Selbstorganisation Lotters New Management

Das Richtige tun. Harte Arbeit, die sich aber lohnt

Kommentar Was kann ich? Was will ich wirklich? Wir müssen uns diese Fragen stellen und ihnen auf den Grund gehen, damit wir selbstbestimmt entscheiden können. Sonst leben wir ein Leben, das andere für uns gestalten, meint Wolf Lotter.

Zeit für eine Inventur

Gute Kaufleute machen zu Jahresbeginn ihre Inventur. Heute macht man das elektronisch-digital, was aber vielleicht ein Nachteil ist. Denn noch vor einigen Jahren musste man mit Wischtuch und Staubsauger durch die Lagerregale und hatte, ausgestattet mit einer Bestandsliste und einem Kugelschreiber, die Objekte des Seins und Scheins direkt vor der Nase. Manche Regale waren leer, weil die Ware gut gelaufen war, manche schütter, auch nicht schlecht, und wieder andere voll, dort also standen die Ladenhüter. Inventur machen hatte etwas Wunderbares, Erhellendes, und immer auch Überraschendes. Zwar kannte man die Bestseller und die No-Gos meistens aus dem EffEff, aber das, was dazwischenlag, verschwand in der Betriebsamkeit des Alltags aus dem Gedächtnis.

Eine Inventur stellt Zusammenhänge her und macht die Dinge klar. Wir haben verlernt, uns Rechenschaft über uns abzulegen. 

Die Inventur machte klar, worauf man im nächsten Jahr stärker achten musste, damit es weniger schüttere Regale gab und mehr leere. Und, wenns geht, gar keine vollen. Dann konnte man Entscheidungen treffen. Wie ist das heute? Nebulöser, unklarer. Auch, weil wir vergessen haben, wie man das macht, Inventur, wie Zusammenhänge deutlich werden, die wir im Alltag übersehen.

Wir haben verlernt, uns zu entscheiden

Es ist auch kein Wunder: Wir leben in einer Gesellschaft, die sich so an ihre Routinen gewöhnt hat, dass sie ihr als ihre zweite Natur erscheinen, als Normalität. Viele können sich gar nichts mehr anderes vorstellen, als dass ein System – ob Staat oder Firma, Familie oder Maschine – für sie denkt und lenkt. Und auch die sogenannte Digitalisierung trägt ihren Teil dazu bei: Die Automaten und Algorithmen nehmen uns Entscheidungen scheinbar ab.

Wir haben uns verirrt. Nicht das erste Mal. Wir haben den roten Faden zu uns selbst verloren. In einer Zeit, in der so viel geht, wenn nicht alles, können wir uns nicht mehr entscheiden.

In einer Welt, in der alles geht oder, genauer, in der Netzwerke und die Kommunikation so tun, als ob das ginge, geht es darum, den Dingen auf den Grund gehen zu können und zu wollen. Also Inventurmachen im eigentlichen Sinn. Der 2021 verstorbene Vater der New Work-Bewegung, Frithjof Bergmann, verlangte von den Menschen, die sich beruflich neu orientieren wollten oder sollten, etwas scheinbar ganz Einfaches. Sie müssten sich nur überlegen, was sie „wirklich, wirklich wollen“, und der Rest ergebe sich wie von selbst.

Eine schlampige Inventur unserer Möglichkeiten führt dazu, dass wir ein Leben leben, das andere für uns entscheiden.

Bergmann hatte stets einen Hang zur Ironie und zum klugen Witz. Natürlich wusste er, dass diese scheinbar so leichte Anforderung zugleich die schwerste war, die man Menschen abverlangen kann. Festzustellen, wer man ist und wohin es geht mit einem, ist eine Arbeit, die an Schwere und nötiger Gründlichkeit kaum zu überbieten ist. Notwendig ist sie trotzdem. Denn die Alternative ist eine schlampige Inventur der eigenen Möglichkeiten und Potenziale. Dann aber lebt man ein Leben, das andere für einen entscheiden.

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