Business Transformation Selbstorganisation

Ehrlichkeit schafft Vertrauen

Vertrauen braucht Ehrlichkeit, aber das ist leichter gesagt als getan. Denn während wir alle beteuern, immer ehrlich und direkt zu sein, ist das in Wahrheit niemand von uns. Wie sollen wir vertrauen, wenn wir nicht wissen, was Wahrheit und was Lüge ist?

Foto: Fotostock - stock.adobe.com
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Warum Unehrlichkeit verlockend ist

Ich liebe Menschen, aber machen wir uns nichts vor, sie lügen wie gedruckt. Manchmal bewusst und mit voller Absicht. Oft aus einer Not heraus und häufig sogar unbewusst. Wir alle haben es schon getan. Wir übertreiben, wir untertreiben, wir verschweigen oder dichten hinzu. Die Frage ist, warum? Haben wir nicht alle genug von dem ganzen Fake um uns herum? Alle sehnen sich nach Ehrlichkeit, aber wo soll sie herkommen, wenn wir sie nicht selbst erzeugen? Das Lügen hat einen einfachen Grund. Oft erhoffen wir uns Vorteile. Unsere Instinkte, die uns früher überleben ließen, helfen uns heute, uns regelmäßig den Hintern zu retten.

Trust me.
Dies ist ein Vorabdruck aus dem Buch "Trust me. Warum Vertrauen die Zukunft der Arbeit ist" von Karin Lausch. In ihrem Buch geht die Autorin der Frage nach, wie wir eine vertrauensvolle und vertrauenswürdige Arbeitsumgebung schaffen, in der Menschen ohne Angst ihr Bestes geben können. Das Buch erscheint Mitte Oktober 2023. 
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Dan Ariely war erst Professor am Massachusetts Institute of Technology und später an der Duke University. In seinem Buch: "Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge" berichtet er von Gary Becker, einem Professor an der University of Chicago. Dieser verbreitete die Ansicht, dass wir Menschen anhand einer sehr einfachen Kosten-Nutzen-Analyse entscheiden würden, ob wir uns ehrlich oder unehrlich verhalten sollten. Laut seinem "Simple Model of Rational Crime", auch SMORC genannt, würden wir nicht über richtig oder falsch nachdenken, sondern nur die positiven und negativen Konsequenzen abwägen. Ganz nach dem Motto: Lügen, wenn es sich lohnt.

Dan Ariely widerlegte diese Theorie, nachdem er und sein Team zahlreiche Verhaltenstests zum Umgang des Menschen mit Wahrheit und Unwahrheit, aber auch mit Moral durchgeführt hatten. Menschlichkeit ist nicht nur eine Kosten-Nutzen-Analyse. Uns beeinflussen auch moralische Fragestellungen, Werte und Mitgefühl bei der Entscheidung über Ehrlichkeit oder Lüge. Dan Ariely entwickelte daraufhin die "Schummelfaktor-Theorie". Sie beschreibt, dass die meisten Menschen gerade nur so viel schummeln, dass sie daraus zwar einen Vorteil ziehen, sich aber trotzdem noch großartig fühlen können. Solange wir uns also selbst noch im Spiegel ansehen können, ist Lügen kein Problem. Würden wir nur nach einer Kosten-Nutzen-Analyse vorgehen, würden wir viel häufiger betrügen, als wir es tatsächlich tun.

Menschlichkeit ist nicht nur eine Kosten-Nutzen-Analyse. Uns beeinflussen auch moralische Fragestellungen, Werte und Mitgefühl bei der Entscheidung über Ehrlichkeit oder Lüge.

Die gute Nachricht ist also, bei all dem Fake, sind wir nicht nur egoistisch. Wir lügen auch, um anderen zu helfen oder sie zu beschützen. Lügen bieten uns einen Raum voller Möglichkeiten, um Einfluss auf unser Leben und das von anderen zu nehmen. Es ist verlockend, sie zu nutzen, weil wir mit wenig Aufwand viel bewirken können.

Alles gelogen – oder nicht?

Wie kann man eigentlich unbewusst lügen? Ganz einfach. Die Schummelfaktor-Theorie greift auch hier. Wir wollen uns Vorteile verschaffen oder Nachteile vermeiden, aber wir wollen uns deshalb nicht schlecht fühlen. Daher suchen wir uns gute Erklärungen für unsere Lüge. Wir rechtfertigen sie so gut, dass wir die Wahrheit und unsere Lüge selbst nicht mehr auseinanderhalten können. Die Realität verschwimmt mit unserer Wirklichkeit. Und das fängt schon früh an. Wenn meine Kinder aufräumen sollen, entwickeln sie spontane Bauchschmerzen. Das kann so weit gehen, dass sie selbst völlig überzeugt davon sind, Bauchschmerzen zu haben, und nur mit einer Wärmflasche ins Bett gehen wollen. Die Grenze zwischen der Lüge und den echten Bauchschmerzen ist verschwunden. Und so geht es unser Leben lang weiter.

Warum Vertrauen die Zukunft der Arbeit ist. Diese Frage beantwortet Karin Lausch in ihrem Buch Trust me.
Warum Vertrauen die Zukunft der Arbeit ist. Diese Frage beantwortet Karin Lausch in ihrem Buch Trust me.

Wir alle kennen das Gefühl, verabredet oder irgendwo eingeladen zu sein und kurz vorher festzustellen, dass wir nicht hingehen wollen. Vielleicht, weil wir erschöpft sind oder einen blöden Tag hatten. Wir alle waren in so einer Situation schon mal unehrlich. Wir wollen niemanden verletzen oder den Eindruck erwecken, uns wäre das Wiedersehen nicht wichtig. Stattdessen erzählen wir eine Geschichte, die aus unserer Sicht Sinn ergeben könnte und niemandem weh tut. Vielleicht, dass wir krank werden oder Kopfweh haben. Nicht selten fühlen wir uns dann auch schon kränklich. Uns fallen plötzlich Symptome auf, die wir vorher nicht bemerkt haben. Unsere eigene Lüge bohrt sich tief in unser Unterbewusstsein. Wir wollen so sehr, dass es wahr ist, dass wir anfangen, es selbst zu glauben. Alles, damit wir uns nicht eingestehen müssen, dass wir gerade gelogen haben. Verständlich, denn wer mag schon Lügner:innen?

Unsere gute Intention wird aber zur Gefahr, weil sie unsere Realität verwässert. Wir reden uns die Lüge schön. Ursprünglich hatten wir lediglich ein nachvollziehbares Bedürfnis nach Ruhe. Es wäre besser gewesen, das transparent zu machen. Nicht nur andere wüssten dann, woran sie sind, sondern auch wir selbst.

Unser Glaube an unsere erfundenen Erklärungen für eine parallele Wahrheit potenziert sich, wenn wir zusammen sind. Verhaltensforscher:innen der Ludwig-Maximilians-Universität in München fanden heraus, dass wir in Gruppen deutlich öfter und bereitwilliger lügen.

Aber wir schreiben das Drehbuch einfach um. Das ist die Entstehungsgeschichte von Fake-News. Im Zeitalter von Social Media sorgt dieser Effekt sogar für neue Identitäten. Wir können jetzt nicht nur unsere direkten Mitmenschen belügen, sondern auch hunderttausende Unbekannte gleichzeitig. Im Netz ist nie klar, was wahr und was erfunden ist. Manche Menschen bauen sich ein Leben, das sie gerne hätten, oder eifern ihren Idolen nach. Unser Streben nach "alternativen Wahrheiten" holt uns allerdings immer irgendwann ein und kann uns sogar krank machen, weil wir uns in Selbstzweifeln, dem Drang nach Anerkennung oder in Lügen verlieren.

Unehrliche Gruppendynamik

Unser Glaube an unsere erfundenen Erklärungen für eine parallele Wahrheit potenziert sich, wenn wir zusammen sind. Verhaltensforscher:innen der Ludwig-Maximilians-Universität in München fanden heraus, dass wir in Gruppen deutlich öfter und bereitwilliger lügen. Grundlage dafür war eine Studie, in der 273 Studienteilnehmende gebeten wurden, das Video eines Würfelwurfs anzusehen und im Anschluss die Zahl zu nennen, die gewürfelt wurde. Je höher die Zahl war, die angeblich im Video gewürfelt wurde, desto höher ihre Belohnung. Lügen war nicht verboten. Wie so oft im Leben gab es auch hier einen Anreiz für die Unwahrheit. In diesem Fall war es der Anreiz, durch die Nennung einer höheren Zahl eine höhere Belohnung einzusacken. Es wurden drei Situationen abgebildet.

  • Teilnehmende entschieden allein, welche Zahl sie nannten.
  • Teilnehmende sprachen sich in einem anonymen Gruppenchat ab, aber entschieden dann allein.
  • Teilnehmende stimmten sich in der Gruppe ab und mussten sich auch gemeinsam auf eine Aussage festlegen.

61,5 Prozent der Teilnehmenden logen, als es ihre Aufgabe war, allein zu entscheiden. 86,3 Prozent der Teilnehmenden logen, als sie sich gemeinsam abstimmten, aber allein entschieden und ganze 89,7 Prozent der Teilnehmenden logen, nachdem sie gemeinsam in der Gruppe entscheiden mussten. Teilnehmende, die noch ehrlich waren, als sie allein entschieden, waren bereit, in der Gruppe zu lügen.

Dieses Phänomen wird als "dishonesty shift" bezeichnet. Während viele von uns sich ihre Lügen bereits schönreden, wenn sie allein sind, ist das noch viel leichter in einer Gruppe, in der wir gemeinsam ein Ziel verfolgen. Wir stimmen unsere Grundvorstellungen von richtig und falsch miteinander ab, bekommen ein Gefühl für die Argumente der anderen und können mit besserem Gewissen die Norm uminterpretieren, weil wir es gemeinsam tun. Die Gruppendynamik erzeugt eine schleichende Rechtfertigung für die Unwahrheit. Wenn eine ganze Gruppe eine Erklärung dafür findet, warum lügen jetzt richtig ist, wie sollte es dann auch falsch sein?

Fakten über die Lüge

Es gibt jede Menge Studien darüber, wie unehrlich wir Menschen sind. Aus der Menge der unterschiedlichen Ergebnisse ließen sich bisher aber nur sehr übergeordnete Aussagen treffen. Wissenschaftler:innen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Technion – Israel Institute of Technology führten deshalb eine große Metaanalyse zu dem Thema durch. Sie umfasst die Ergebnisse von insgesamt 565 Studien. 42 Prozent der Männer und 38 Prozent der Frauen haben demnach gelogen. Außerdem scheinen wir mit dem Alter immer ehrlicher zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand lügt, nahm laut der Analyse mit jedem Jahr um 0,28 Prozentpunkte ab.

Wenn eine ganze Gruppe eine Erklärung dafür findet, warum lügen jetzt richtig ist, wie sollte es dann auch falsch sein?

Die YouGov Deutschland GmbH befragte im Auftrag von Glassdoor 1.066 Berufstätige zu ihrem Umgang mit der Wahrheit im Arbeitskontext. 45 Prozent der Befragten waren immerhin so ehrlich zuzugeben, dass sie gelegentlich lügen würden, "um gut über die Runden zu kommen". 22 Prozent der Befragten gaben an, sich bei der Arbeit zu verstellen. Das betrifft immerhin jede fünfte Person. Außerdem würden 32 Prozent "niemals Gefühle auf der Arbeit zeigen", was aus meiner Sicht darauf schließen lässt, dass sich ein größerer Teil der Befragten verstellte als angegeben. 27 Prozent gaben zu, schon gelogen zu haben, "um Fehler und Misserfolge zu verbergen", und 21 Prozent gestanden, gelogen zu haben, weil sie das Gefühl hatten, ihre Führungskraft würde keine abweichende Meinung zulassen.

(Falsche) Höflichkeit

Der Kontext oder die Angst vor zwischenmenschlichen Konsequenzen wegen fehlender psychologischer Sicherheit bringen uns dazu, uns anders zu verhalten, als wir wollen. Während wir uns im Alltag in oberflächlichen Liebenswürdigkeiten verlieren, gehen wir uns nicht selten tierisch auf die Nerven. Doch unsere Zusammenarbeit bietet unerschöpfliches Konfliktpotenzial. Um ihm aus dem Weg zu gehen, müssen wir unserem inneren Business-Chamäleon also jede Menge zu tun geben. So sind wir ganz besonders nett und höflich zueinander. Beispiele gibt es viele. Hier ist eine kleine Auswahl:

  • Ein Kollege führt endlose Monologe im Remote-Meeting, aber niemand unterbricht. Wir sind lieber still und leise genervt als laut und deutlich unhöflich.
  • Die Kollegin glaubt, es sei eine gute Idee, ihren Döner im Büro zu essen. Statt sie darauf aufmerksam zu machen, dass das unappetitlich ist, halten alle den Mund und sich die Nase zu.
  • Die Führungskraft grätscht in die Projektarbeit rein. Statt sie darauf hinzuweisen, wo die Verantwortung liegt, akzeptieren alle zähneknirschend ihre Übergriffigkeit.

Aber eines haben alle Situationen gemeinsam. Sie rauben uns den Nerv, kosten uns Zeit und machen uns unproduktiv. In dem Versuch, höflich zu sein und nicht anzuecken, geben wir einzelnen die Macht über alle. Wir ärgern uns innerlich und verlieren den Fokus. Aber es bleibt nicht nur beim kurzfristigen Konzentrationsschwund. Es folgen Gespräche mit denen, die auf unserer Seite sind. Wir verarbeiten das Ereignis und unseren Ärger in der Gemeinschaft. Es kostet Zeit, wenn wir tolerieren, statt zu intervenieren. Und diese Zeit summiert sich schnell zu einem massiven Produktivitätsverlust. Und das Schlimmste: Am Ende wissen alle, was Sache ist, nur die nicht, die es wirklich etwas angeht.

Der Kontext oder die Angst vor zwischenmenschlichen Konsequenzen wegen fehlender psychologischer Sicherheit bringen uns dazu, uns anders zu verhalten, als wir wollen.

Ich bin kein Fan von Höflichkeit. Natürlich ist es wichtig, dass wir aufeinander eingehen, uns wahrnehmen und aufmerksam sind, denn das ist die Grundvoraussetzung für ein gutes Miteinander. Aber das ist Menschlichkeit. Menschlich verhalten wir uns aufgrund unserer Gefühle und Bedürfnisse. (Falsche) Höflichkeit hingegen hat etwas Erlerntes und Aufgesetztes. Wir zwingen uns aufgrund gesellschaftlicher Konventionen und auferlegter Spielregeln dazu oder haben schlichtweg Angst, dass uns Konsequenzen drohen, wenn wir nicht mitspielen. Wir machen uns klein, dulden zu viel und schlucken alles runter. Aber damit werden wir nicht uns, sondern im besten Fall nur anderen gerecht. Außerdem tragen wir damit jeden Tag dazu bei, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, anstatt dafür zu kämpfen, dass sie so werden, wie wir sie gerne hätten.

Ich bin kein Fan von Höflichkeit. Sie hat etwas Erlerntes und Aufgesetztes. Wir machen uns klein, dulden zu viel und schlucken alles runter.

Fortschritt passiert nur, wenn wir den Mund aufmachen. Irgendwer muss den Kreislauf falscher Höflichkeit und Anpassung also durchbrechen. Meist ist nämlich genau das der Moment, in dem es überhaupt erst möglich wird, dass sich etwas ändert. Wir brauchen deshalb Menschen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, damit wir uns gemeinsam weiterentwickeln können.

Für eine vertrauensvolle Zukunft der Arbeit brauchen wir ein Umfeld, in dem wir ganz wir selbst sein können. Das schließt ein, dass wir getrost auch einmal unhöflich sein dürfen, ohne Angst haben zu müssen, gleich ausgestoßen zu werden. Und wenn ich ganz ich selbst sein darf, muss ich keine gesellschaftlichen Konventionen erfüllen. Aber können wir jetzt alle rücksichtslos unser Handeln damit rechtfertigen, dass wir nun mal so sind, wie wir sind? Nicht ganz, denn andere zu verletzen, darf nicht das Resultat sein. Doch antrainierte Nettigkeiten abzulegen, ist sehr befreiend. Ich unterbreche zum Beispiel in Meetings hart und deutlich, wenn jemand zu lange redet oder der Fokus abhandenkommt. Ich bin dabei unhöflich, aber menschlich. Das Gute daran ist, dass alle wissen, woran sie sind. Das sorgt für Vertrauen und spart Zeit.

Radikale Ehrlichkeit

"Es ist illusionär, zu denken, dass man immer ehrlich sein kann. Dazu sind die sozialen und emotionalen Kosten zu hoch", schrieb Tristan Horx im Zukunftsreport 2019. Und das stimmt. Wir können nicht ganz raus aus der Schwindelfalle. Es geht oft schneller, als wir "Lüge" sagen könnten, da haben wir schon wieder etwas hinzu- oder weggedichtet. Außerdem haben wir selten böse Absichten, wenn wir lügen. Kleine Unwahrheiten sollten uns deshalb nicht davon abhalten uns gegenseitig zu vertrauen. Das Leben wäre sehr einsam, wenn wir nur an Menschen glauben würden, die immer und überall zu 100 Prozent ehrlich sind. Lügen ist menschlich. Was aber Vertrauen zerstört, sind Unwahrheiten, die anderen schaden können oder massive Intransparenz fördern. Wenn Selbstorientierung überwiegt, werden Wohlwollen, Authentizität und Integrität infrage gestellt.

Für eine vertrauensvolle Zukunft der Arbeit brauchen wir ein Umfeld, in dem wir ganz wir selbst sein können. Das schließt ein, dass wir getrost auch einmal unhöflich sein dürfen, ohne Angst haben zu müssen, gleich ausgestoßen zu werden.

Außerdem: In unseren zwischenmenschlichen Beziehungen können wir nicht von der einen Wahrheit sprechen, denn es gibt sie nicht. Es ist immer nur unsere Wahrnehmung und damit unsere Wahrheit. Aber unsere Wahrheit zu sagen, so gut wir können, ist wichtig. Vor allem dann, wenn wir emotionale Bindung aufbauen und erhalten wollen. In diesen Situationen ist radikale Ehrlichkeit eine wirksame Antwort auf die Frage nach mehr Vertrauen.

Der Psychotherapeut Dr. Brad Blanton hat das Konzept der radikalen Ehrlichkeit beschrieben. Es geht darum, immer die Wahrheit zu sagen. Radikale Ehrlichkeit kennt keine Vorsicht, keine falsche Höflichkeit und keine Business-Fassade. Und da die Wahrheit ja nur unsere Sicht auf die Dinge ist, geht es vor allem um Selbstkundgabe. Das Ziel ist es also nicht, jemandem die Meinung zu geigen und endlich mal loszuwerden, was wir von anderen halten. Es geht darum, transparent zu machen, was in uns vorgeht und welche Bedürfnisse wir haben. Auch wenn wir nicht immer und überall ehrlich sein können, so können wir doch in den oben genannten Situationen, in denen es wirklich darauf ankommt, viel aus diesem Konzept übernehmen.

Radikale Ehrlichkeit kennt keine Vorsicht, keine falsche Höflichkeit und keine Business-Fassade.

Dem Kollegen, der im Meeting ohne Punkt und Komma redet, könnten wir dann einfach unterbrechen und ihm mitteilen, dass wir jetzt gerne zum nächsten Punkt kommen wollen. Der Kollegin, die ihren Döner isst, könnten wir sagen, dass nur die Menschen den Geruch von Döner mögen, die gerade selbst Döner essen. Und der Führungskraft, die sich einmischt, könnten wir mitgeben, dass ihr Eingriff den Prozess aufhält, statt ihn zu beschleunigen. Wir müssten uns keine Geschichten mehr überlegen und auch keine Rechtfertigungen mehr dafür suchen, wenn wir nicht zu einer Verabredung kommen wollen. Wir könnten einfach sagen, dass wir keinen guten Tag hatten und gern allein sein würden.

Ehrlichkeit kostet Energie. Verstellung aber noch mehr

Vor kurzem begleitete ich ein Team, das sich über den nächsten taktischen Schritt für eine Verhandlung mit dem Betriebsrat unterhielt. Es hatte ein Störgefühl, wollte das aber nicht offenlegen und überlegte, was es stattdessen tun konnte. Die Zeit verstrich und ich stellte mir einen Timer auf 30 Minuten. Als das Team nach dieser Zeit immer noch nicht fertig war, unterbrach ich die Situation, die ich bis dahin nur still beobachtet hatte. Ich spiegelte dem Team, womit es gerade seine Zeit verschwendet hatte, ohne auch nur einen einzigen Beitrag zur Wertschöpfung geleistet zu haben und ohne weitergekommen zu sein. Wir entschieden, dem Betriebsrat gegenüber "einfach" ehrlich zu sein. Dabei ist Ehrlichkeit nie einfach, wenn der Kontext zu Unehrlichkeit einlädt. Aber all die Energie, die wir aufwenden, um unsere Lügenschlösser zu bauen, hätten wir dennoch plötzlich zur freien Verfügung.

Brad Blanton schreibt in seinem Buch "Radikal ehrlich": "Wir alle lügen wie verrückt. Es macht uns krank. Es ist die Hauptursache für allen menschlichen Stress. Lügen bringt die Menschen um." Er beschreibt unseren Verstand als ein »Gefängnis aus Bullshit«, in dem wir verharren, wenn wir anderen nicht sagen, was wirklich ist. Und wer kennt sie nicht, diese Erleichterung, wenn wir etwas gesagt haben, was wirklich mal gesagt werden musste, weil es "wahr" ist? Weil wir mal nicht unsere Gedanken gefiltert und unsere Worte angepasst haben?

Radikale Ehrlichkeit trägt zu echter Entspannung und Entlastung bei.

Es ist wahnsinnig anstrengend, unsere Wahrheit immer auf die Person zuzuschneiden, mit der wir gerade sprechen. Radikale Ehrlichkeit trägt deshalb zu echter Entspannung und Entlastung bei. Bevor wir also vor lauter Stress unser nächstes Retreat buchen, sollten wir vielleicht einfach mal reinen Tisch machen. Zudem ist die schonungslose Wahrheit ein Booster für unsere persönliche Entwicklung. Statt das wir uns selbst ständig belügen, indem wir unsere Wahrheit mit erfundenen Erklärungen mixen, können wir viel genauer hinsehen. Vielleicht lernen wir uns zum ersten Mal in unserem Leben selbst wirklich kennen, statt immer nur mit unserem höflichen, angepassten inneren Business-Chamäleon zu sprechen.

Weil nichts stärker wirkt

Wenn es mir nicht gut geht, dann sage ich das auch. Das hat schon zu einigen verdutzten Gesichtern geführt. Denn auf die Frage: "Wie geht's dir?" erwarten Menschen nun mal ein "gut". Sie Fragen nicht einmal bewusst, sondern einfach so. Sie stellen diese Frage, auch wenn sie eigentlich noch gar nicht im Gespräch angekommen sind. Sie hören nicht mal richtig hin. Die Frage ist eine Überbrückung auf dem Weg zum eigentlichen Thema. Sie ist eine Floskel. Natürlich kann sie den Einstieg in ein echtes Gespräch erleichtern, weil wir Zugang zueinander finden. Doch Floskeln haben eben auch die Eigenschaft, einfach in den Raum geworfen zu werden, ohne dass die Person, die sie äußert, wirklich Interesse an einer Reaktion hat. Wenn das spürbar ist, dann wird niemand auf die Frage "Wie geht's dir?" ehrlich antworten und wir drehen uns im Kreis. Deshalb bringen uns Floskeln einer vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht näher. Erst wenn etwas von dieser oberflächlichen Norm abweicht, werden wir aufmerksam. Es irritiert uns.

Irritation ist hilfreich, denn sie holt uns unter der dicken Käseglocke der Ignoranz hervor. Und was könnte irritierender sein als radikale Ehrlichkeit? So habe ich mir über die Zeit angewöhnt, ehrlich zu sein, wenn es um meine Gedanken geht. Ich sage es, wenn es mir nicht gut geht. Ich äußere es, wenn ich etwas nicht weiß, und ich teile mich mit, wenn mich etwas berührt. Nichts wirkt stärker als Ehrlichkeit, gerade in diesen Momenten. Es entsteht eine echte Verbindung, da, wo vorher nur Raum für gespielte Professionalität war. Ehrlichkeit in unseren verletzlichen Momenten bringt andere dazu, auch ehrlich zu sein. Wenn wir also von anderen hören wollen, dass sie Unterstützung brauchen oder eine Frage haben, die sie sich nicht zu stellen trauen, wenn wir wissen wollen, wie es anderen wirklich geht, oder wenn wir möchten, dass sie uns ihre Gefühle zeigen, dann müssen wir selbst damit anfangen.

Irritation ist hilfreich, denn sie holt uns unter der dicken Käseglocke der Ignoranz hervor.

Während ich früher noch dachte, ich müsste meine Schwächen vertuschen und mich klein machen, wenn ich mich nicht zugehörig fühlte, weiß ich heute, dass ich mich genau in diesen Momenten groß machen darf. Unsere Erfolge und unser großes Selbstbewusstsein sind nicht die Dinge, die für vertrauensbildende Gespräche sorgen. Es ist immerhin ein Leichtes, über das Gute zu sprechen. Wer redet nicht gerne über Auszeichnungen, Beförderungen oder die eigenen Talente? Viel schwerer ist es, sich verletzlich zu zeigen, Fehler einzugestehen oder zuzugeben, dass wir etwas nicht können. Wer das tut, macht klar: »Ich bin ehrlich.« Und davon brauchen wir viel mehr in unserer Arbeitswelt, denn wir werden die großen Herausforderungen der Zukunft nicht meistern, wenn wir unsere Energie weiterhin nur darin investieren, unsere professionelle Fassade aufrecht zu erhalten.