New Work Organisationsentwicklung

Von Menschen und Rollen: Die Humanisierung der Organisation

Hier herrscht die Regelungswut. Dort wütet das pure Chaos. Einen Blick in das Innenleben von Organisationen bietet das Buch „Die Humanisierung der Organisation“. Es geht um nicht weniger als die Frage, wie Unternehmen Menschen gerecht werden.

Foto: Alexander Spatari
Foto: Alexander Spatari

Der Mensch ist das Kernproblem der Organisation. Oder doch nicht? Die Arbeit in Unternehmen wird durch zahlreiche Blockaden und Missverständnisse unnötig erschwert. In ihrem Buch „Die Humanisierung der Organisation“ (Vahlen, 2022) tauchen die Organisationssoziologin Dr. Judith Muster, der Wirtschaftsethiker Dr. Kai Matthiesen und der Journalist Peter Laudenbach in die Welt der Organisationen ein. Das Ergebnis ist ein kurzweiliger und tiefgründiger Einblick in den Unternehmensalltag.

Die Organisation zwischen Theorie und Praxis

Ein Compliance-Beauftragter lähmt den Betrieb durch seine Regelungswut. Gruppenleiter schreien ihre Mitarbeitenden an. Ein Vorstandsmitglied überredet Mitarbeitende mit Streuselkuchen zu Überstunden. Muster, Matthiesen und Laudenbach führen durch zahlreiche Beispiele aus dem Beratungsalltag. Dabei stellt sich heraus: Unternehmen sind besondere soziale Systeme mit eigenen Regeln und individueller Kultur, geprägt vom täglichen Wechselspiel von formaler Struktur und informalen Kräften.

Unternehmen sind besondere soziale Systeme mit eigenen Regeln und individueller Kultur, geprägt vom täglichen Wechselspiel von formaler Struktur und informaler Kräfte.

Organisationaler Alltag, Spannungen und Konflikte, Funktionslogiken und Folgen lassen sich nur an der Realität untersuchen. Doch dafür braucht es ein theoretisches Fundament. Die Autor:innen stützen sich auf die Organisationssoziologie, auf Begriffe und Theoriefiguren des Soziologen Niklas Luhmann. Ein gelungener Ansatz, der ihnen nach eigener Aussage erlaubt, „das bunte Organisationsgeschehen unter überraschenden, oft genug irritationsreichen Perspektiven zu beobachten.“

Der „ganze Mensch“ und das Konfliktfeld Familienunternehmen

Mitgliedschaft in einer Organisation und private Person sind zwei Paar Schuhe. Der „ganze Mensch“ taucht im Arbeitsvertrag nicht auf, er geht Organisationen nichts an, meinen die Autor:innen. Spannungen und Konflikte hätten ihren Ursprung nicht bei den Individuen, sondern in den Verhältnissen der Organisation. Oft genug versuche man, Probleme zulasten der Mitglieder zu personalisieren. Diese Schuldzuweisung hat nach Luhmann eine Entlastungsfunktion. Die Autor:innen fordern daher, nicht Personen und deren Motive oder Defekte zu betrachten, sondern die Eigenlogiken der Organisation. Eine Frage der Architektur?

Wenn der Vater die Geschäftsführung nicht abgibt oder Streit zwischen Familienmitgliedern im Aufsichtsrat entsteht: Die Grenzen zwischen Rollen und Personen sind in Familienunternehmen schwer bis unmöglich zu ziehen. Konfliktpotenziale können sich verstärken, manche Spannungen lassen sich schlicht nicht auflösen, das stellen die Autor:innen heraus. Sie fassen damit in Worte, woran viele Familienunternehmen – etwa bei der Unternehmensnachfolge – scheitern.

Das geräuschlose Regelwerk und der Regelbruch als Regel

Regeln wirken, weil wir sie kennen. „Das gut justierte Regelwerk zeichnet sich durch Geräuschlosigkeit aus“, beobachten die Autor:innen. Fehle Mitgliedern eine Struktur zur Orientierung, schafften sie sich selbst eine. Eine kluge Organisation stellt eine formale Ordnung her, in der die richtigen Leute in Führung gehen, schreiben die Autor:innen. Diese Führung kitte die Regelungslücken der Organisation, sofern sie mit hinreichenden Führungsmitteln versorgt sei.

Eine kluge Organisation stellt eine formale Ordnung her, in der die richtigen Leute in Führung gehen. Diese Führung kittet die Regelungslücken der Organisation.

Nicht alles lässt sich jedoch formal regeln. Kein Unternehmen übersteht auf Dauer den Dienst nach Vorschrift. Hier führen die Autor:innen einen Begriff von Luhmann ins Feld: “brauchbare Illegalität”. Das ist der Regelverstoß, der der Organisation mindestens in Teilen nützt. Laut den Autor:innen ist sie die Reaktion auf Probleme und Anreize, die von der Formalstruktur geschaffen wurden. Mitglieder erleichtern damit die eigene Arbeit, aber halten auch die Organisation funktionsfähig. Hat die brauchbare Illegalität zu viel Raum, beraube sie die Organisation der Fähigkeit, sich zu modernisieren, Abläufe zu kontrollieren und Veränderungen zu steuern.

Was das bedeutet, verdeutlichen die Autor:innen anhand eines Beispiels: Arbeiter einer Gießerei setzten sich wiederholt über Sicherheitsregeln hinweg, um Zeit zu sparen und die Produktion voranzutreiben. Die Folge waren zahlreiche Arbeitsunfälle. Die Lösung lag nicht etwa darin, Coachings anzuordnen und an das Verantwortungsbewusstsein sowie die Regeltreue zu appellieren. Sie lag vielmehr darin, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Konditionen des risikohaften Eingriffs zu bestimmen: also die physische und rechtliche Sicherheit für die Arbeiter zu gewährleisten.

Der schielende Vorstand: Managementmoden und echte Veränderung

Nun bitte aufpassen, liebe Vorstände und Geschäftsführende: Spannungen und Widersprüche – so die Autor:innen – lassen sich als Ressource nutzen, wenn man sie als unvermeidliche Folge der in der Organisation angelegten Zweckwidersprüche versteht. Führung muss solche Widersprüche bearbeiten, meinen die Autor:innen. Keine erzwungene Harmonie oder einseitig aufgelöste Widersprüche. Der Vorstand schielt zwischen konkurrierenden Zwecken in der Organisation.

Management-Methoden, die darauf zielen, die Grenzen zwischen Mensch und Organisation einzureißen, sind nichts anderes als Anleitungen zur Übergriffigkeit.

Das neue Buch von Dr. Kai Matthiesen, Dr. Judith Muster und Peter Laudenbach.
Das neue Buch von Dr. Kai Matthiesen, Dr. Judith Muster und Peter Laudenbach. Erschienen bei Vahlen (2022).

Eine harte Ansage machen die Autor:innen an Management-Moden: transformationale Führung etwa wolle Vorgesetzte zu beweglichen und anpassbaren „Playmobil-Figuren“ machen. Mitarbeitenden gestehe sie keine Barrieren zu und sie instrumentalisiere persönliche Loyalität als Motivationsverstärker. Das Urteil: „Management-Methoden, die darauf zielen, die Grenzen zwischen Mensch und Organisation einzureißen, sind nichts anderes als Anleitungen zur Übergriffigkeit“.

Ähnlich kritisch sehen die Autor:innen Schlagworte wie „Netzwerk-Organisation“, „Agilität“ oder „Purpose Driven Organization“. Damit legen sie den Finger in die Wunde der (neuen) Arbeitswelt: Keine Problemlösung kommt ohne Lösungsprobleme. An echter Veränderung führt kein Weg vorbei. Entpuppt sich ein Call for Purpose als bloßes Führungsinstrument, um Defizite zu kaschieren oder Motive zu verschleiern, behalten Muster, Matthiesen und Laudenbach sicherlich Recht. Allen aufstrebenden Unternehmen, die Arbeit wirklich neugestalten, werden sie damit aber nicht gerecht.

Die Humanisierung als Eigenleistung?

Führung hat Widersprüche und Paradoxien zu entfalten und daraus zu lernen. Organisation lassen sich durchschauen, aber nicht unbedingt verändern. Nichts sei gefährlicher für eine Organisation, als die Mitgliedschaft nicht wirksam und konsequent an Bedingungen zu knüpfen. Nicht jede Organisation ist reformierbar. Nicht jedes Problem hat eine Problemlösung. Das sind gravierende Erkenntnisse, die nicht in jeder Führungsetage gut ankommen.

Nicht jede Organisation ist reformierbar. Nicht jedes Problem hat eine Problemlösung.

Zwischen der Person und dem Mitglied zu unterscheiden, ist laut Muster, Matthiesen und Laudenbach nicht unmenschlich, sondern entlastend. Wer dem Menschen gerecht werden wolle, dürfe ihn lediglich in seiner beruflichen Funktion, seinen formalen Pflichten als Mitglied beanspruchen. Alles andere, die Person, der „Großteil des Wesens“ gehe die Organisation nichts an: Der Mensch bleibt draußen. Die Antwort auf die Frage nach der Humanisierung könnte schließlich auch aus der Architektur stammen: Sie ist eine „Eigenleistung der klug gebauten Organisation“.

Fazit

Eine lebhafte Erzählung und eine fundierte Rahmung machen „Die Humanisierung der Organisation“ zu einer aufregenden Reise in die bekannte und unbekannte Welt der Organisationen. Wer unter der Arbeit im Unternehmen leidet, wer das alltägliche Chaos, die Missverständnisse und Komplexe eines Unternehmens kennt oder wer einfach nur besser verstehen will, wie Organisationen funktionieren: Allen denen sei das Buch von Matthiesen, Muster und Laudenbach als Pflichtlektüre empfohlen.