Selbstorganisation Organisationsentwicklung

Eine Frage der Solidarität

Kommentar Entlassungen dürften in der Krise nur Ultima Ratio sein. Besser für alle sei es, Unternehmen beziehen ihre MitarbeiterInnen in die Lösungsfindung ein, meint Tom von der Lubbe. "Habt Mut, auf die kollektive Intelligenz Eurer Leute zu vertrauen!", lautet sein Appell.

In der Krise sollten alle im Unternehmen gemeinsam nach Lösungen suchen, nicht die Unternehmensspitze allein. Foto: Markus Spiske von Pexels
In der Krise sollten alle im Unternehmen gemeinsam nach Lösungen suchen, nicht die Unternehmensspitze allein. Foto: Markus Spiske von Pexels

MitarbeiterInnen im Zentrum

Es dreht sich alles um Ihre MitarbeiterInnen, jetzt mehr denn je. Aber in einer reflexartigen Reaktion auf die Coronavirus-Krise entlassen viele Unternehmen, insbesondere in den USA, eine beträchtliche Anzahl ihrer Mitarbeiter. Ich möchte den Shareholder-Value-orientierten Managern, die vor ihren Excel-Tabellen sitzen, lauthals zurufen: "Das ist nicht nur unmenschlich, sondern auch schlecht für Ihr Unternehmen!" Warum? Weil es Ihrem Unternehmen schaden wird. Und mehr noch: Die Geschichte zeigt, dass die Unternehmen, die ihre Mitarbeiter in schwierigen Zeiten am besten behandelt haben, immer als Gewinner aus vergangenen Krisen hervorgegangen sind.

Menschlich sein in einer Krise zahlt sich wirklich aus.

Entlassungen immer Ultima Ratio

Wir erleben derzeit, vor allem in den USA, unzählige Beispiele von Großunternehmen - darunter auch globale Topmarken -, die eine große Zahl ihrer Mitarbeiter entlassen. Was wir in Krisenzeiten nur allzu oft erleben, ist, dass große, vor allem börsennotierte, von Aktionären geführte Unternehmen instinktiv reagieren, indem sie einfach nur nachrechnen und X namenlose Arbeitnehmer entlassen. Das ist die etablierte Art, den Aktionären zu zeigen, dass ein Unternehmen schnell und entschlossen handelt. Eine starke Führung zeigt keine Solidarität, aber sie überspringt Namen aus einer Excel-Tabelle und kündigt die Entlassungen in einem kurzen Memo oder seit kurzem in einem kollektiven Zoom-Aufruf an. Ich möchte argumentieren, dass eine starke Führung das Gegenteil ist, es geht darum, Entlassungen zu vermeiden.

Frühere Krisen als Beispiel

Wie die Geschichte zeigt – und es gibt viele Untersuchungen zu diesem Thema, z.B. von Arie de Geus, Chefplaner bei Shell und bekannt geworden mit seinen Planungsszenarien bei Shell, der Ende der 1990er Jahre "Das lebendige Unternehmen" schrieb – waren in Krisen interessanterweise diejenigen Unternehmen, die ihre MitarbeiterInnen an die erste Stelle setzten, langfristig immer die Gewinner, während die von Aktionären geführten Unternehmen nie die Nase vorn hatten. 

Die Geschichte zeigt, dass die Unternehmen, die ihre Mitarbeiter in schwierigen Zeiten am besten behandelt haben, immer als Gewinner aus vergangenen Krisen hervorgegangen sind.

Die gute Nachricht ist also: Menschlich sein in einer Krise zahlt sich wirklich aus. Obwohl ich persönlich der Meinung bin, dass dies nicht der Hauptgrund für dieses Verhalten sein sollte, gibt es zumindest keinen Interessenkonflikt. Das könnte also für Ihre nächste Diskussionsrunde mit Ihren Aktionären hilfreich sein. Man kann aus wirtschaftlicher Sicht argumentieren, dass es gerade in Krisenzeiten die bessere Strategie ist, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und Entlassungen zu vermeiden.

Solidarität zahlt sich aus

Wenn Unternehmen in einer Krise Menschen entlassen, ernten sie in der Regel öffentliche Kritik. Diese Kritik ist wohlverdient, denn ihre Strategie ist nach Jahren erheblicher Gewinne nur schwer zu verteidigen. Sie lässt sie prinzipienlos und unmenschlich erscheinen. Was die Menschen in Krisenzeiten gerne sehen, ist Solidarität - viel mehr als in normalen Zeiten.

Man könnte meinen, dass die Vermeidung von Entlassungen eine typische "weiche" europäische Lösung ist und leichter gesagt als getan. Das Gegenteil ist der Fall. Also vergessen Sie weiche Lösungen oder eine schwache Führung.

Warum ist das so? Warum sind die Reaktionen der Öffentlichkeit so heftig? Weil die Öffentlichkeit von soliden Unternehmen erwartet, dass sie sich um ihre MitarbeiterInnen kümmern. Und ja, wir wissen, dass einige dieser Unternehmen riesig sind, und natürlich können wir nicht erwarten, dass ihre oberen Ränge einzelne Mitarbeiter namentlich kennen. Aber trotz der Entfernung zwischen dem Sitzungssaal und dem Arbeitsbereich sollten Menschen nie wie Zahlen behandelt werden, sondern mit Respekt und Würde.

teams können netscheiden, wer für eine bestimmte Zeit auf Gehaltskürzungen hinnehmen kann – und wer das volle Gehalt braucht. Foto: fauxels von Pexels
Teams können entscheiden, wer für eine bestimmte Zeit auf Gehaltskürzungen hinnehmen kann – und wer das volle Gehalt braucht. Foto: fauxels von Pexels

Kollektive Intelligenz der MitarbeiterInnen nutzen

Man könnte meinen, dass die Vermeidung von Entlassungen eine typische "weiche" europäische Lösung ist und leichter gesagt als getan. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist schwieriger, als Namen in einer Excel-Tabelle rauszulassen. Also vergessen Sie weiche Lösungen oder eine schwache Führung. Es ist an der Zeit, neu zu definieren, was weich und was hart ist. Lassen Sie uns also nicht europäische Beispiele nehmen, sondern eines der leuchtenden Beispiele in den USA, um zu zeigen, dass es möglich ist, anders zu handeln.

 

Bei Gravity Payments stand CEO Dan Price vor der Entscheidung, 20 Prozent seiner Mitarbeiter zu entlassen oder in Konkurs zu gehen. Er weigerte sich, beide Optionen zu akzeptieren, trotz eines Umsatzrückgangs von 55 Prozent. Stattdessen hat er seinen MitarbeiterInnen ganz offen die finanzielle Situation des Unternehmens dargestellt. Und sie um Ideen gebeten, wie sie dieser Situation begegnen sollten. Gemeinsam beschlossen sie, dass jede Person offenlegen würde, wie viel sie finanziell im Sinne einer Lohnkürzung opfern könnte. Da Price offen über die Situation gesprochen hatte, waren seine KollegInnen bereit, Verzicht zu üben, um das Geschäft zu retten, wie die Zeitschrift Inc. berichtet. Gravity ist ein gutes Beispiel für Unternehmen, die offen kommunizieren, ihre MitarbeiterInnen an die erste Stelle setzen und versuchen, die Krise zu überleben, indem sie die kollektive Intelligenz des gesamten Unternehmens aktivieren.

Unser Unternehmen, Viisi, ist eine Hypothekenberatungsfirma, und wir haben bislang noch keinen schweren Rückschlag erlebt, weil der Hypothekenmarkt im Allgemeinen noch nicht gelitten hat. Die Angst vor steigenden Zinsen hat das Geschäft sogar angekurbelt. Aber obwohl wir noch nicht betroffen sind, erwarten wir dennoch, dass auch wir die Folgen einer allgemeinen Rezession spüren werden.

Anstatt wie ein Kaninchen vor der Schlange erstarrt darauf zu warten, was passiert, sollten wir uns klarmachen, dass Denken und Handeln nicht nur in der Verantwortung der Unternehmensführung liegen.

Aber unabhängig von der Coronakrise waren wir auf Veränderungen vorbereitet, schlicht und einfach deswegen, weil wir nach einer langen Periode kontinuierlichen Wirtschaftswachstums eine allgemeine Rezession erwarteten. Wir haben in den vergangenen Jahren intensiv über unsere Strategie in Krisenzeiten nachgedacht, und als Corona plötzlich da war, konnten wir eine gut definierte Strategie verfolgen.

Es ist wichtig – für ManagerInnen, die auf Excel- und Cashflow-Tabellen blicken genauso wie für die Menschen im Unternehmen, die um ihren Job und die Zukunft bangen – über unterschiedliche Lösungswege nachzudenken, die das Ergebnis, den Outcome, von Entscheidungen beeinflussen. Anstatt wie ein Kaninchen vor der Schlange erstarrt darauf zu warten, was passiert, sollten wir uns klarmachen, dass Denken und Handeln nicht nur in der Verantwortung der Unternehmensführung liegen. Sondern dass alle an diesen Entscheidungen mitwirken können.   

Die schweigende Mehrheit

Die öffentliche Debatte über Management und auch über Entlassungen wird dominiert von Geschichten über ein paar große Konzerne, ein paar extravagante – vor allem männliche – Unternehmer, die wie in der Politik vor allem die eigene Persönlichkeit in den Vordergrund stellen. Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die Familienunternehmen usw., stehen nicht im Rampenlicht. Sie schreiben keine Artikel für die Harvard Business Review. Und wenn doch, werden sie eher selten veröffentlicht. Dabei hätten sie so viel zu erzählen, denn gerade diese Unternehmen verwalten Gegenwart und Besitzstände nicht nur, sondern gestalten aktiv ihre Zukunft. Und das meistens auf eine sehr humane Art und Weise. Wir haben bei Viisi also nicht die Strategie, wie man Entlassungen vermeidet, erfunden. Wir sagen nur, was die meisten von uns tun.

Und was machen diese Unternehmen? Hier die wichtigsten Punkte:

  1. Eine klare Aussage: Der Mensch steht im Mittelpunkt

Die MitarbeiterInnen erwarten, dass sie in Krisenzeiten noch mehr wie Menschen und nicht wie Humanressourcen behandelt werden. Die Menschen erwarten Solidarität. In Krisenzeiten versteht plötzlich jeder, dass die menschliche Natur altruistisch und nicht egoistisch ist. Menschen helfen einander, wenn sie am meisten gebraucht werden.

Der Ausgangspunkt ist also eine klare Aussage: „Wir stecken da gemeinsam drin. Wir wollen keine Entlassungen“. Punkt. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, die Menschen an die erste Stelle zu setzen, so dass es in Krisenzeiten klar ist, dass wir uns als Unternehmen zu dieser Aussage verpflichten.

Und ja, auch wir werden oft gefragt: Wie kann man eine solche Haltung einnehmen, wenn ein Unternehmen einen riesigen Teil seiner Einnahmen verliert? Die Antwort ist einfach: Es geht um die Denkweise. Es dreht sich alles um das Wir. Wir stecken hier als Team zusammen drin. Bedeutet das, dass Unternehmen keine Leute entlassen können? Nein, das bedeutet es nicht, aber es sollte alles getan werden, um dies zu vermeiden. Die Lage und mögliche Maßnahmen sollten gemeinsam diskutiert werden – und Entlassungen sollten immer der allerletzte Ausweg sein.

  1. Worst Case Scenario: Null Einnahmen

Cash is king und in Krisenzeiten sogar noch mehr. Wie gehen Sie also mit diesem Thema um? Wir waren immer vollkommen transparent über unsere finanzielle Situation, jeder innerhalb der Organisation kann den Status unserer Bankkonten einsehen. So weiß auch in Krisenzeiten jedeR MitarbeiterIn genau, wie viel Geld vorhanden ist und wie viel wir brauchen, um die aktuelle Situation zu überleben.

Plan for the worst, aim for the best

Als Unternehmen hatten wir den Vorteil, dass wir beim Start der Pandemie-Bekämpfung bereits eine Kultur der sogenannten radikalen Transparenz hatten. Wir mussten unsere Strategie nicht ändern und diskutieren, ob wir unsere finanzielle Situation intern teilen können.

Obwohl niemand weiß, wie lange die aktuelle Situation andauern wird, können wir davon ausgehen, dass diese Krise nur vorübergehend ist. Die Erholung hängt wahrscheinlich von der Wirtschaft als Ganzes ab, aber wir sehen diese Krise nicht als eine permanente Krise, so wie bestimmte Sektoren durch das Internet usw. gestört wurden. Es ist also möglich, ein Worst-Case-Szenario zu skizzieren und sich und das Team zu fragen: Wie viele Monate könnten wir ohne jeden Außenumsatz sein? Wie hoch sind unsere derzeitigen Mittel, und worin besteht der Fehlbetrag? Das sollte Ihr Ausgangspunkt sein.

Wir bei Viisi haben genau das getan und haben zu Beginn des Lockdown mit einem geschätzten Umsatz von Null für die nächsten drei Monate gerechnet. Nimmt man dieses erste Worst-Case-Szenario als Ausgangspunkt, kann sich die Lage nur verbessern. In unserem Fall hatten wir am Ende der ersten Krisenwoche mehr als null Einnahmen. Unsere KollegInnen stellten fest, dass die Geschäfte eigentlich viel besser liefen, als wir uns das vorgestellt hatten. So erzeugt also eine Worst-Case-Strategie eine selbst erfundene positive Dynamik.

  1. Cash: Liquidität aufbauen

Sobald Sie Ihre Finanzprognose erstellt haben, können Sie damit beginnen, noch mehr Liquidität aufzubauen, indem Sie mit Ihrem Team Lösungen finden. Als Kollektiv. Aber der Ausgangspunkt ist – und wir glauben, dass dies in Krisenzeiten noch wichtiger ist –, mit gutem Beispiel voranzugehen. „Aktionäre kommen zuletzt“ bedeutet, dass wir AnteilseignerInnen in Krisenzeiten Geld in das Unternehmen investieren, um seine Cash-Position zu stärken. Oder dass wir geschäftsführenden GesellschafterInnen unsere Gehälter senken. Mit gutem Beispiel voranzugehen ist das "Walk the talk" des Krisenmanagements. Es kommt halt besser, wenn man mit sich selbst als Aktionär, CEO oder Vorstand anfängt Bevor Sie also weitermachen und die MitarbeiterInnen fragen, welchen Verzicht diese sie sich finanziell leisten können.

Haben Sie also den Mut, als Unternehmen Solidarität zu zeigen. Und vertrauen Sie Ihren MitarbeiterInnen. Lassen Sie sie die intelligentesten und menschlichsten Lösungen finden.

Dann können Sie sich an Ihre Leute wenden und fragen, wer von ihnen eine vorübergehende Gehaltskürzung akzeptieren kann, die ihm und ihr später wieder ausgezahlt werden kann. Weniger Stunden zu arbeiten ist eine gängige und häufig angewandte Strategie, aber die intelligentere Option besteht darin, die volle Produktivität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Kosten zu senken und/oder die Liquiditätslücke weiter zu schließen. Die volle Produktivität gibt Ihnen auch die Möglichkeit, über zusätzliche Maßnahmen zur Stabilisierung Ihrer Einnahmen nachzudenken. Letztlich ist es der offene und ehrliche Weg, gemeinsam, als Team, nach Lösungen zu suchen. Die kollektive Intelligenz wird Sie zu den interessantesten Lösungen führen. Die am Ende sogar der entscheidende Faktor sein können, der Ihr Unternehmen durch schwierige Zeiten bringt.

  1. Die Solidarität: Peer-to-Peer

Die menschliche Grundhaltung ist, sich gegenseitig zu helfen. Deshalb sehen wir derzeit so viel altruistisches Verhalten. Nachbarn, die sich gegenseitig anbieten, ihre Einkäufe zu erledigen, die ältere Dame aus dem oberen Stockwerk, die Hilfe braucht, usw. Eine ähnliche Solidarität entwickelt sich aus einem Team von Kollegen, die täglich zusammenarbeiten. Es ist einfacher, Solidarität mit Menschen zu zeigen, die man kennt. Wenn Sie also in einem Team arbeiten und Sie wissen, dass Ihr Kollege allein Kinder aufziehen muss und sich eine Gehaltskürzung nicht leisten kann, werden Sie eher bereit sein, über seine Situation nachzudenken als über jemanden, den Sie nicht kennen. Und wenn Sie keine Kinder haben, dafür aber ein doppeltes Einkommen, sind Sie vielleicht bereit, eine vorübergehende Lohnkürzung in Betracht zu ziehen, um diesem Kollegen zu helfen. Vor allem, wenn Sie einander seit Jahren kennen und immer zusammengearbeitet haben.

Haben Sie also den Mut, als Unternehmen Solidarität zu zeigen. Behandeln Sie andere so, wie Sie selbst behandelt werden möchten. Behandeln Sie sie als menschliche Wesen und nicht als menschliche Ressourcen. Und vertrauen Sie Ihren MitarbeiterInnen. Lassen Sie sie die intelligentesten und menschlichsten Lösungen finden.

 

Dieser Artikel ist erstmals auf englisch auf dem Blog der Corporate Rebels erschienen.