Organisationsentwicklung Change Management

Personalabbau: Augenhöhe bei Lilly im Stresstest

Mitarbeiter und Chefs auf Augenhöhe – so möchte Lilly Deutschland zum menschlichsten und kundenfreundlichsten Unternehmen in der Pharmabranche werden. Doch was passiert, wenn die Konzernzentrale Personalabbau verordnet? Ein Besuch in der Deutschland-Zentrale Bad Homburg

Alles lief gut mit Selbstorganisation und Augenhöhe. Und dann sollte Lilly Deutschland Personal abbauen. Was tun?   Foto: Heinrich Voelkel
Alles lief gut mit Selbstorganisation und Augenhöhe. Und dann sollte Lilly Deutschland Personal abbauen. Was tun? Foto: Heinrich Voelkel

Auf einmal stand ein Elefant im Raum

Auf dem zentralen Pfeiler in der weitläufigen Eingangshalle zwischen hellen sich über vier Stockwerke ausbreitenden Galerien prangt zentral und in Rot die Unterschrift des Unternehmers Eli Lilly. 1876 gründete er den forschenden Pharmakonzern mit Hauptsitz in Indianapolis, der sich unter anderem mit dem weltweit ersten Insulinpräparat, Polio-Impfstoffen oder bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen einen Namen machte. Der Konzern agiert weltweit entlang der gesamten Wertschöpfungskette – von der Entdeckung über die Entwicklung, Herstellung und den Vertrieb von Arzneimitteln bis zu Patientenprogrammen und ehrenamtlichen Initiativen.

Es war das große Ganze: ein tolles Führungsteam, Mitarbeiter, die wirklich mitgestalten. Und dabei sollte natürlich auch Profitabilität entstehen.
Simone Thomsen

Lilly erwirtschaftet mit insgesamt rund 40.000 Mitarbeitern über 21 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz. In Bad Homburg sind knapp 1.000 Leute beschäftigt, rund die Hälfte davon ist meist im Außendienst beim Kunden. Wer einen der Mitarbeiter in der Deutschlandzentrale sprechen möchte, muss sich zunächst im passenden Stockwerk auf die Suche machen. Feste Arbeitsplätze gibt es kaum. Fast jeder wählt im eigenen Arbeitsbereich morgens einen freien Schreibtisch.

Konnte die Zahl der Mitarbeiter, die gehen sollten, um die Hälfte reduzieren: Simone Thomsen, ehemals Chefin von Lilly Deutschland.
Konnte die Zahl der Mitarbeiter, die gehen sollten, um die Hälfte reduzieren: Simone Thomsen, ehemals Chefin von Lilly Deutschland.   Foto: Heinrich Voelkel

Wie alles begann

Dies alles scheint noch wenig ungewöhnlich und dennoch ist hier in den vergangenen Jahren eine völlig neue, originäre Unternehmenskultur entstanden. Neben der offiziellen Unternehmensstruktur mit ihren Hierarchien und Vorgesetztenverhältnissen bilden sich laufend neue freie Radikale. Mitarbeiter können jederzeit selbstverantwortlich Themen voranbringen, solange diese auf die Unternehmensvision einzahlen. Heute sprechen die Lilly-Mitarbeiter von „Augenhöhe“, nach dem gleichnamigen Film, der verschiedene Unternehmen mit neuen Strukturen von Führung und Selbstorganisation zeigt. Alles begann mit der neuen Geschäftsführerin Simone Thomsen im Jahr 2014.

„Es war das große Ganze: ein tolles Führungsteam, das Mitarbeiter begeistert, Mitarbeiter, die wirklich mitgestalten und die Kunden einbeziehen. Und dabei sollte letztendlich natürlich auch Profitabilität entstehen“, resümiert Simone Thomsen. Damit beschreibt sie, was Lilly als „Service Value Chain“ bezeichnet. Simone Thomsen ließ eine Transformationsreise zu. Verschiedene Teams experimentieren mit mehr Selbstverantwortung, es bildeten sich selbstorganisierte Teams und selbst die neue People Strategy 2020 entstand in Teamwork: Lilly Deutschland setzte sich das Ziel, das menschlichste und kundenfreundlichste Unternehmen der Pharmabranche zu werden. Ein hehres Ziel in einer Branche, die sich per se durch ihre Volatilität auszeichnet. Der Patentauslauf jedes Produkts schmerzt, denn fallen Wirkstoffe aus dem Patentschutz, sinken die Umsätze rapide.

Personalabbau Welle 1 – So restrukturiert der Konzern

Der Pharmakonzern Lilly hat sich ein robustes Portfolio mit neuen Arzneien erarbeitet, darunter das Diabetesmittel Trulicity und Taltz zur Behandlung von Schuppenflechte. Zudem will Lilly das Krebsgeschäft ausbauen und arbeitet etwa an der Entwicklung neuer Immuntherapien. Auf dem Weg musste der Konzern aber auch Rückschläge einstecken, wie die kürzliche Ablehnung der US-Zulassung für ihr neues Mittel zur Behandlung rheumatoider Arthritis durch die Gesundheitsbehörde FDA.

Wir haben keine Hire-and-Fire-Mentalität. 
Katrin Gehring-Budig

Wenn Patente auslaufen, leidet die Produktivität, wenn nicht im gleichen Maße neue Produkte nachkommen. Das war bei Lilly vor einigen Jahren der Fall. Fünf bis sechs Milliarden Dollar weniger standen plötzlich zu Buche, und Lilly rutschte damals ins untere Drittel der Branche ab. Anleger bemängelten dies zunehmend und schielten auf die Produktivitätszahlen. Seither hieß das Motto aus Amerika deshalb „schrumpfen, um zu wachsen“. Es reichte nicht aus, Prozesse zu vereinfachen und variable Budgets einzusparen. 2017 sollte die Personaldecke nochmal verschlankt werden. Es ging darum, Fixkosten zu reduzieren, um stärker in die Entwicklung neuer Medikamente investieren zu können. Gleich zwei Personalabbau-Wellen brachen über die deutsche Niederlassung heran – zu Anfang und gegen Ende des Jahres.

HR-Chefin Katrin Gehring-Budig ist stolz auf das 60plus-Programm des Unternehmens. 

„Wir haben bei Lilly keine Hire-and-fire-Mentalität“, betont Personaldirektorin Katrin Gehring-Budig, wohlwissend, dass dies genau das Image ist, das viele Pharmafirmen in den USA anhaftet. Doch hierzulande entscheide man sich langfristig für Mitarbeiter, auch wenn das nicht immer so einfach sei. Bis zu 10 Prozent der Belegschaft beschäftigt Lilly regelmäßig über Arbeitnehmerüberlassungsverträge und befristete Verträge, um darüber nötige Reorganisationen abzufangen. Das haute lange hin, nun also nicht mehr.

Schon Anfang des Jahres waren Reorganisationsvorgaben in Deutschland angekommen. Die erste Reorganisation hatte vor allem mit Änderungen der globalen Strukturen zu tun. Deutschland wurde zusammen mit allen anderen europäischen Ländern in eine neue internationale Business-Unit eingegliedert, die sogenannten IBU-Region mit insgesamt 120 Ländern. In Deutschland hatten die Manager wenig Gestaltungsspielraum. Aus dieser neuen Region kam die Ansage für Personalveränderungen und wurde auch von dort zentral gesteuert. „Plötzlich waren dann Mitarbeiter nicht mehr da und niemand wusste warum. Ein Kollege von mir ist einfach vom Org-Chart gefallen und nur noch einmal drei Stunden für eine Übergabe mit meinem Chef da, erzählt Carla Schürmann, Analytics Capabilities Business Partner. Diese Fälle häuften sich. Die Mitarbeiter wussten nicht, in welchem Umfang und nach welchen Kriterien Personalabbau stattfinden sollte und wen es genau betreffen würde. 

Welle 2 – Personalabbau auf Augenhöhe

„Wir haben die Kritik gehört und ernst genommen“, sagt Simone Thomsen. „Im Managementteam war uns klar, dass wir den erneuten Personalabbau nun wirklich auf Augenhöhe machen müssen.“ Zu der Zeit fand eine Prozessreflexion mit den externen Begleitern Alexander Herr von sysTelios und Sven Franke von CO:X statt, in der es darum ging, die bisherige Veränderung Revue passieren zu lassen. „Da war so ein Elefant im Raum, dieser Personalabbau“, sagt Simone Thomsen. Das Team nutzte deshalb die Zeit, um eine Lösung zu erarbeiten. Eine Arbeitsgruppe der Geschäftsführung entstand und Lilly hörte sich in anderen Unternehmen um, die schon ähnliche Situationen zu meistern hatten. „Zuerst wollten wir auch die Belegschaft fragen. Aber das ging alles zu schnell“, sagt Transformation and Capabilities Leader Stefan Bauer, der den Augenhöhe-Weg von Anfang an federführend begleitet hat. „Ich bewundere das Geschäftsleitungsteam, wie sie monatelang darum gerungen haben, hier andere Wege zu gehen. Da ist man auf einem super Weg und kriegt so schwierige Zielvorgaben. Das ist ein echter Spagat. Aber je mehr Führungskräfte solche Dilemmata integrieren können, desto höher ist ihr Bewusstsein und ihre Kreativität.“

Es folgte volle Transparenz über den Stand der Verhandlungen: Ab Juni 2017 traf sich das Lead-Team jeden Freitag um halb 9 und stand mittags den Mitarbeitern in der Lobby Rede und Antwort, auch wenn es nichts wirklich Neues gab. Zunächst ging es dabei um die Verhandlung der deutschen Niederlassung mit der Konzernführung, um Umsatzziel und Gesamtbudget im Businessplan. „Als drittgrößte und erfolgreiche Organisation im Konzern gingen wir selbstbewusst in die Verhandlungen hinein. Statt der konzernweiten 15 bis 20 Prozent sind wir in Deutschland zwischen 7 und 8 Prozent gelandet“, erklärt Simone Thomsen. „Das haben wir mit dem Team geteilt und es wurde honoriert, dass wir so gekämpft haben. Nichtsdestoweniger springst du dann in den Personalabbau.“ 

Nun begann die konkrete Arbeit der Personalabteilung, eine verrückte Zeit für HR: Absprachen mit dem Betriebsrat, Sozialplan aushandeln und ganz viele Gespräche. Einer der wesentlichen Aspekte für einen anderen Umgang mit dem Thema Personalabbau war eine freiwillige Vorruhestandsregelung für den Außendienst. Deutschland war neben den USA die einzige Organisation, die dafür eine Genehmigung des Vorstandes heraushandeln konnte. So war der Weg frei, Mitarbeitern, die 60 und älter waren, ein großzügiges Angebot zu machen. Das 60plus Programm war geboren, mit dem Betriebsrat an Bord.

Gespräche, Gespräche, Gespräche

„Als wir das kommuniziert haben, mussten die betroffenen Mitarbeiter natürlich erst einmal darüber nachdenken“, so Personalleiterin Katrin Gehring-Budig. Das war eine brenzlige Situation, denn die Personalabteilung stand unter Zeitdruck – sechs Wochen, mehr Zeit blieb nicht. Sonst drohten Aufhebungen im Rahmen des vorhandenen Sozialplans. Die erste Woche verlief schleppend. Die üblichen Stimmen bei Veränderungen kamen auf: „Das wird doch sowieso nichts. Ihr müsst noch mehr drauflegen und was Besonderes stricken.“ Doch die Geschäftsleitung blieb standhaft. „Wir haben gesagt, das ist vielleicht nicht der rote Teppich, aber es ist gut“, erinnert sich Katrin Gehring-Budig, die trotz der vielen Unkenrufe fest an den neuen Weg glaubte. „Uns war auch wichtig, dass es keinen Unterschied macht, ob man sofort oder in drei Wochen unterschreibt.“ 

 

Nicola Fusch wollte alle, die gehen mussten, mit einem Foto ehren.   Foto: Heinrich Voelkel
Nicola Fusch wollte alle, die gehen mussten, mit einem Foto ehren. Foto: Heinrich Voelkel

Es folgten viele Gespräche und positive Reaktionen. „Das war teilweise sehr emotional. Das ist etwas, was man mit nach Hause nimmt. Man erfährt ja viel über die Mitarbeiter, über Ängste und Sehnsüchte und persönliche Verhältnisse“, so Katrin Gehring-Budig, die seit 2009 den Personal-Bereich in der DACH-Region verantwortet und seit zweieinhalb Jahren zusätzliche Aufgaben in Europa übernommen hat. Mitarbeiter mussten sich selbst und ihre Familie darauf vorbereiten, eine wichtige Entscheidung fürs Leben treffen, eine neue Lebensphase einläuten – und das alles kurz vor Weihnachten. Doch immer wieder betonen die Personaler die Freiwilligkeit des Programms, „alles kann, nichts muss“. Es gibt individuelle Situationen zu regeln. Bei einigen Kollegen funktionierte der Exit einfach nicht. „Dann haben wir uns auf die Hinterfüße gestellt und geschaut, wo wir andere Positionen haben“, so Katrin Gehring-Budig. Zunächst waren auch Ängste da, überhaupt ins Gespräch zu gehen und dann nicht mehr „Nein“ sagen zu können. „Wir von der Geschäftsführung oder Bereichsleitung haben sehr darauf geachtet, dass niemand die Leute pusht. Manche Bereichsleiter haben sich auch gewehrt, wenn Mitarbeiter von ihnen gehen sollten. Sie mussten ja trotzdem ihre Produkte launchen mit weniger Leuten. Doch uns war wichtig: Das ist eine sehr persönliche und individuelle Entscheidung.“

Auch die Analytics-Expertin Carla Schürmann hat die Zeit noch lebhaft vor Augen. „Es war eine 180-Gradwende zu den Erlebnissen Anfang des Jahres, aber einfach war das für niemanden. Ich habe eine Distriktleiterin erlebt, die altersmäßig direkt betroffen war. Die ist sofort in eine Schockstarre gefallen, weil sie wusste, dass sie zuhause diesen Brief im Briefkasten findet.“ Sie war eine derjenigen, die dann nach Gesprächen mit ihrem Vorgesetzten doch geblieben ist. „Jede Woche hat sich jemand verabschiedet, Leute, mit denen man teilweise 15 Jahre zusammengearbeitet hat. Aber keiner ist gegangen und hat gesagt, bin ich froh, dass ich diesen Laden hinter mir lasse.“

Insgesamt ging die Rechnung auf. Im Außendienst nutzten 45 Mitarbeiter das Angebot. Hinzu kamen noch einmal 25 Mitarbeiter aus anderen Bereichen. „Viele haben sich bei uns bedankt, weil wir sie so gut begleitet haben. Wir haben sogar Blumensträuße bekommen“, so Katrin Gehring-Budig. „Manche haben jetzt schon wieder ein Anschluss-Beschäftigung. Unsere Mitarbeiter haben einen hohen Marktwert und sind sehr beliebt in anderen Firmen.“ Auch als dann alles klar war, die Excel-Tabelle mit dem Namen stand, ließ die Frage nach mehr Augenhöhe nicht nach. „Ich dachte, das ist eine Liste, wir denken nicht genug an die Menschen“, erzählt Nicola Fusch. Von ihr kam der Vorschlag, Fotos der Kollegen auszuhängen, um sie alle persönlich vor Augen zu haben.

„Keiner ist gegangen und hat gesagt, bin ich froh, dass ich diesen Laden hinter mir lasse“, sagt Carla Schürmann, Data Analyst bei Lilly Deutschland.  Foto Heinrich Voelkel
„Keiner ist gegangen und hat gesagt, bin ich froh, dass ich diesen Laden hinter mir lasse“, sagt Carla Schürmann, Data Analyst bei Lilly Deutschland. Foto Heinrich Voelkel

Das Führungsteam von Lilly hat aus der ersten Reorganisationswelle gelernt. Dennoch ist der Standort Bad Homburg von einem großen Konzern und dessen Entscheidungen abhängig. „Die zweite Reorganisation lief für all die Positionen gut, die hier lokal aufgehängt sind“, resümiert Katrin Blank. Einige Mitarbeiter waren aber auch da in der globalen Struktur angesiedelt, zum Beispiel im Clinical Development. „Die hingen nicht nur bis November in der Luft, sondern zum Teil auch bis Januar und Februar 2018. Jetzt wurde verkündet, dass viele Aufgaben in ein Shared Service Center überführt werden, woran sie noch ein halbes Jahr lang mitarbeiten dürfen. Dieses lokal sein innerhalb eines großen Konzerns, bringt schon eine Spannung, die sich nicht immer ganz auflösen lässt.“ 

Lesen Sie in Teil eins unserer Unternehmensstory, wie alles begann und welche Herausforderungen das Pharmaunternehmen aktuell zu meistern hat: „Augenhöhe bei Lilly: Von Glücksgefühlen und Transformationsschmerzen.“