New Work Organisationsentwicklung

New Work fürs Lernen

Bei Audi und Innogy wagen Personalentwickler ein Experiment: Sie möchten ein „Lernökosystem“ für ihre Unternehmen schaffen, das agil funktioniert und Lerner aktiv mit einbindet. Auf der Learntec in Karlsruhe berichteten sie über Chancen und Grenzen von derart „Neuem Lernen“.

Bücher allein reichen nicht beim betrieblichen Lernen.  Foto: Pixabay
Bücher allein reichen nicht beim betrieblichen Lernen. Foto: Pixabay

Betriebliches Lernen neu gedacht

„Weiß jemand was ein Lernökosystem ist oder hat schon Erfahrung damit?“, fragt Christian Böhler, Agile Coach von Innogy, zu Beginn einer Session des diesjährigen Learntec-Kongresses. Lediglich zwei Personen strecken die Hände in die Höhe. Mit diesem Ansatz sind Böhler und seine Co-Referenten Susanne Vehreschild und Patrick Zöbisch von der Audi Akademie offensichtlich Vorreiter: Gemeinsam arbeiten die Experten für digitales Lernen in ihren Organisationen daran, New Work mit betrieblichem Lernen zu verbinden.

Das Lernökosystem 2025 von Audi

„Ein Lernökosystem ist ein vernetztes und dynamisches Zusammenspiel von Menschen, Inhalten, Technologie und Formaten, das der Weiterentwicklung von Kompetenzen dient“, erklärt Patrick Zöbisch. Treiber ist eine Herausforderung, die viele Unternehmen beschäftigt: Wie können sie ihre Leute so weiterbilden, dass sie genau deren aktuellen und bestenfalls auch künftigen Bedarf adressieren – laufende Veränderungen im Geschäft inbegriffen. Klassische Präsenzseminare, zu denen Vorgesetzte Beschäftigte schicken, wollen nicht recht in die große Transformationsagenda passen, wie sie für die Automobil- und Energiebranche ansteht. Weiterbildung soll agiler werden und eine Partizipation der Lernenden zulassen, damit diese ihre Aufgaben tatsächlich besser bewältigen können. Vom „Moment of Need“ über die Formatentwicklung bis hin zum fertigen Lernprodukt – die Nutzer von Lernangeboten sind mitten drin statt nur dabei.

Die entscheidende Frage lautet: Wie können Unternehmen ihre Leute so weiterbilden, dass sie genau deren aktuellen und bestenfalls auch künftigen Bedarf adressieren – laufende Veränderungen im Geschäft inbegriffen.

Die erste Hürde dabei: Wie gelingt es, an die täglichen Lernanforderungen der User heranzukommen? Vor einem Jahr startete die Audi Akademie mit einem „Kreathon“: Zwei Tage lang konnten sich rund 100 Mitarbeiter – von Azubis und Praktikanten über Büro- und Produktionsmitarbeiter bis hin zu Führungskräften und Management – in einem interaktiven Workshop darüber austauschen, was für sie Lernen der Zukunft bedeutet. Im Wechsel von Reflexion und externen Impulsen ging es um konkrete Lernanlässe, aber auch solche, die über den bisherigen Alltag hinausgehen. „Wir haben Anwendungsszenarien beschrieben, wo ein Lernender sich gerade befindet, und gefragt, was er brauchen würde, um sein Problem zu lösen“, berichtet der Audi-Berater für digitale Lernformate Patrick Zöbisch. Völlig „out-of-the-box“ zu denken, was in den nächsten fünf Jahren bezüglich Methodik oder Technik wie KI passieren könnte, war ausdrücklich erwünscht. Mithilfe einer Video-Challenge, bei der die Teilnehmer ihre Ideen pitchen konnten, neutralen Beobachtern, die das Geschehen protokollierten, und Graphical Recording sammelten die Audi-Personaler viele User-Stories.

„Ein Lernökosystem ist ein vernetztes und dynamisches Zusammenspiel von Menschen, Inhalten, Technologie und Formaten, das der Weiterentwicklung von Kompetenzen dient“. Patrick Zöbisch, Audi
„Ein Lernökosystem ist ein vernetztes und dynamisches Zusammenspiel von Menschen, Inhalten, Technologie und Formaten“, sagt Patrick Zöbisch von Audi.

Einfach mal machen – leichter gesagt als getan

Doch was sollte sich damit konkret ändern? Einfach noch mehr Angebote und Formate schaffen? Das konnte nicht die Lösung sein. Die Personalentwickler arbeiteten zunächst in ihrer Projektgruppe an einem Strategiepapier. Schließlich sollte das zu entwickelnde Lernökosystem zur Unternehmensstrategie passen. Fünf Säulen der Lern- und Zusammenarbeitskultur hat die Projektgruppe dabei identifiziert, die im Wechselspiel das Lernökosystem 2025 von Audi bilden sollen: Technologien, Formate, Produkte & Services, Prozesse und Rollen.

Eine Projektgruppe bei Audi hat fünf Säulen der Lern- und Zusammenarbeitskultur identifiziert, die das Lernökosystem 2025 von Audi bilden sollen: Technologien, Formate, Produkte & Services, Prozesse und Rollen.

Nach der Freigabe des Strategiepapiers von Seiten des Managements sollte es direkt losgehen „Aber mit klassischem Projektmanagement stießen wir schnell an unsere Grenzen“, berichtet Patrick Zöbisch. Manche Ziele waren noch nicht klar formuliert, die nötigen Prozesse noch nicht vorhanden. Außerdem zeigte sich in einem Test-Sprint, dass das Projektteam selbst zum Loslegen noch zusätzliches Know-how in puncto Data Analytics, Programmierung und agilem Arbeiten brauchte.  

Der Lerntrichter: Lerngeschichten clustern und priorisieren

So ging das Projekt zunächst in eine Pilot-Phase, in der die PEler die User Stories in fünf Kategorien – sogenannten „Epics“ – clusterten, die heute eine wichtige Voraussetzung für das Audi-Lernökosystem darstellen: intelligente Suche, bedarfsgerechte Inhalte, Beratung beziehungsweise Lernunterstützung, Inspiration und laufende (Bedarfs-)Analyse. „Es gibt nicht den Standard-Lerner, der immer mit der gleichen Idee auf uns zukommt“, betont Projektleiterin Susanne Vehreschild. Die Personalentwickler kristallisierten acht Lernanlässe heraus, die im Unternehmen vorkommen: Fachkompetenzen aufbauen, Professionalisierung ausbauen, Horizonte erweitern, Verhalten etablieren, Persönlichkeit stärken, voneinander lernen, Wissen sofort finden sowie Arbeiten und Lernen verbinden.

Die Herausforderung bei Innogy: Viele Angebote im System, doch die Nutzer wussten oft nicht, wo sie nach konkreten Anforderungen suchen sollten.

Inzwischen steht das Projekt in den Startlöchern. Vieles ist dabei eine Frage der Priorisierung. Wo braucht das Unternehmen am dringendsten neue Kompetenzen? Schließlich soll die Weiterbildung wirklich einen Nutzen für Lerner und Business erzeugen. Die lange Anlaufphase rückt noch einen anderen Aspekt in den Vordergrund: Welche Use Cases lassen sich möglichst schnell umsetzen? „Im Moment ist es wichtig, dass wir erste Erfolge vorweisen“, so Susanne Vehreschild. „Dabei mussten wir ausbalancieren: Wann mache ich mein Tagesgeschäft und wann bin ich im Projekt – und wie passt das alles zusammen mit den Sprint-Zyklen? Das war herausfordernd.“

„One-Stop-Shops”: Lernreisen bei Innogy

Christian Böhler von Innogy konnte aus seinem eigenen Haus von ähnlichen Ansätzen und Erfahrungen berichten. Auf der Suche nach Lernangeboten, die einen wirklichen Kundenwert erzeugen und eine erfolgreiche Learning Experience gewährleisten sollen, stieß der HR-Experte auf ein zentrales Problem der Nutzer: Es gab zwar viele Angebote im System. Trotzdem wussten die User oft nicht, wo sie nach konkreten Anforderungen suchen sollten. „Deswegen kamen wir darauf, einen ‚One-Stop-Shop zu entwickeln: eine Lösung und einen Ort, wo Lerner alles finden können. Schon waren wir bei einer Art Lernökosystem – nur noch ohne geänderte Prozesse.“

Insert caption here...
Bei Innogy frage HR die MitarbeiterInnen, welchen Lernbedarf diese haben, so Agile Coach Christian Böhler.

Da es wenig Budget gab, legte HR einfach in Eigenregie los: Gemeinsam mit den Lernern entwickelte Innogy anhand von fünf strategischen Zukunftsthemen (digitale Transformation, Selbstorganisation, Resilienz, Change Management, Präsentationsfähigkeiten) in einer „Kunden-Arena“, die dem Audi-Kreathon ähnelte, eine neue Fokussierung: auf Learning Analytics, die Learner Experience und New Work generell. Bühler gelang es beispielsweise, Google Analytics für das Projekt einzusetzen: „Wenn man einen Nutzer fragt, was er braucht, kriegt man meist eine gefärbte Antwort“, hat der HR-Experte beobachtet. Der Vorteil von Datenanalysen: Nutzer geben einfach ihre konkreten Fragen ein. HR bekommt einen Einblick, was die Lernenden wirklich suchen und welche Fragestellungen sie haben – entpersonalisiert versteht sich. Dabei arbeitet Innogy agil: Alle zwei Wochen gibt es Reviews und Retros, streng nach Scrum Guide.

Innogy fokussiert auf fünf Zukunftsthemen: digitale Transformation, Selbstorganisation, Resilienz, Change Management, Präsentationsfähigkeiten

Wichtig sei es dabei vor allem, das Lernökosystem nicht auf die Technik zu reduzieren. Eine eierlegende Wollmilchsau ist ein Lernökosystem dennoch nicht, da waren sich die Referenten einig. „Keiner kann zum Startzeitpunkt sagen, wohin die Reise bei einem Lernökosystem genau geht, wie es am Ende aussieht und funktioniert. Aus dem Grund nähern wir uns schrittweise in Iterationen einer Vision an.“

Knackpunkt Lernkultur

Der größte Knackpunkt dabei scheint die Lern- und Unternehmenskultur zu sein. „Unsere Führungskultur hat sich schon dahingehend verändert, dass sich die meisten Führungskräfte als Servant Leader verstehen. Sie diktieren Lerninhalte nicht mehr von oben“, meint Böhler. Allerdings gebe es weiterhin Abteilungen, in denen das noch anders gehandhabt werde.

Die Lernkultur im Unternehmen entscheidet maßgeblich über Erfolg und Misserfolg neuer Ansätze.

Auch die Publikumsfragen legten nahe, dass es mit einer New-Work-Lernkultur noch in vielen Betrieben hapert. „Die Lernkultur ist ein wichtiger Aspekt – man kann sie nicht von heute auf morgen mit ein paar Seminaren entwickeln oder ändern“, ist Patrick Zöbisch überzeugt. Es gelte, Hierarchien aufzubrechen, die richtigen Leute zusammenzubringen, Strukturen und Prozesse dafür zu schaffen. „Vor allem müssen wir als Personalentwickler die Kultur selbst vorleben.“

 

Bei Innogy wird es damit vermutlich schwierig: Demnächst wird E.ON das Unternehmen übernehmen und mit dem Merger steht vermutlich auch die Innogy-Lernreise vor dem Aus. Doch Christian Böhler will weitermachen. Gemeinsam mit Audi-Kollege Zöbisch ruft er zur Vernetzung auf: „Neues Lernen ist keine Raketenwissenschaft, bei der man hochgeheime Daten teilt. Wir bieten einen Austausch an.“