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„Sahnehäubchen-Ethik überzeugt nicht mehr“

Interview Unternehmensethik und Corporate Responsibility-Abteilungen stehen in der Kritik. Ursula Wollasch plädiert dafür, dass Unternehmen Ethik in vorhandene Strategien und Wertschöpfungen integrieren. Das Strategische Management berge ein enormes ethisches Potenzial.

„Ethik betrifft alle Mitglieder des Unternehmens. Man kann sie definitiv nicht outsourcen.“ Sagt Ursula Wollasch.
„Ethik betrifft alle Mitglieder des Unternehmens. Man kann sie definitiv nicht outsourcen.“ Sagt Ursula Wollasch.

Unternehmensethik und CSR unterliegen Moden

Frau Wollasch, einige große Unternehmen verabschieden sich gerade von ihren Aktivitäten im Bereich Corporate Social Responsibility. Ähnliches lässt sich beim Social Sponsoring beobachten. Sie beobachten die Unternehmensethik-Szene seit den neunziger Jahren und haben mit „Ethik in Beziehung“ einen eigenen Ansatz entwickelt. Wundert Sie die aktuelle Entwicklung?

In der Unternehmensethik gab es schon immer ein Kommen und Gehen von Ansätzen und Modellen, daher überrascht mich dieser Trend nicht wirklich. Man setzte in den achtziger Jahren große Hoffnungen in Leitbilder und wollte damit die Kultur und Identität von Unternehmen prägen. Oder man hoffte mit ethischen Selbstverpflichtungen im Umweltschutz gesetzliche Regelungen zu verhindern. Ereignisse wie der Muttermilch-Skandal von Nestlé in den siebziger Jahren waren der Anlass, über das Thema Diskursethik im Unternehmen nachzudenken. In der Kommunikation sollten Werte wie Transparenz, Wahrheit und Verantwortung, aber auch die berechtigten Interessen der Anspruchsgruppen zur Sprache kommen. Hinzu kam die Bekämpfung von Korruption und kriminellen Verhaltensweisen.

Hier hat die Ethik natürlicherweise eine ganz prominente Rolle. Corporate Social Responsibility (CSR) steht in diesem größeren Zusammenhang. „Tu Gutes und rede darüber!“ heißt das Motto. Unternehmen wollen sich mit CSR ein gutes Image erarbeiten. Sie werben um das Vertrauen der Kunden, wollen ihnen ein gutes Gefühl vermitteln, am besten sogar ein gutes Gewissen. „Konsum ohne Reue“ ist das Versprechen, das zugleich ein Wettbewerbsvorteil ist, denn interessante CSR-Projekte machen auch das Unternehmen selbst interessant. Aber man muss bedenken, dass die Menschen heute genauer hinschauen.

Corporate Social Responsibility muss mehr als ein Feigenblatt sein

Wie macht sich dieses genauere Hinschauen bemerkbar?

Viele Menschen sind durch das Internet und die sozialen Medien schneller und besser informiert als früher. Sie sind auch wegen zahlreicher Skandale und Krisen, nicht zuletzt wegen des Klimawandels, sensibler geworden. Wenn heute ein Unternehmen ein Projekt zur Frauenbildung in Afrika fördert, stellt man die Frage, wie viele Frauen denn im Unternehmen in Führungspositionen sind. Und ob sie wie ihre männlichen Kollegen bezahlt werden.

Kritikerinnen haben zwar polemisch, aber nicht ganz unzutreffend, von einer „Sahnehäubchen-Ethik“ gesprochen.

Oder wenn ein Initiative für inklusive Spielplätze gefördert wird, provoziert das die Frage, wie viele Menschen mit Handicap denn im Unternehmen arbeiten. CSR fällt auf das Unternehmen zurück, und es geht um nicht weniger als seine Glaubwürdigkeit. Oder anders gesagt: um seine Reputation. Unternehmen brauchen daher einen unternehmensethischen Ansatz, der von innen kommt und alle Bereiche und Ebenen des Unternehmens umfasst, der eben nicht nur punktuell greift wie die genannten Ansätze aus den 90er Jahren.

Green Washing in ethischen Fragen …

Kritikerinnen haben zwar polemisch, aber nicht ganz unzutreffend, von einer „Sahnehäubchen-Ethik“ gesprochen. Hinzu kommt, dass das Thema Unternehmensethik auch heute noch auf die Frage nach der Gewinnmaximierung reduziert wird. Aber auch das greift zu kurz. Die Kunden, die Öffentlichkeit, selbst Mitarbeitende blicken auf das Ganze des Unternehmens und nicht nur auf seine einzelnen Teile. Vor diesem Hintergrund hat das Strategische Management ein enormes ethisches Potenzial, das man nutzen kann. Und nutzen sollte.

Warum ist gerade das Strategische Management ethisch gesehen so interessant?

Etwas vereinfacht umfasst das Strategische Management drei Phasen – die Situationsanalyse, die Zielbildung und die Implementierung. Jede Phase hat es in sich. Bei der Analyse der externen und internen Bedingungen stellt sich die Frage, welche Faktoren man überhaupt wahrnimmt. Welche Fakten werden berücksichtigt und was wird ausgeklammert? Fluktuation des Personals? Krankenstand? Produktionsbedingungen bei Zulieferern? Das sind ethisch relevante Themen, die aufgegriffen werden können, lange bevor es zu akuten Problemen kommt.

Leitbild, Vision und Mission, Strategie und Maßnahmen, sie alle formulieren ausdrücklich oder indirekt Wertvorstellungen. Für die ethische Reflexion ist das ein reichhaltiger Fundus. Man muss Haltungen, Prinzipien und Normen gar nicht von außen an das Unternehmen herantragen, sozusagen aufpfropfen. Sie sind bereits da und man kann mit ihnen arbeiten.

Leitbild, Vision und Mission, Strategie und Maßnahmen, sie alle formulieren ausdrücklich oder indirekt Wertvorstellungen. Für die ethische Reflexion ist das ein reichhaltiger Fundus.

Es gilt allerdings: Papier ist geduldig. Was ist, wenn ein Serviceversprechen feierlich formuliert und dann aber doch nicht eingehalten wird? Werte im Unternehmen sind „Seismographen“ dafür, wo im Alltagsgeschäft Konflikte drohen. Es gibt auch in der Ethik einen SOLL-IST-Abgleich. Was bleibt von den ethisch anspruchsvollen Bekenntnissen in der Realität übrig? Zählen dann doch nur die Quartalsziele? Oder die Dividende? Bleiben am Ende doch nur Interessen die Kapitalgeber und Aktionäre übrig?

SOLL-IST-Abgleich auch in der Ethik

Mit einem Strategischen Management habe ich die Möglichkeit, Wertvorstellungen über alle drei Phasen hinweg zu verfolgen. Man beginnt bei der Praxis und kommt auch wieder bei ihr an. Es ist ein Merkmal einer „guten“ Ethik, dass sie eben nicht abstrakt und abgehoben ist oder nur auf dem Papier existiert, sondern dass sie praxisorientiert ist. Es geht dabei um eine Antwort auf die Grundfrage der Ethik: Wie sollen wir handeln?

Sie sprechen das Thema Shareholder Value an. Sie sind eher skeptisch, ob ein finanzstarkes Unternehmen im Interesse aller Beteiligten ist, und plädieren für den Stakeholder-Ansatz.

Solides finanzielles Wachstum ist tatsächlich im Interesse aller, wenn denn auch tatsächlich alle etwas davon haben.  Aber hier gibt es keinen Automatismus, die Führung muss ihre Steuerungsaufgabe wahrnehmen. Der Stakeholder-Ansatz nimmt alle relevanten Anspruchsgruppen eines Unternehmens in den Blick. Aus ethischer Sicht beschreibt er unterschiedliche Beziehungen, die aber alle eines gemeinsam haben: Es geht immer um die Anerkennung der jeweiligen Interessen und Bedürfnisse. Und Anerkennung des anderen ist das ethische Grundprinzip schlechthin.

Es ist ein Merkmal einer „guten“ Ethik, dass sie eben nicht abstrakt und abgehoben ist oder nur auf dem Papier existiert, sondern dass sie praxisorientiert ist.

Jeder Partner bringt in die Beziehung spezifische Potenziale ein, aber er hat auch Grenzen. Spannend ist, wie ich damit umgehe. Wieviel Entfaltungsmöglichkeiten gewähre ich Mitarbeitenden? Lasse ich Eigenständigkeit zu, fördere ich sie oder blocke ich ihre Vorstellungen und Wünsche ab. Wie informiere ich Kunden, umfassend oder minimal? Ermögliche ich ihnen eine souveräne Kaufentscheidung oder mache ich sie lieber nicht zu „schlau“?  Mache ich aus einer Schwäche eines Partners immer und unter allen Umständen einen Vorteil für mich? Oder geht es mir eher um ein faires Geben und Nehmen, gerade in schwierigen Zeiten.

Anerkennung des anderen ist das ethische Grundprinzip schlechthin

Dahinter steht die Idee einer Balance. Unternehmen sind nicht allmächtig, sondern angewiesen auf die Loyalität ihrer Mitarbeitenden, die Treue ihrer Kunden, die faire Kooperation mit der Partnerfirmen, das Wohlwollen der Medien und natürlich die Zustimmung ihrer Kapitalgeber. Sie sind davon abhängig, aber sie können auch etwas dafür tun, und zwar indem sie selbst partnerschaftlich mit diesen allen umgehen. Hier kann dann auch ein CSR-Projekt Platz finden, aber nicht isoliert, sondern integriert in eine stimmige Gesamtkonzeption des Unternehmens. In diesem Sinne gilt wie eingangs gesagt: Der Gewinn ist nicht per se schlecht, aber er muss allen zugute kommen.

Sie haben auf die große Bedeutung der Unternehmensziele für „gute Ethik“ hingewiesen. Was macht diese Ziele ethisch gesehen so bedeutsam?

Wenn wir von Werten sprechen, drücken wir damit den Wunsch nach einem gelingenden, harmonischen, konfliktfreien Umgang miteinander aus. Wir haben eine ideale Vorstellung, aber stoßen damit im Alltag immer wieder an Grenzen – und scheitern. Freiheit, Fairness, Achtsamkeit oder Solidarität kann man nicht einfach umsetzen wie einen Projektplan, sondern man muss sie „übersetzen“. An die Realität, an Zeit und Raum anpassen. Dabei helfen uns Ziele.

Unternehmen sind nicht allmächtig, sondern angewiesen auf die Loyalität ihrer Mitarbeitenden, die Treue ihrer Kunden, die faire Kooperation mit der Partnerfirmen, das Wohlwollen der Medien und natürlich die Zustimmung ihrer Kapitalgeber.

Mit lang-, mittel- und kurzfristigen Zielen können wir uns einem Ideal annähern, ohne irgendwann frustriert aufzugeben. Ziele lenken den Blick nach vorn, in die Zukunft. Das macht sie ethisch gesehen interessant. Mein Handeln von heute hat Folgen für morgen. Diese Folgen kann und muss ich reflektieren. Welche Folgen will ich erreichen und welche nicht? Wer sich diese Frage stellt, macht von seiner Freiheit Gebrauch und übernimmt Verantwortung. Umgekehrt handelt ein Unternehmen, das sich die Frage nach den Folgen in Zukunft nicht stellt, schlicht verantwortungslos.

Milton Friedmans Satz „Die soziale Verantwortung von Unternehmen liegt darin, ihren Gewinn zu steigern“ scheint trotz aller Wertediskussionen immer noch die Richtschnur für viele Unternehmen zu sein.

Die entscheidende Frage ist, wem die Gewinnsteigerung zugute kommt. Unternehmen gestalten, ganz gleich ob absichtlich oder nicht, die Gesellschaft von morgen mit. Sie tragen Verantwortung und handeln ethisch, wenn sie sich den Wirkungen ihres Handelns ganz bewusst stellen. Unternehmensziele, vor allem Strategien, lenken den Blick ganz von selbst auf die Zukunft. Was wollen wir in den nächsten fünf Jahren erreichen? Wie steht das Unternehmen da? Was erwartet es für seine Stakeholder? Ziele machen Entwicklungen möglich. Sie eröffnen Perspektiven für die Zukunft. Ziele nehmen die Zukunft quasi vorweg und gestalten sie damit schon hier und jetzt.

Die entscheidende Frage ist, wem die Gewinnsteigerung zugute kommt. Unternehmen gestalten, ganz gleich ob absichtlich oder nicht, die Gesellschaft von morgen mit.

Was das konkret bedeutet, kann man an der Umweltethik zeigen. Das Thema hat in den neunziger Jahren in Münster den Theologen und Sozialethiker Franz Furger und den Wirtschaftswissenschaftler und Marketing-Experten Heribert Meffert zusammengeführt. In der Theologie und in der Betriebswirtschaftslehre wurde zu dieser Zeit das Thema Umwelt-Verantwortung heftig diskutiert. Man war sich einig, dass die Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen allenfalls ein ethisches Minimum darstellt.

Aber selbst die Einrichtung eines kompletten Umwelt-Managements zeigt nur begrenzt Wirkung, wenn das Thema nicht ganz zentral in der Unternehmenspolitik verankert ist. Solange dies nicht der Fall ist, stehen Umweltrichtlinien nur auf dem Papier und können auch Umweltbeauftragte nicht viel ausrichten. Für Meffert und Furger war klar, dass Ethik ganz generell ein Querschnittsthema für die gesamte Unternehmensführung sein muss.  

Es ist am Ende tragisch, dass gerade jener Leuchtturm-Konzern in Deutschland, der dieses Thema so umfassend förderte, schließlich für das ethische Scheitern von Unternehmen stehen sollte.

Ein CSR-Projekt ist für ein Unternehmen attraktiv, weil man es planen und steuern kann und der Ressourceneinsatz begrenzt ist. Sie sprechen von einer Ethik in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Ist das überhaupt steuerbar?

Auf jeden Fall, denn es geht ja nicht um eine Ethik, die zum Management hinzukommt, die sozusagen von außen allen unternehmerischen Entscheidungen übergestülpt wird. Die vorhandenen Prozesse und Strukturen können und sollen genutzt werden. Das lässt sich gut am Thema Partizipation zeigen. Wenn man die Anerkennung der Stakeholder mit ihren Interessen und Bedürfnisse wirklich ernst meint, muss man sie bei Themen, die für sie unmittelbar von Bedeutung sind, auch praktisch einbeziehen.

Wenn man die Anerkennung der Stakeholder mit ihren Interessen und Bedürfnissen wirklich ernst meint, muss man sie bei Themen, die für sie unmittelbar von Bedeutung sind, auch praktisch einbeziehen.

Die Unternehmenskommunikation kennt viele unterschiedliche Formen, mit Kunden, Mitarbeitenden oder Dritten in Kontakt zu treten, Fragen zu stellen und ihnen zuzuhören. Auf diese Weise wird aus Kommunikation Partizipation, und sie ist der erste Schritt zur gelebten Anerkennung des anderen. Zugleich schließt sich an dieser Stelle der Kreis. In der partizipativen Unternehmenskommunikation gewinnt das Unternehmen genau die Informationen, die es für seine Situationsanalyse und die Überprüfung seiner Ziele und Maßnahmen braucht.

Viel Theorie, was empfehlen Sie einem Unternehmen ganz konkret?

Ich empfehle jedem Unternehmen, sich mit leichtem Gepäck auf den Weg zu machen, denn genaugenommen geht es um vier einfache Fragen. Um sie zu beantworten, braucht man keine ethische Theorie, denn sie ergeben sich unmittelbar aus dem praktischen unternehmerischen Handeln. Die Fragen lauten:

  1. Wie sieht die Ausgangslage aus und worin besteht genau der Handlungsbedarf?
  2. Wie gestalten wir die Beziehungen zu unseren Stakeholdern unter dem Gesichtspunkt der Anerkennung ihrer berechtigten Interessen und Bedürfnisse?
  3. Welche kurz-, mittel- und langfristigen Ziele brauchen wir, damit sich unsere Beziehungen weiterentwickeln und auch in Zukunft gelingen?
  4. Wie können wir unsere externen und internen Kooperationspartner bei Fragen, die sie unmittelbar betreffen, umfassend einbeziehen?

Je nach Branche oder Größe des Unternehmens kann es sinnvoll sein, Ethik-Beauftragte einzusetzen oder Ethik-Komitees zu bilden. Wichtig ist dabei jedoch immer, dass keine Parallelstruktur entsteht. Ethik betrifft alle Mitglieder des Unternehmens. Man kann sie definitiv nicht outsourcen oder als „Ethik danach“ fern der eigenen Wertschöpfung wirken lassen.

Zur Person:

Dr. Ursula Wollasch ist promovierte Theologin und Sozialethikerin. Sie ist freiberufliche Autorin und Publizistin, Rednerin und Moderatorin von Tagungen und Workshops. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in den Bereichen Organisations- und Managementethik, Ethik der sozialen Arbeit, Menschenrechte, Katholische Soziallehre. Am Anfang ihres Berufsweges als katholische Theologin und Sozialethikerin hat Ursula Wollasch zwischen 1993 und 1998 unter Professor Franz Furger am Institut für Christliche Sozialwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster Kriterien für eine ethische Bewertung von Unternehmensleitbildern entwickelt. Das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Projekt fand in Kooperation mit Professor Heribert Meffert und dem Institut für Marketing statt. Dies und ihre Tätigkeit als Geschäftsführerin und Mitglied im Vorstand von zwei großen Trägerverbänden der Caritas auf Bundes- und Landesebene ließen sie an der klassischen Verankerung von Ethik zweifeln.