Innovation Organisationsentwicklung

„Die Trampelpfade der Organisation lassen sich nicht wegentscheiden“

Interview Gibt es die menschliche Organisation? Was die formalen Strukturen und informalen Kräfte über Unternehmen verraten und warum wir uns nicht auf Führung verlassen können, darüber spricht Dr. Judith Muster von Metaplan im Interview.

Foto: Ankush Rathi @Pexels
Foto: Ankush Rathi @Pexels

In Ihrem Buch „Die Humanisierung der Organisation“ sagen Sie, der ganze Mensch gehe die Organisation nichts an. Wann und wie beanspruchen Unternehmen den ganzen Menschen?

Immer wenn Organisationsprobleme nicht anders gelöst werden können. Das können wir an Management-Moden wie Agilität beobachten. Wo es plausible Gründe gibt, Prozesse anders zu gestalten und Verantwortung auf der formalen Ebene anders zu verteilen, ist das richtig. Immer wieder funktioniert die Einführung von agilen Methoden aber nicht so wie gedacht. Die Frage lautet dann oft nicht mehr, was formal-strukturell noch nicht angepasst ist, also wo Zielkonflikte zwischen Developer und Vorstand entstehen, die über den nächsten Schritt ihrer Digitalstrategie entscheiden müssen. Vielleicht wird gar nichts entschieden, sondern nur behauptet, es fehle am agilen Mindset und an agil denkenden Leuten. Daran können wir erkennen, wann Probleme von Organisationen auf Personen geschoben werden und wann der ganze Mensch beansprucht wird.

Hart ins Gericht gehen Sie mit transformationaler Führung. Was ist das Problem?

Im Management-Diskurs kann der Ansatz der transformationalen Führung als Vehikel dienen, um Mitarbeitende oder Führungskräfte zu adressieren, um Trainings zu verabreichen und mehr intrinsische Motivation zu erzeugen. Das ist schon leicht übergriffig. Menschen sollen nicht nur ihren Job machen, sondern auch begeistert sein. Wenn das nicht funktioniert, ist nicht die Organisation schuld, sondern die Führungskraft. Menschen werden zur Führungskraft, weil sie der beste Chefredakteur oder die beste Ingenieurin sind, und nicht, weil sie die charismatischste Person sind. Sicherlich gibt es charismatische Führungskräfte, die mich intrinsisch motivieren. Nur kann ich nicht plötzlich von der besten Ingenieurin verlangen, in die Köpfe ihrer Mitarbeitenden einzusteigen. Führung ist ohnehin ein besonderes Organisationsproblem, laut Niklas Luhmann ein diffuses soziales Geschehen. So etwas will man eigentlich nicht in der Organisation haben.

Warum?

Man will Organisationen verregeln, Hierarchien aufbauen und die Dinge klären. Manchmal reicht weniger Hierarchie, um die Verantwortlichkeit in Teams zu legen. Auf ein diffuses soziales Geschehen will sich aber niemand verlassen, also etwa darauf, dass Führungskräfte spontan überzeugend sind und die Interaktion in Meetings mit den richtigen Argumenten dominieren. Um das zu regeln, gibt es Organisationen, sonst brauchten wir sie nicht. Transformationale Führung verlagert das Organisationsproblem auf die Führungskräfte und ihre Mitarbeitenden.

Führung ist ein besonderes Organisationsproblem, laut Niklas Luhmann ein diffuses soziales Geschehen. So etwas will man eigentlich nicht in der Organisation haben.

„Problemlösungen sorgen oft für Lösungsprobleme.” Was meinen Sie damit?

Strukturen sind die Form, in der Organisationen Probleme lösen. Wir schaffen Strukturen, weil wir Gefolgschaft wollen, Hierarchie, um Arbeit effizienter zu machen, Arbeitsteilung, weil wir gut miteinander arbeiten wollen, und Prozesse, damit Schnittstellen funktionieren. Immer wenn wir in einer Organisation ein Problem entdecken, entwickeln wir über formale und informale Strukturen eine Lösung, meist über formale Entscheidungen. Jede einzelne Lösung erzeugt jedoch Folgeprobleme, jede Strukturentscheidung hat Funktionen. Zum Beispiel können wir nicht Arbeit teilen und dabei keine Silos schaffen. In einer Hierarchie wiederum sind nur manche verantwortlich und andere nicht. Bei jeder Lösung lässt sich ein Fallproblem antizipieren.

Wie geht man mit diesen Lösungsproblemen um?

Oft ist der erste Schritt der Organisationsgestaltung wie die Arbeitsteilung schnell getan. Doch die Folgeprobleme, die dabei ausgelöst werden, bleiben unbeachtet. Luhmann würde sagen, der Lösung ist es egal, welche Probleme sie auslöst. Eine kluge Organisation entscheidet sich am Ende nicht für eine Lösung, sondern für die Folgeprobleme, die sie später managen kann. Die Silos könnte ich über bestimmte Prozesse überbrücken, aber ich sorge auch dafür, dass die Mitarbeitenden die Kompetenzen bekommen oder dass Expert:innen zum Beispiel in Gremien mitreden dürfen.

Eine kluge Organisation entscheidet sich am Ende nicht für eine Lösung, sondern für die Folgeprobleme, die sie später managen kann.

Die Verhältnisse schaffen das Verhalten. Nicht umgekehrt.

Etwas überraschend liest sich die Aussage, dass Silos hilfreich sein können. Was bringt es dem Unternehmen, wenn Menschen ihr Wissen horten und vor sich hinarbeiten?

Foto: Judith Muster
In Organisationen sollte nicht möglichst viel, sondern gezielt und möglichst wenig kommuniziert werden, meint Judith Muster. Foto: Klaus N. Nather

Wenn nicht mehr alle alles machen und wissen, schafft man durch Arbeitsteilung zunächst Effizienz. Wir könnten sonst keine komplexen Systeme bilden. In Organisationen sollte nicht möglichst viel, sondern gezielt und möglichst wenig kommuniziert werden. Und dafür gibt es Silos, das ist aber auch der umgangssprachliche Ausdruck für verhärtete Arbeitsteilung. Mit dem Nebeneffekt, dass Menschen ihr Wissen horten, weil sie sich besser auf ihre Expertise konzentrieren können. Effizienz und Expertentum sind gerade in der Wissensgesellschaft wichtig, doch sie haben Sollbruchstellen, die wir anders heilen müssen. Um das abzupuffern, wurde die Matrix erfunden. Welche Schmerzen so eine Organisation auslöst, ist jedoch ein anderes Thema…

Innovation müsse meist gegen Beharrungskräfte in der Informalität durchgesetzt werden, heißt es im Buch. Hindern uns nicht eher formale Strukturen daran, innovativ zu sein?

Entlang der formal-strukturellen Entscheidungen etabliert sich eine informale Organisation. Informalität ist nichts anderes als starke Erwartungsstrukturen, von denen man nicht genau weiß, wer sie entschieden hat, weil sie niemand entschieden hat. Die Trampelpfade der Organisation lassen sich nicht wegentscheiden. Häufig gibt es hier Beharrungskräfte, die man bei der Entscheidung für Innovation nicht berücksichtigt. Eine innovative Idee wird dann auf der informalen Seite zerrieben. Wir müssen uns genau überlegen, welche Verhältnisse wir auf der formal-strukturellen Ebene geschaffen haben, sodass sich diese informalen Erwartungsstrukturen etablieren konnten. Die Verhältnisse schaffen das Verhalten und nicht umgekehrt. Innovation muss ich auf der formal-strukturellen Ebene absichern. Dafür muss ich aber verstehen, was auf der informalen, organisationskulturellen Seite los ist. Man kann Informalität auch über Informalität ändern, das wäre allerdings eine Art Mobbing. Keine gute Organisationsgestaltung.

Informalität ist nichts anderes als starke Erwartungsstrukturen, von denen man nicht genau weiß, wer sie entschieden hat, weil sie niemand entschieden hat.

Wie können wir uns nun die humane Organisation vorstellen?

Am Ende beschreiben wir keine humane Organisation, sondern humanistisches Organisieren, ein Unternehmen so wenig übergriffig wie möglich zu gestalten. Das schaffen wir, indem wir die Last so gering wie möglich auf den Schultern der Menschen verteilen. Luhmann sagt, die bessere Organisation kann den Menschen entlasten. Die Führungsebene kann dafür sorgen, indem sie genaues Organisieren ernst nimmt und in der Verantwortung der Organisation sieht. Der genaue Blick auf das Verhältnis zwischen Mensch und Organisation führt zum humanen Organisieren. Und da gibt es immer wieder etwas zu tun.

Am Ende beschreiben wir keine humane Organisation, sondern humanistisches Organisieren, ein Unternehmen so wenig übergriffig wie möglich zu gestalten.

Ist Ihnen ein Unternehmen begegnet, wo die Führung human organisiert?

Kein Unternehmen ist zu hundert Prozent human. Ich kenne inzwischen einige Führungskräfte, die genau hinschauen und sich der Verantwortung nicht entziehen. Dort können wir eine andere Kultur erkennen. Organisationen verändern sich und nehmen die Last von den Schultern der Mitarbeitenden, selbst unter schwierigen Bedingungen.