Business Transformation Digitalisierung

„Performance und Denken gehören zusammen“

Interview Das lineare Zeitalter der Industrialisierung ist zu Ende, sagt der Philosoph und Unternehmensberater Manuel Scheidegger. Das sei der Grund für die zunehmende Komplexität. Die Trennung zwischen Theorie und Praxis – eine denkt, andere machen – funktioniere nicht mehr. Heute komme es vor allem auf eines an: auf die Urteilskraft der Menschen.

„Denken ist immer Teamarbeit, ein Miteinander“, sagt Manuel Scheidegger. Foto: Dietrich Kühne
„Denken ist immer Teamarbeit, ein Miteinander“, sagt Manuel Scheidegger. Foto: Dietrich Kühne

Transformation ist menschlich

Manuel, wir reden seit Jahren von und über Transformation, doch wovon sprechen wir da eigentlich?

Aus philosophischer Perspektive würde ich sagen, dass die menschliche Kultur von Anbeginn Transformation ist. Die Fähigkeit zur Transformation ist sogar eine unserer größten Fähigkeiten. Insofern ist die Frage berechtigt, warum wir erst jetzt, oder gerade jetzt, so intensiv darüber sprechen. Der Grund dafür liegt meines Erachtens darin, dass die Wirtschaft, dass die Unternehmen seit Beginn der Industrialisierung in einer Blase gelebt haben, die im Moment zerplatzt. Man hat 200 Jahre lang gedacht, dass es eine Trennung zwischen Denken und Handeln gibt, zwischen Theorie und Praxis. Verständlicherweise, denn es hat ja funktioniert.

Die Fähigkeit zur Transformation ist sogar eine der größten menschlichen Fähigkeiten.

Was meinst Du damit?

Die sogenannte Taylorwanne erklärt das ganz gut. Stell dir zwei Achsen vor, die eine vertikal, die andere horizontal. Auf der Achse nach oben verläuft die Kompetenz. Je weiter oben du dich auf der Achse bewegst, desto mehr geht es um die wichtigste menschliche Kompetenz, das Denken. Am Nullpunkt können auch Maschinen agieren. Auf der horizontalen Achse liegt die historische Zeit. Anfangspunkt ist das Mittelalter. Damals lebten wir in lokalen Gemeinschaften, und Individuen mit Spezialfähigkeiten waren gefragt: der Schmied, die Heilerin und so weiter. Noch gab es keine Maschinen. Jetzt kommt die Industrialisierung, und die Vorstellung setzt sich durch, dass ein Mensch nur etwas erkennen, eine Idee haben muss – sagen wir, dass es toll wäre, wenn die Menschen staubsaugen könnten, statt fegen zu müssen – und dass diese Idee nur noch praktisch umgesetzt werden muss, so dass man das neue Produkt massenhaft ausrollen kann.

Das lineare Zeitalter der Industrialisierung ist am Ende

Das ist eine brutale Verkürzung, aber sie zeigt das Mindset der Industrialisierung: Ich habe eine Idee, mache sie zum Ding und dann beginnt die Stunde der Maschine. Je massenhafter, automatisierter, routinierter ich das Ding ausrollen kann, desto einfacher wird es, Geld zu verdienen. Man könnte sagen: Diese Zeit war die Wohlfühlwanne des Unternehemertums, das lineare Zeitalter ungebremster Produktion. Von der guten Idee zum funktionierenden Produkt zum Massenmarkt. Man brauchte nur das nötige Kapital um loszulegen, was natürlich eine entscheidende Einschränkung ist, denn sie bedeutete, dass nur wenige überhaupt in die Lage kamen, Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Auf jeden Fall geht dieses lineare Zeitalter seit mindestens 40 Jahren zu Ende.

Zur Person
Manuel Scheidegger studierte Philosophie und Szenische Künste. Er arbeitete in der Werbung und am Theater, außerdem war er Co-Gründer eines Startups für Digital Storytelling. Mit seinem Unternehmen Argumented Reality inszeniert und moderiert er Events und Workshops zu aktuellen Themen wie Künstliche Intelligenz, Neue Arbeit, Nachhaltigkeit oder Diversität – für andere Unternehmen, Organisationen und die Öffentlichkeit.

Warum gerade da? Woran machst du das fest?

In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts spitzen sich Krisen zu: der Golfkrieg, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Klima- und Umweltkrise verschärfen sich. Diese Entwicklungen haben in den vergangenen Jahren an Tempo gewonnen, auf einmal erodiert das marktwirtschaftlich-demokratische System an vielen Orten. Gleichzeitig verschärft sich dank Digitalisierung und Globalisierung der Wettbewerb in nahezu allen Märkten. Unternehmen wird vor Augen geführt, dass es im operativen Alltag unendlich viele Prozesse gibt, bei denen es darauf ankäme, dass möglichst viele Menschen mitdenken und mitentscheiden. Weil die Situation so komplex ist, weil so viele Faktoren eine Rolle spielen, dass ein Mensch allein oder wenige Menschen das nicht mehr überblicken können. Plötzlich schlägt die Stunde der Urteilskraft.

In den vergangenen Jahren ist der Mehrheit der Unternehmen klar geworden, dass ihr Handeln und ihr bisheriger Erfolg im Kern auf der Urteilskraft beruhen, auf denkenden Mitarbeiter:innen.

Diesen Begriff hört man in den aktuellen Diskussionen selten.

Eine komplexe Situation erfassen und beurteilen, was zu tun sei – das kann keine Maschine leisten. Kritisch urteilen können nur Menschen. Maschinen können sie bei der Urteilsfindung unterstützen, aber sie können das nicht übernehmen. Entscheidungen können wir nicht automatisieren. In den vergangenen Jahren ist der Mehrheit der Unternehmen klar geworden, dass ihr Handeln und ihr bisheriger Erfolg im Kern auf der Urteilskraft beruhen, auf denkenden Mitarbeiter:innen. Die skizzierte Anfangsphase der Industrialisierung ist vorbei.

Parallel zu dieser Entwicklung entdecken Verbraucher:innen zunehmend ihre eigene Urteilskraft. Wir sind weniger bereit, diese lineare Marktwirtschaftsdenken zu akzeptieren. Weder als Kund:innen noch als Bürger:innen. Wir wollen mit-entscheiden, mit-reden, mit-bestimmen. Unsere Verantwortung wahrnehmen, Fragen stellen. Die Digitalisierung erlaubt das Gespräch aller mit allen. Zugleich entdecken wir, dass die Digitalisierung dieses Gespräch auch bedroht. Das ist die Ambivalenz der Digitalisierung. Der Kern dessen, was wir seit Jahren erleben, lautet: Wir wollen mitdenken und mitentscheiden. Das ist das Herz der Transformation, von der wir seit Jahren sprechen – die (Wieder)Entdeckung der Selbstverantwortung. Mit anderen Worten die Rückeroberung der Urteilskraft.

Selbstverantwortung heißt, Verantwortung zu übernehmen für das, was man tut. Selbstverantwortung heißt aber nicht, dass jede:r Einzelne allein für sich denkt.

Wolf Lotter hat neulich an dieser Stelle gesagt „Die neue Arbeitswelt ist der Ort, wo die eigenverantwortliche Selbstverpflichtung zur Leistung und die Pflicht zur Leistung (…) aus dem Arbeitsvertrag (…) verschmelzen“.

Genau. Wenn wir New Work in einem Schlagwort beschreiben wollten, dann wäre das Responsibility. Verantwortung. Das beschreibt im Kontext der Arbeit die Fähigkeit jede:r Einzelnen, sich immer wieder zu fragen, was, wie und mit welchen Werten sie gemeinsam mit anderen produktiv arbeiten kann. 

Selbstverantwortung heißt, Verantwortung zu übernehmen für das, was man tut. Selbstverantwortung heißt aber nicht, dass jede:r Einzelne allein für sich denkt. Denken ist immer ein Miteinander, ist immer Teamarbeit. Denn wir Menschen neigen dazu, das, was wir schon wissen, auf die Welt zu projizieren. Wir suchen immer nach Bestätigung unseres Weltbilds. Das ist das berühmte Confirmation Bias. Was dazu führt, dass wir Fakten ignorieren. Es gibt schlicht einen riesigen Bereich der Wirklichkeit, den wir übersehen, wenn wir uns nur auf unser individuelles Wissen verlassen.

Die Wissensgesellschaft ist die andere Seite der Industriegesellschaft. Das ist auch der Grund dafür, dass wir immer noch in den Kategorien der Industriegesellschaft denken. Wir müssen den Übergang in die Denkgesellschaft schaffen.

Wir müssen erkennen, dass wir auf möglichst viele und diverse Andere angewiesen sind, wenn wir die Welt erfassen und verstehen wollen. Wolf Lotter spricht davon, dass wir in der Wissensgesellschaft leben. Das greift meines Erachtens zu kurz. Die Wissensgesellschaft ist die andere Seite der Industriegesellschaft. Das ist auch der Grund dafür, dass wir immer noch in den Kategorien der Industriegesellschaft denken. Worum es mir geht: Wir müssen den Übergang in die Denkgesellschaft schaffen.

Was verstehst Du unter der Denkgesellschaft?

Sie ist vor allem die Überwindung der Trennung von Theorie und Praxis. Wir merken heute zunehmend, dass es gar nicht so sehr auf Wissen allein ankommt, sondern dass wir vor allem wissen müssen, wie wir wissen. Das Know-how des Know-what ist entscheidend: Die Anwendung des Wissens, die Fähigkeit, Wissen in immer neuen Situationen produktiv zu machen, es zu korrigieren oder zu erweitern. Das ist Urteilskraft. Mein Biologielehrer hat einmal gesagt: „Man muss lernen, um zu wissen, wissen, um zu verstehen, und verstehen, um urteilen zu können“.

Die Denkgesellschaft ist vor allem die Überwindung der Trennung von Theorie und Praxis. Das Know-how des Know-what ist entscheidend. Das ist Urteilskraft.

Was heißt das für Unternehmen?

Entscheidend ist, dass Mitarbeiterinnen mit einem bestimmten Set von Regeln, von organisationalem Wissen, in die Lage kommen, eine neue Situation zu beurteilen und zu entscheiden: Ändern wir unser Wissen oder können wir das, was wir bisher gemacht haben, auf diese neue Situation übertragen? Es geht immer um die Frage, wo das Unternehmen, der Bereich, das Team gerade stehen, ob und wie sie ihre Annahmen verändern und weiterentwickeln oder etwas völlig Neues machen müssen. Diese Frage können nur diejenigen beantworten, denen sie sich in der spezifischen Situation stellt. Und zwar gemeinsam.

Henry Mintzberg hat neulich geschrieben, strategisches Denken heiße strategisches Sehen: Das Big Picture helfe nicht, man müsse nach vorn schauen, nach hinten, nach oben, zur Seite und vor allem nach unten, denn dort liege der Diamant, nach dem man suche. Wir müssten danach graben.

Das ist ein perfektes Bild. Wir haben immer gedacht, es gebe das Big Picture über uns und darunter den Boden, auf dem wir uns bewegen. Eine Spaltung von oben und unten, von Theorie und Praxis. Heute erkennen wir, dass diese Trennung falsch ist. Die Praxis selbst ist super theoretisch, nichts ist praktischer als die Theorie. Jede Bäckerin hat eine Theorie darüber, wie er sein Brot bäckt. Wenn sie beginnt, etwas Neues zu entwickeln, gräbt sie sich im Sinne Mintzbergs tief in die Erde. Gleichzeitig schaut sie nach oben, nach unten, nach allen Seiten und spricht mit Menschen über deren Bedürfnisse und Erwartungen.

Genau das ist die Erkenntnis der Stunde: Dass es nicht darum geht, ganz viel Wissen zu haben, quasi über das Big Picture zu verfügen. Das Entscheidende ist, dass wir alle wissen, wie wir mit anderen etwas entdecken können.

Denken wir an Design Thinking. Auch hier geht es darum, nicht das eigene Denken in den Mittelpunkt zu stellen, sondern das Denken der anderen. Genau das ist die Erkenntnis der Stunde: Dass es nicht darum geht, ganz viel Wissen zu haben, quasi über das Big Picture zu verfügen. Das Entscheidende ist, dass wir alle wissen, wie wir mit anderen etwas entdecken können. Indem wir uns tief in Dinge hineinwühlen, indem wir clevere Fragen stellen und uns klar werden, dass wir nicht entweder abstrakt oder konkret arbeiten, sondern beides verbinden. Wir brauchen die intellektuelle Organisation. Intellektuelle Organisationen sind Organisationen, in denen die Taskforce immer von der Askforce begleitet wird, also neben dem Tun immer ausreichend Zeit und Raum dafür da ist, das Tun zu reflektieren und zu innovieren. Das ist meines Erachtens auch der wahre Grund, warum der gerade in der Pandemie so viel beschworene Flurfunk so wichtig ist. Mit der Kaffeetasse in der Hand wird hier mitunter intensiv gemeinsam nachgedacht.

Viele Führungskräfte singen gerade das Hohelied des Flurfunks und der spontanen Treffen am Kaffeeautomaten. Gleichzeitig betrachten viele Führungskräfte diesen Austausch in Wirklichkeit aber nicht als Arbeit, Menschen müssen sich für 20 Minuten abseits ihres Schreibtisches rechtfertigen …

Die Rückfrage, die dann immer sofort kommen sollte, ist: Was ist denn Management? Ist Management nach dieser Definition Arbeit? Wenn der Vorwurf lautet, am Kaffeeautomaten Ideen zu spinnen, halte die Menschen von der operativen Arbeit ab – was ist dann Management, sobald es nicht nur routinierte Prozesse verwaltet und überwacht? Entrepreneurship, also visionäres Management, ist wahnsinnig wichtig. Da wird aber gedacht. Das ist vermeintlich nicht produktiv. Wie die Gespräche am Kaffeeautomaten. Die wichtige Frage an die Organisation lautet: Soll das Denken, polemisch gesprochen, wirklich an eine Person an der Spitze der Pyramide gebunden sein oder versteht die Organisation, dass Entrepreneurship jede Mitarbeiter:in betrifft? Wenn jede Mitarbeiter:in in diesem Sinne Manager:in ist, braucht jede diese Zeit zum Denken.

Wenn der Vorwurf lautet, am Kaffeeautomaten Ideen zu spinnen, halte die Menschen von der operativen Arbeit ab – was ist dann Management, sobald es nicht nur routinierte Prozesse verwaltet und überwacht?

Das führt direkt zur Frage, wie wir Arbeit definieren.

Klassischerweise denken wir Arbeit als Realisierung eines Zwecks mit bestimmten Mitteln. Seit der Neuzeit verstehen wir Arbeit sogar ausschließlich so, dass jemand genau dafür bezahlt. Wenn wir aber weiterdenken, wird schnell deutlich, dass Arbeit einerseits die Realisierung von Zwecken ist, dass es andererseits aber auch Arbeit an der Arbeit gibt. Arbeit an der Arbeit heißt, ich stelle mir die Frage, wie ich die Zwecke realisiere, welche Zwecke ich realisiere, welche Maßstäbe und Werte ich habe, ob es geeignetere Mittel gibt oder andere Zwecke, die genauso wichtig sind.

Die Wirtschaftswelt hat lange gedacht, es gibt Arbeiter:innen an der Arbeit, die nennen wir Manager:innen, und es gibt Arbeitende, die umsetzen. Heute erkennen wir zunehmend, dass es besser wäre, wir alle wären in der Lage, an unserer Arbeit zu arbeiten.

Die Komplexität der Wirklichkeit wahrzunehmen, heißt auch Arbeit erledigen. Das haben wir bisher vernachlässigt. Als ob die einzige Leistung wäre, die Komplexität zu reduzieren und irgendwie zu bewältigen. Nein, Komplexität wahrnehmen, ist schon eine Spitzenleistung! Der Umgang mit ihr braucht Arbeit an der Arbeit. Die Wirtschaftswelt hat lange gedacht, es gibt Arbeiter:innen an der Arbeit, die nennen wir Manager:innen, und es gibt Arbeitende, die umsetzen. Heute erkennen wir zunehmend, dass es besser wäre, wir alle wären in der Lage, an unserer Arbeit zu arbeiten. Jeder Organisation wäre empfohlen, diese Form der Arbeit an der Arbeit als Leistung zu integrieren. Also im operativen Geschäft Formate zu entwickeln, Räume und Zeit zu schaffen, in denen miteinander produktiv nachgedacht wird. Wenn zum Beispiel meine Mitarbeiter:innen in einem Teammeeting die Frage diskutieren, ob sie in einem anderen Büro, mit anderem Setting, anderer Sitzsituation, etc. besser arbeiten könnten, dann haben sie etwas geleistet, was ihre Arbeit – im Sinne des Erreichens von Zielen – verbessern kann. Ob es das tatsächlich verbessern wird, ist eine Frage wie jede andere strategische Managemententscheidung. Das weiß man nie, bis es passiert.

Die Herausforderung für eine Organisation ist, Messbares und Nichtmessbares zusammenzudenken und sich nicht für das Eine oder für das Andere zu entscheiden. Es geht um Dialektik. Das Eine bemisst sich am Anderen und beide heben das Ganze auf ein höheres Niveau.

Was hieße eine solche Definition von Arbeit und Leistung für das Performance Management, von dem einige behaupten, man brauche es nicht mehr in der digitalen Wissensökonomie?

Es geht in solchen Debatten immer darum, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. Was wir trotzdem häufig tun. Wir hatten eine Zeit, die feierte Six Sigma. Dann kam die Zeit, die New Work feiert. Immer klingt es so, als gäbe es nur das Eine oder das Andere. Aber bestimmte Prozesse müssen einfach bemessen werden. Ich kann sehen, ob ich auf einer Geraden vorwärts komme oder rückwärts gehe. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Prozesse, die in dieser Weise nicht messbar sind. Die Herausforderung für eine Organisation ist, beides zusammenzudenken und sich nicht für das Eine oder für das Andere zu entscheiden. Es geht um Dialektik, das Eine bemisst sich am Anderen und beide heben das Ganze auf ein höheres Niveau. Eine Organisation, die in der Lage ist zu messen und gleichzeitig die Kriterien in Frage zu stellen, nach denen sie misst, in einem wirklich offenen Gespräch, an dem sich alle beteiligen können, eine solche Organisation ist wahrscheinlich wesentlich erfolgreicher und zukunftsfähiger als eine, die stur an einem Kriterien-Set festhält. Performance und Denken gehören zusammen.