Organisationsentwicklung Agilität

Kein Spiel ohne Regeln – agiles Arbeiten im Start-up Kolibri Games

Ein Nine-to-Six-Job, keine Gespräche am Arbeitsplatz und fest geregelte Pausenzeiten – wieso ausgerechnet ein Start-up sich für diesen Büroalltag entschieden hat.

Wer die Krone trägt, trägt bei Kolibri Games die Verantwortung für den erfolgreichen Abschluss eines Sprints.
Wer die Krone trägt, trägt bei Kolibri Games die Verantwortung für den erfolgreichen Abschluss eines Sprints.

90 Menschen, ein Großraumbüro. Was klingt wie ein radikales Wissenschaftsprojekt, an dem am Ende die schauerlichsten Abgründe menschlicher Zusammenarbeit zu Tage gefördert werden, ist bei Kolibri Games täglicher Büroalltag. Das Spieleentwickler-Unternehmen befindet sich im 16. Stock eines ehemaligen Postbank-Hochhauses in Berlin Kreuzberg. Der Altersdurchschnitt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter liegt bei 28 Jahren. In den Kühlschränken des großen Aufenthaltsraums, der das erste ist, was Besucher und Mitarbeiter von der Firma sehen, stehen Club-Mate-Flaschen und belgisches Bier. Alles bei Kolibri schreit nach Start-up. Aber ein Großraumbüro für 90 Menschen, geht das nicht zu weit? „Das hat sich mit der Zeit so entwickelt“, sagt Tom Weber, der für das Unternehmen die PR-Arbeit erledigt. „Am Anfang, vor drei Jahren, haben die Gründer noch in einem Zimmer in ihrer WG zusammengearbeitet. Die Firma ist gewachsen, das Arbeiten in einem Raum wollten sie beibehalten.“

Im Großraumbüro von Kolibri Games wird nicht geredet.
Im Großraumbüro von Kolibri Games wird nicht geredet.

Schritt für Schritt zur Goldmine

Einer dieser Gründer ist Daniel Stammler. Gemeinsam mit Janosch Sadowski, der das Start-up ebenfalls mitgegründet hat, ist er Co-CEO des wachsenden Unternehmens. Vergangenes Jahr hat das Start-up nach eigenen Angaben circa 38 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet. Dass eine Firma, die ein kostenloses Mobile-Game herausbringt, so lukrativ sein kann, war Daniel Stammler und seinen vier Gründer-Kollegen von Anfang an bewusst. Sie alle waren selbst Spieler und kannten sich durch ihr Studium am Karlsruher Institut für Technologie. „Wir wollten gründen, haben uns den Gaming-Markt angeschaut und gemerkt, dass wir dort eine große und nachhaltig erfolgreiche Firma gründen können.“ Das erste Spiel, das ihre Firma, die zu Beginn noch Fluffy Fairy Games hieß, herausbrachte, heißt Idle Miner Tycoon. Ein Handyspiel, bei dem die Spielerinnen und Spieler nach und nach ein Minenimperium aufbauen.

Szenen aus dem Mobile Game Idle Miner Tycoon
Szenen aus dem Mobile Game Idle Miner Tycoon

Ganz ähnlich sind auch die Gründer vorgegangen. Von einem fertigen Produkt war ihr Spiel vor drei Jahren noch weit entfernt. Das hat die Entwickler nicht davon abgehalten, damit auf den Markt zu gehen. Idle Miner Tycoon wurde bereits nach acht Wochen, als Minimum Viable Product (MVP), released.  Seitdem wird das Spiel in wöchentlichen Sprints erweitert und verbessert – immer unter der Einbeziehung des Kundenfeedbacks. Die Zusammenarbeit in dem Start-up ist auf diesen Rhythmus ausgelegt. Daniel Stammler bezeichnet das einen Lean Approach. „Lean bedeutet für uns, schnell und effizient zu sein. Wir schaffen es, wöchentliche Updates zu machen, was sonst fast keine Spielefirma schafft“, sagt der Co-CEO. Wie das gelingen kann? Durch strenges Aussortieren und Entscheiden. „Wir möchten nur Sachen in das Spiel einbauen, die wirklich notwendig sind.“ Diese Radikalität schlägt sich auch in der Zusammenarbeit nieder, angefangen beim Großraumbüro.

Radikale Zusammenarbeit

Der Raum, der ein Viertel der Bürofläche des Unternehmens einnimmt, hat keine Ähnlichkeit mehr mit einem WG-Zimmer in einer Studentenbude. Das langgezogene Office erinnert vielmehr an eine Unibibliothek. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sitzen Seite an Seite in hintereinander gezogenen, langen Tischreihen. Es herrscht absolute Stille. „Im Großraumbüro sprechen wir nicht miteinander, denn das stört natürlich“, sagt Tom Weber. E-Mails sind bei Kolibri Games kein präferiertes Kommunikationsmittel. Für kleine Abstimmungen gibt es ein Chat-Tool, alles andere sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter direkt mündlich miteinander klären. Für Gespräche verabreden sich die Teams im Aufenthaltsraum und in den 15 kleinen Büroräumen, die nur durch einen langen Gang vom Großraumbüro entfernt sind.

Das Großraumbüro von Kolibri Games
Das Großraumbüro von Kolibri Games

Kommunikation, das betont Daniel Stammler, spiele bei der täglichen Zusammenarbeit bei Kolibri Games eine wichtige Rolle. „Wir arbeiten mit ganz typischen Scrum-Elementen wie Daily Stand-ups.“ Die Teams sind in kleine Einheiten aufgeteilt und werden jeweils von einer Führungsperson gemanagt. Der Arbeitstag folgt immer dem gleichen Takt: 8.45 – 9 Uhr: Ankommen; 11.45 – 12 Uhr: Mittagessen bestellen; 12.45 – 13.30 Uhr: Mittagessen; 13.30 – 13.45 Uhr: Teambesprechung; 18 Uhr: Feierabend. Warum? „Wir denken, es schadet der Kommunikation, wenn die Mitarbeiter zu unterschiedlichen Zeiten arbeiten. So können sie immer sicher sein, dass die Person, mit der sie sprechen wollen, erreichbar ist. Gleichzeitig schaffen wir es durch einen kontinuierlichen Rhythmus, Überstunden zu vermeiden“, sagt Daniel Stammler.  

Das Prinzip des Critical Path Thinking

Welchen Stellenwert Geschwindigkeit bei Kolibri einnimmt, zeigt sich in einem recht skurrilem Tool: einer großen roten Krone, die auf einem der Tische im Großraumbüro liegt. Dahinter verbirgt sich das Prinzip des Critical Path Thinking, das Nate Barker, Director of Business Development bei Kolibri Games in einem Blogbeitrag so beschreibt: „Actually, the crown signifies that the one wearing it is a ‘Critical Path’ blocker for our process, and a successful release of the latest version of our game depends on them finishing this critical task. It tells others to leave the wearer undisturbed and help them whenever possible. This is one of the many ways in which Kolibri Games has developed a business culture that emphasizes personal ownership.” Denn personal ownership bedeute, dass jeder Mitarbeiter dafür verantwortlich ist, die Ideen, die im disruptiven Gaming-Geschäft so wichtig sind, entstehen, geplant und ausgeführt werden können.

Hinter der Krone verbirgt sich das Prinzip des Critical Path Thinking.
Hinter der Krone verbirgt sich das Prinzip des Critical Path Thinking.

Dass diese Sichtweise auch Druck erzeugt, ist Daniel Stammler klar. „Wenn man so einen geschwindigkeitsorientierten Prozess hat wie wir, ist das eine grundsätzliche Herausforderung. Ich glaube aber, wir managen das ganz gut. Wir machen zum Beispiel kaum Überstunden. Es ist völlig in Ordnung, wenn die Person, die die Krone aufhat, abends trotzdem pünktlich nach Hause geht.“ Die Krone werde niemanden auf den Kopf gesetzt, sondern ist neben den täglichen Besprechungen ein weiteres Tool, mit dem die Teammitglieder ihre Arbeit koordinieren können. Auf der anderen Seite sei ein gewisser Druck wichtig, findet Daniel Stammler, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich auf die wirklich wichtigen Aufgaben konzentrieren. Die richtige Balance zu finden, und auf die Wünsche und Bedürfnisse der Mitarbeiter einzugehen, das sei die Aufgabe der jeweiligen Team-Manager.

Klare Hierarchien - kleine Teams

Das bedeutet wiederum, dass es bei Kolibri Hierarchien gibt. „Am Anfang, als wir zehn oder zwölf Leute waren, hatten wir relativ unklare Hierarchien“, erzählt Daniel Stammler. Mit der Zeit habe sich aber herausgestellt, dass die Mitarbeiter Ansprechpersonen brauchen, zum Beispiel, um Urlaubstage abzusprechen. „Dann haben wir angefangen, Führungsebenen und Führungslinien klarer zu machen.“ Bei Kolibri gibt es ein C-Level, ein Diretor-Level und ein Teamlead für die größeren Teams. Alle weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden als Individual Contributors bezeichnet. „Eine Person sollte nie mehr als sieben oder acht Direct Reports haben“, sagt der Co-CEO. Sonst könne die Führungskraft sich nicht mehr gut genug um alle Teammitglieder kümmern. „Führen bedeutet für mich, dass man es den Mitarbeiter ermöglicht, die bestmögliche Performance zu bringen. Es liegt in der Verantwortung der Führungskraft, dafür zu sorgen, dass der Mitarbeiter glücklich und gleichzeitig erfolgreich ist“, sagt Daniel Stammler im New-Management-Interview.

Aber haben die Mitarbeiter in so einem reglementierten Umfeld genug Raum, um selbstbestimmt und agil arbeiten zu können? Die Selbstbestimmung, so sehen es die Kolibri-Leader, bestehe darin, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter für die eigene Arbeit und das ganze Vorankommen des Produktes Verantwortung übernimmt. Glücklich und erfolgreich seien die Mitarbeiter dann, wenn sie am Ende einer durchgepowerten Woche direkt das Ergebnis ihrer Arbeit sehen könnten.

„Wir versuchen, unsere Arbeit sehr transparent zu machen.“
Co-CEO Daniel Stammler

Trotzdem: Strenge Kommunikationsregeln, ein überdimensionales Großraumbüro, feste Arbeitszeiten, wöchentliche Sprints – spricht dieses Arbeitskonzept junge Arbeitskräfte überhaupt an? „Wir versuchen, unsere Arbeit sehr transparent zu machen. Wir schreiben zum Beispiel darüber. Entsprechend hoffe ich, und das erwarte ich auch von den Bewerbern, dass sie sich damit auseinandersetzen“, sagt Daniel Stammler. Das Unternehmen erhalte wöchentlich bis zu 100 Bewerbungen. „Es gibt Leute, die möchten in genau so einer Atmosphäre, in der es schnell vorangeht und Dinge sich schnell ändern, arbeiten. Dann gibt es Leute, die nicht agil arbeiten möchten und lieber vier Wochen lang eine Sache abarbeiten. Das ist völlig in Ordnung, passt aber nicht zu uns als Firma.“

Dass klare Strukturen und Autoritäten gerade von der jungen Generation, die jetzt den Arbeitsmarkt betritt, nicht abgelehnt und sogar bevorzugt werden, geht unter anderem aus der Forschung von Professor Susanne Böhlich von der IUBH Internationalen Hochschule hervor. Ihr zufolge legten Arbeitnehmer in Alter von 20 bis 25 Jahre außerdem Wert auf eine klare Trennung zwischen Frei- und Arbeitszeit.

Das Team wird zum Recruiter

Im Aufenthaltsraum können sich die Mitarbeiter auf ein Gepräch treffen.
Im Aufenthaltsraum können sich die Mitarbeiter auf ein Gepräch treffen.

Diese Trennung – trotz der klaren Arbeitszeiten – gibt es bei Kolibri Games allerdings nicht: viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Start-ups sind laut Daniel Stammler privat miteinander befreundet und leben zum Teil in Wohngemeinschaften miteinander. Kommen neue Leute ins Unternehmen, legen die Gründer großen Wert auf den Teamfit. Deshalb werden passende Bewerberinnen und Bewerber für zwei Tage in das Start-up eingeladen, damit das ganze Team sich einen Eindruck von den potentiellen neuen Mitarbeitern machen kann. „Wenn eine Person aus dem Team sich gegen die Einstellung ausspricht, dann wird der Bewerber nicht eingestellt. Wir wollen keine Gräben im Team haben“, sagt Daniel Stammler. „Am Anfang durften sogar alle Mitarbeiter entscheiden, wer neu eingestellt wird. Bei 90 Leuten ist das nicht mehr pragmatisch sinnvoll.“ Das Miteinander wird in gemeinsamen Team-Events gepflegt. Im vergangenen Sommer ist das ganze Unternehmen für eine Woche nach Teneriffa gereist. „Hier sind viele Leute miteinander befreundet, weil sie das gleiche Alter haben, und weil viele für den Job nach Berlin gezogen sind“, sagt Daniel Stammler. Dass er als Co-CEO mittlerweile nicht mehr jeden blöden Spruch zu seinen Mitarbeitern, die seine Freunde sind, sagen kann, ist ihm bewusst. Unnahbar möchten er und seine Mitgründer trotzdem nicht werden. „Wir sitzen genau wie alle anderen im Großraumbüro und sind für alle Fragen offen.“

Ende nächsten Jahres wollen die Kolibris bereits in ein neues Büro ziehen, denn jeden Monat stoßen neue Mitarbeiter dazu. In den vergangenen drei Jahren hat das Start-up zwei Mobile Games auf den Markt gebracht und seitdem in wöchentlichen Sprints erweitert. Nach und nach sollen weitere Spiele folgen. Ob alle Arbeitsweisen und Methoden, die sie sich mit der Zeit erarbeitet haben, in ein paar Monaten immer noch funktionieren, können die Gründer nicht sagen. Daniel Stammlers Konstante? „Für mich ist es wichtig, dass die Mitarbeiter gerne zur Arbeit gehen und dass sie wissen, dass wir hier etwas erreichen wollen, nämlich den Spielemarkt langfristig zu verändern.“