kann diese Kluft zwischen Visionären und Pragmatikern überwunden werden?

Fest steht: Man kann nicht aus jedem Pragmatiker einen Visionär zu machen. Es hilft nicht, sich über die Mehrheit zu beschweren oder mit positiven Beispielen mehr Engagement zu fordern. Schließlich ist die Haltung der Pragmatiker durchaus nachvollziehbar. Nein, die Kluft kann nur dann überwunden werden, wenn ein Produkt (in dem Fall heißt das Produkt „Agilität“) so zugänglich gemacht wird, dass es auch die Pragmatiker komfortabel nutzen können.

Wo wären die Visionäre eines Unternehmens besser aufgehoben als auf einem wendigen Floss?

Mit unserem Rahmenwerk FLEAT haben wir uns insbesondere auch der Frage genähert, wie wir es schaffen können, Organisationen beim Sprung über diese Kluft zu begleiten, einen Handlungsrahmen zu geben. Die Vorstellung vom „Unternehmen als agile Flotte“ hilft dabei, agile Konzepte mehrheitsfähig zu machen. Denn wo wären die Visionäre eines Unternehmens besser aufgehoben als auf einem wendigen Floss, einem internen Start-up? Und was könnten die Pragmatiker mehr schätzen als die Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff, dem etablierten Standardgeschäft? Zueinander finden diese beiden Gruppen während des fließenden Wandels vom Floß zum Kreuzfahrtschiff. Die Symptome, die in herkömmlichen Organisationen auftreten, wenn die Mehrheit nicht mitkommt in die Agilität, kann FLEAT überwinden:

FLEAT - Vom Unternehmen zur agilen Flotte
Einen Einblick in FLEAT bietet das Buch FLEAT, herausgegeben von Uwe Habicher und Thorsten Schaar.
Mehr zum Buch

Jedes Kreuzfahrtschiff hat idealerweise einmal als Floß begonnen. Auf den neuen Booten starten die Visionäre, startet die Minderheit mit einem ganz eigenen Betriebssystem, inklusive agiler Methoden. Dieses Betriebssystem kann während des Wachsens der Organisation verbessert werden, seinen Ursprung wird es aber immer in der Agilität haben. Mit der Zeit und dem zunehmend sichtbaren Erfolg werden auch Menschen auf dem Boot anheuern, die zur Gruppe der Pragmatiker zählen. Sie übernehmen ganz natürlich die neuen Methoden, weil die Mehrheit auf dem Boot diese lebt und damit erfolgreich ist. Die Mehrheit im Unternehmen wird zur Minderheit auf dem Boot. Schritt für Schritt gelingt es so, Agilität in den Unternehmenskörper zu skalieren.

Wichtiger Faktor: Zeit

Natürlich ist das kein Prozess, der in wenigen Monaten abgeschlossen ist. Wie soll es auch möglich sein, Methoden, Prozesse, Steuerungslogiken etc., die über Jahrzehnte kultiviert worden sind, in kürzester Zeit zu verändern? Dazu braucht es Zeit und ein Rahmenwerk, an dem sich alle Beteiligten orientieren können. Der Weg, ein neues Raft zu einem Kreuzfahrtschiff zu bringen, kann mitunter fünf, acht oder zehn Jahre dauern – wir sollten uns mit dem Gedanken anfreunden, dass dies die zeitlichen Horizonte sind, die es braucht bis auch die späte Mehrheit agiles Arbeiten als etwas ganz Natürliches empfindet.