Selbstorganisation New Work

„Neues Lernen ist mehr als digitales Lernen“

Interview Die Bedeutung von betrieblicher Weiterbildung für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen scheint unbestritten. Doch es mangelt oft noch an neuen Konzepten, die tatsächlich etwas bewirken, findet Katrin Thieme-Wagner, Bereichsleiterin bei der Haufe Akademie Consulting. Wir sprachen mit ihr darüber, was sie unter „Neuem Lernen“ versteht.

Neues Lernen ist nicht nur digital.                  Photo by Joshua Eckstein on Unsplash
Neues Lernen ist nicht nur digital. Photo by Joshua Eckstein on Unsplash

Lernen ist Geben und Nehmen von Wissen

Frau Thieme-Wagner, warum brauchen wir ein Neues Lernen?

Die Art und Weise, wie Menschen heute in Organisationen lernen, passt nicht mehr zu den Anforderungen einer zunehmend digitalisierten Arbeitsumgebung. Wenn Innovationszyklen und Umstrukturierungen in immer schnellerer Taktzahl bei den Mitarbeitern ankommen, brauchen wir ein Update fürs Lernen: Neues Lernen verstehe ich deshalb als gezielte Verbindung von bisher nicht strategisch verbundenen Elementen wie zum Beispiel formalen und informellen, individuellen und sozialen, digitalen und analogen Formaten. Im Grunde geht es um Lernen, das tatsächlich etwas in Unternehmen bewirkt: Wir können nicht auf Vorrat lernen, auch wenn wir hoffen, das heute Gelernte in ein paar Monaten noch parat zu haben. So funktioniert unser Hirn einfach nicht. Es geht vielmehr darum, wie wir kontinuierliches Lernen und eine Kultur des Gebens und Nehmens von Wissen in Organisationen entfachen.

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Will Menschen wieder zu mutigen Lernenden machen: Katrin Thieme-Wagner.

Funktioniert das in Unternehmen?

Leider meist nicht. Unternehmen optimieren und digitalisieren oft nur formales Lernen, anstatt sich Gedanken zu machen, was Lernen wirklich ist. Den gleichen Fehler, den viele Manager machen, machen auch die Personaler: Sie digitalisieren lediglich vorhandene Wertschöpfungsketten und Produkte und glauben jedoch, dass sie allein dadurch schon die Möglichkeiten der Digitalisierung voll nutzen. Neues Lernen ist mehr als digitales Lernen. Es reicht nicht, vorhandene Formate durch digitale zu ersetzen und das dann als Neues Lernen zu verkaufen.

Selbstbestimmtes Lernen

Was fehlt dann dabei konkret noch?

Es fehlt dabei an Konzepten, die Interaktion zwischen den Mitarbeitern zu aktivieren, um das Lernen wirklich an den Arbeitsplatz und in die konkrete Arbeit zu transferieren. Deswegen kommt so wenig im Arbeitsalltag an und das Business ist nicht zufrieden mit den heutigen Angeboten der Personalentwickler. Es fehlt Zutrauen von HR, dass die Experten selbst wissen, was sie brauchen und sich systematisch darüber austauschen können. Personaler sind dafür verantwortlich, die nötige Systematik und einen passenden Tool-Koffer bereitzustellen. Sie sollten aber die fachlichen Lerninhalte nicht mehr kontrollieren wollen.

Sind die Mitarbeiter schon auf diese Art des Neuen Lernens vorbereitet?

Nicht wirklich. Ein Teil des Problems ist, dass aktuell Studiengänge extrem verschult sind und dass den Studierenden ein Stück weit die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen abhanden gekommen ist. Das muss sich ändern. Wir müssen versuchen, die Menschen wieder zum mutigen Lernen, zum Ausprobieren zu bringen. Raus aus der Komfortzone, nicht immer tun, was alle machen, sondern das lernen, was zu mir passt!

Es fehlt oft an Konzepten, die Interaktion zwischen den Mitarbeitern zu aktivieren, um das Lernen wirklich an den Arbeitsplatz und in die konkrete Arbeit zu transferieren.
Katrin Thieme-Wagner, Haufe Akademie

Menschen, die lange Zeit nicht mehr gelernt haben, tun sich unabhängig vom Lernangebot besonders schwer damit. Gute Führungskräfte macht deshalb aus, dass sie zu einer selbstkritischen Standortbestimmung in der Lage sind. Feedback-Tools zum Abgleich von Selbstbild und Fremdbild sind dabei hilfreich. Damit können sie auch Mitarbeiter besser unterstützen, selbst herauszufinden, wo sie stehen, was sie künftig machen und was sie daher lernen wollen. Dabei geht es nicht um Karrierepfade oder ein formalisiertes Jahresgespräch, sondern um kontinuierlichen Austausch.

Regelmäßiges Feedback und offener Austausch sind entscheidend für die Standortbestimmung von Mitarbeitern.
Katrin Thieme-Wagner, Haufe Akademie

Wie sieht der künftige Lernbedarf genau aus? Wie kann man diesen ermitteln?

Unternehmen richten im Optimalfall den Fokus auf erfolgskritische Positionen. Welche Mitarbeiter mit welchen Kompetenzen und Skills werden sie in Zukunft brauchen? Auf dieser Grundlage gilt es, einzuschätzen: Wen hat das Unternehmen bereits an Bord und wer kann sich wo hin entwickeln? Ergibt sich daraus eine Über- oder Unterdeckung? Reicht die interne Qualifizierung nicht aus, ist der Blick auf den Arbeitsmarkt gefragt. Kann die Organisation mögliche Lücken mit Externen füllen und gewinnt es die auch für sich? Manchmal lohnt es sich auch, kurzfristig Mitarbeiter nur mit Basiskenntnissen zu rekrutieren und sie dann in ein bis zwei Jahren auf das gewünschte Niveau zu entwickeln. Aus diesen Überlegungen ergeben sich also erst die eigentlichen Lernbedarfe für die Zukunft.

Feedback bildet die Grundlage

Wie kann das Matching von Unternehmenszielen mit individuellen Entwicklungszielen gelingen?

Zunächst einmal müssen die Mitarbeiter wissen, was konkret ihr Beitrag zum Teamerfolg ist und was genau von ihnen verlangt wird. Gerade in immer fluideren Strukturen in agilem Umfeld ist das besonders brisant: Wechselnde Aufgaben bestimmen den Arbeitsalltag und treiben – dort, wo man sich früher noch an Rollenprofilen orientieren konnte – den Entwicklungsbedarf. Die Basis für die Beschäftigten ist eine Standortbestimmung. Wichtig ist hierfür eben ein systematisch erhobenes Selbst- und Fremdbild in Bezug darauf, wie gut sie heute schon ihre Aufgaben erfüllen, mit ihren Kollegen zusammenarbeiten und welchen Entwicklungsmöglichkeiten sie haben. Das funktioniert nur mit einer guten Feedbackkultur.

Unternehmenskultur, Empowerment der Mitarbeiter und Lern-Umgebung mit ihren Tools und Prozessen müssen miteinander im Einklang stehen.
Katrin Thieme-Wagner, Haufe Akademie

Ein Problem dabei: Zu oft operieren Führungskräfte und HR separat. Während die Führungskraft klassischerweise die Ziele vorgibt, unterstützt HR beim Lernen. Wenn Führungskräfte hingegen den Mitarbeitern herausfordernde Aufgaben geben, die ihren Interessen entsprechen und sich immer an der Grenze ihrer aktuellen Fähigkeiten bewegen, ergeben sich optimale Lernmöglichkeiten. Denn die Arbeit wird dabei erledigt und der Mitarbeiter lernt gleichzeitig etwas von allerhöchster Relevanz, ohne viel extra Zeit dafür zu benötigen.

Es kommt also auf ein neues Zusammenspiel aller Unternehmensplayer an?

Unternehmenskultur, Empowerment der Mitarbeiter und Lern-Umgebung mit ihren Tools und Prozessen müssen miteinander im Einklang stehen. Unsere Erfahrung hat gezeigt: Wenn alle drei Dimensionen berücksichtig werden, wird die Vision Neues Lernen Realität. Es zieht nicht, wenn Unternehmen zwar tolle, explorative E-Learning-Tools haben, aber die Lerner keine Selbstlernkompetenz mitbringen und es nicht gewohnt sind, mit digitalen Technologien umzugehen. Und auch die Unternehmenskultur muss dazu passen: Nur wenn Mitarbeiter und Führungskraft dem Lernen eine hohe Priorität einräumen, planen sie die nötigen zeitliche Ressourcen dafür ein.

Neues Lernen erfordert offene Unternehmenskultur

Was bedeutet das konkret für die Unternehmenskultur?

Stellen Sie sich vor, ein Mitarbeiter schaut sich ein Lernvideo am Arbeitsplatz an. Das sieht sein Chef und versteht nicht, dass er da in zwei Minuten etwas lernt, was ein akutes Problem für ihn löst. Führungskräfte und Personalentwickler sollten künftig mehr Entscheidungskompetenz abgeben und die Mitarbeiter zu Teilhabern ihrer eigenen Entwicklung machen. Wir sollten die Mündigkeit des Lernenden fördern, damit er selbstbestimmt sein Potenzial entfalten kann. Also eine Standortbestimmung ermöglichen und zielgerichtetes Lernen unterstützen. Lernen ist kein Event, sondern eine Reise. Es muss darum gehen, eine gute Mischung ganzheitlicher Lernangebote zu schaffen. So stellt dann der Lerner den Lernweg zusammen, der am besten zu ihm im Unternehmenskontext passt.

Neues Lernen ist die Antwort auf die Dynamik unserer Wirtschaft.
Katrin Thieme-Wagner, Haufe Akademie

Wieso ist Neues Lernen aus Ihrer Sicht so wichtig für die Zukunftsfähigkeit?

Unternehmen suchen nach Möglichkeiten, organisationale Fähigkeiten zu verbessern und sich einfacher und schneller an neue geschäftliche Herausforderungen anpassen zu können. Mit der Digitalisierung nimmt die Haltbarkeit des Wissens und Könnens aber ab und die Menge des relevanten Wissens ständig zu. Neues Lernen ist die Antwort auf die Dynamik unserer Wirtschaft.

Es ist daher wichtig, eine Haltung des Neuen Lernens zu etablieren. Lernen, so wie wir es im Moment in der Schule und auch in den Unternehmen praktizieren, ist ein kleiner Teil der persönlichen Weiterentwicklung. Wir sollten uns beim Lernen ein Beispiel an Kindern nehmen: Sie wollen auch so schnell sein wie die Großen und lernen „ganz nebenbei“ das Laufen, indem sie hinfallen und einfach immer wieder aufstehen. Sie entwickeln sich weiter, indem sie andere beobachten und nachmachen. Sie fallen oft auf die Nase, lassen sich dadurch aber nicht entmutigen. Sie wollen bestimmte Dinge unbedingt können – und kommen so ans Ziel.