New Work Selbstorganisation

„Wir müssen weg von der Rolle des allwissenden Kontrolleurs“

Interview Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf, Direktorin Corporate Communications und Corporate HR bei B. Braun, hat in ihrem Verantwortungsbereich eine neue Form der Führung initiiert. Mehr Agilität und Selbstverantwortung waren der Anfang, das Organigramm aufzubrechen das Ziel.

Viel Platz für kreativen Austausch und effiziente Entscheidungsfindung bei B. Braun
Viel Platz für kreativen Austausch und effiziente Entscheidungsfindung bei B. Braun

Ziel: Agilität und Selbstorganisation

Die B. Braun Melsungen AG, ein Unternehmen für Pharma- und Medizinbedarf mit Sitz in Hessen, hat einen Transformationsprozess hin zu mehr Selbstorganisation gestartet. Initiatorin Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf führt seit 20 Jahren die Abteilung Unternehmenskommunikation mit 35 Mitarbeitern. 2017 kam noch die Verantwortung für Corporate HR mit 22 Mitarbeitern hinzu. Wir sprachen mit ihr über das Pilotprojekt in den beiden Abteilungen und wie es damit weitergeht.

Will Mitarbeitern mehr Freirum und mehr Perspektiven geben: Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf   Foto: B. Braun
Will Mitarbeitern mehr Freiraum und mehr Perspektiven geben: Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf Foto: B. Braun


Frau Dr. Tillmanns-Estorf, im Februar 2017 fiel in Ihren Abteilungen der Startschuss für eine neue Art der Zusammenarbeit und Führung. Warum sahen Sie hier Änderungsbedarf? 

Der HR-Bereich und die Unternehmenskommunikation müssen sich komplett neu erfinden. Alles um uns herum wandelt sich sehr schnell, die Arbeitswelt insgesamt und auch wir selbst. Alle administrativen Bereiche verändern sich jedoch langsamer als der Rest. Deshalb habe ich nach einem neuen Weg der Zusammenarbeit gesucht, der zu B. Braun passt. Ich wollte mehr Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter erreichen, aber auch Transparenz und einen engeren Austausch zwischen Abteilungen und Teams. Außerdem habe ich schon immer Möglichkeiten vermisst, den Mitarbeitern mehr Perspektiven zu bieten. In relativ kleinen Abteilungen mit klassischem Organigramm sind die Entwicklungsstufen nach oben ja sehr begrenzt.

Von Holacracy und Design Thinking bis Scrum

Eine Beratung hat uns auf dem Weg gecoacht und Ansätze wie Holacracy, Design Thinking und Scrum ins Spiel gebracht. Wir haben diese aber nicht als enge Modelle verstanden, sondern als Methodenkoffer. Es ging uns zunächst darum, Führungsrollen in den Teams neu zu verteilen und herauszufinden, was die Mitarbeiter dafür lernen müssen. Unseren Ansatz nennen wir heute „Tasks and Teams“.

Ich habe schon immer die Möglichkeit vermisst, den Mitarbeitern mehr Perspektiven zu bieten.
Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf
Tasks & Teams
„Tasks and Teams“ ist eine selbstorganisierte, agile Form der Zusammenarbeit, die sich durch hohe Eigenverantwortung, Transparenz und Vertrauen auszeichnet. Zusammenarbeit wird nicht mehr durch Hierarchien gestaltet, sondern durch Rollen und Verantwortlichkeiten in Kreisen. Das Ziel von Tasks and Teams ist es, über funktionale Silos hinweg das beste Team für eine bestimmte Aufgabe zu finden.
Das Buch erscheint am 9. Oktober

Was waren die ersten Schritte der Veränderung?

Wir haben mit einem Kick-off für beide Bereiche, Corporate HR und Corporate Communications, begonnen. Die einzige Vorgabe war: transparenter sein, besser zusammenarbeiten, weniger Silos und mehr Vernetzung – kurz, wir wollten das Organigramm-Denken aufbrechen. Jeder war eingeladen, daran mit zu arbeiten. Wir wussten also nicht, was dabei herauskommt. Wir haben Dinge angestoßen, ohne genau zu wissen, wohin die Kugeln rollen.

Zunächst haben wir sogenannte Kreise gebildet. Das sind Teams mit zentralen Themen wie das Selbstbild, das Selbstverständnis oder der Zweck der Abteilung. Das haben wir früher im Leitungskreis besprochen und dann erst mit den Mitarbeitern. Jetzt habe ich den „Purpose“ beider Abteilungen in den Kreisen zur Diskussion gestellt. Ein weiterer Kreis heißt „Koordination“ und kümmert sich darum, wie Projekte und Aufgaben innerhalb der Bereiche verteilt werden. Das muss Hand in Hand mit dem „Purpose“ gehen, weil die Priorität einer Aufgabe davon abhängt, ob sie auf den Zweck einzahlt. Von Anfang an gab es auch ein sogenanntes Trafo-Team. Das waren gewählte Repräsentanten der Abteilungen, die den Prozess der Selbstorganisation begleiten und Fragen, Gedanken und Ängste der Mitarbeiter an die Bereichsleitung rückkoppeln.

Das hört sich so an, als wären Sie am Anfang nur noch in Meetings und am Kreise bilden gewesen. Sind dabei nicht operative Aufgaben liegen geblieben?

Wenn man ein derartiges Projekt startet, ist das am Anfang mehr Aufwand. Man muss auch nicht weniger definieren als in der alten Form der Zusammenarbeit, sondern im Gegenteil. Dinge, Prozesse, Rollen und Verantwortlichkeiten müssen eher noch klarer beschrieben werden als in einer klassischen Hierarchie, die sich über Jahrzehnte eingespielt hat. Bei dieser neuen Form der Zusammenarbeit entsteht sehr viel Freiraum. Und damit ergeben sich neue Fragen oder zumindest Gesprächsbedarf.

Mehr Freiraum bedeutet natürlich auch mehr Verantwortung. Damit kommen manche Mitarbeiter besser zurecht als andere.
Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf

Wir sind aber auch schnell in die Projektarbeit gegangen. In Communications gibt es zum Beispiel einen Kreis „Event“, der die Veranstaltungen eines Jahres konzipiert. Früher war ich bei vorstandsrelevanten Meetings immer dabei. Jetzt geben der Vorstandsvorsitzende und ich nur die Richtung vor, und der Kreis „Events“ kann selbst bestimmen, wie er die definierten Ziele erfüllt. Das gibt den Mitarbeitern Freiräume, setzt Kreativität frei und bringt für mich und auch für andere Führungskräfte mehr Effizienz.

Kamen Mitarbeiter und Führungskräfte von Anfang an gut mit den Freiräumen zurecht?

Viele Mitarbeiter haben diesen Raum zur Entfaltung gleich erkannt und auch genutzt. Aber das bedeutet natürlich auch mehr Verantwortung. Und da tun sich manche schwerer als andere. Für die Führungskräfte hat dieser Weg die größte Veränderung mit sich gebracht. Da hat es schon welche gegeben, die mich unter vier Augen gefragt haben, „Wozu werden wir in Zukunft noch gebraucht?“.

Führungsrollen verändern sich stetig 

Was haben Sie geantwortet?

„Ich weiß, dass ich Sie brauche, aber ich weiß noch nicht genau wofür.“ Die Führungsrolle wird sich weiter verändern – und das betrifft mich genauso. Ich kann ja so einen Prozess nicht starten und sagen, bei mir als Bereichsleiterin bleibt alles beim Alten. Ich kann mir etwa nicht mehr vorbehalten, dass ich alles selbst entscheiden möchte. Wir haben Entscheidungsprinzipien definiert. Und meine Führungskräfte und ich sind sehr tapfer diesen Weg mitgegangen. Es gab Phasen, in denen die Mitarbeiter sagten, Führungskräfte brauchen wir nicht mehr, das kriegen wir alles selbst hin. Doch jetzt sieht unser Modell vor, dass wir Führung in einem klar definierten Rahmen haben.

Das Thema Priorisierung von Projekten bleibt akut, und hier hat die Führungskraft eine Schutzfunktion für die Mitarbeiter.
Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf

Könnten Sie da mal ein Beispiel nennen, was eine Führungskraft jetzt macht?

Die Führungskraft haben wir sehr stark als Enabler und Coach definiert. Führungskräfte sollten Mitarbeiter bei der Bewältigung ihrer Aufgaben begleiten – zum Beispiel mit einem Ratschlag, wie man ein Projekt aufsetzt oder wie man Dinge in einer Präsentation vermittelt. Da hat die Führungscrew weiterhin eine starke Rolle. Die Führungskraft hat auch noch das letzte Wort, wenn es um die Priorisierung von Projekten geht. Mit „Tasks and Teams“ leisten wir eine Vorarbeit für die Koordination. Aber wenn Sie etwa ein Team haben, das bis über beide Ohren in Arbeit steckt, kann man nicht noch fünf andere Projekte draufpacken. Oder es gibt auch Abstimmungsbedarf, wenn sich jemand für ein Projekt meldet, obwohl er eigentlich woanders gebraucht wird. So stellt sich das Thema der Priorisierung weiterhin und da hat eine Führungskraft eine Art Schutzfunktion für die Mitarbeiter.

Mitarbeiter haben nun viel mehr mitzureden.   Foto: B. Braun
Mitarbeiter haben nun viel mehr mitzureden. Foto: B. Braun

Was passiert, wenn sich niemand für ein Projekt meldet?

Wir haben zum Beispiel einen Fotowettbewerb gemacht und jetzt müssen Besprechungsformeln mit Bildern ausgestattet werden. Auf das Thema fahren meine Mitarbeiter nicht so ab, aber es muss gemacht werden. Die Aufgabe habe ich ausgeschrieben und wenn sich da niemand meldet, dann muss halt jemand benannt werden.

Und dann kommen doch die Führungskräfte wieder ins Spiel.

Ja, und das war explizit ein Wunsch der Mitarbeiter. Das war für die Führungskräfte entspannend zu sehen, dass die Mitarbeiter sich diese Rolle wünschen, so dass sich ihre Existenzangst vom Anfang teilweise als unbegründet erwies. Als Bereichsleitung habe ich auch ein Veto, falls völlig abstruse Entscheidungen getroffen werden. Das ist bisher, ich klopfe auf Holz, noch nie eingetreten. Das Veto war aber auch keine Idee von mir. Ich bin keine Verfechterin davon, alles zu definieren, was passieren könnte. Die meisten Dinge, die wir da beschreiben würden, treffen dann gar nicht ein. Aber für viele Mitarbeiter war dieses Thema Eskalation und Veto der Bereichsleitung wichtig.

Unsere Mitarbeiter wünschen sich ausdrücklich Führungskrafte. Deren anfängliche Existenzängste waren unbegründet.
Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf

Wie treffen denn die Mitarbeiter in den Projekten die Entscheidungen?

Wir haben verschiedene Entscheidungsprinzipien, zum Beispiel Konsens, Konsent oder konsultativer Einzelentscheid. Bevor ein Kreis seine Arbeit aufnimmt, wird definiert, welche Entscheidungsprinzipien dieser Kreis-Arbeit zugrunde liegen sollen. In der Praxis ist das aber meistens gar nicht so wichtig. Da kommt das Team einfach im Konsens zu einer Empfehlung.

Ein Kritikpunkt von New-Work-Skeptikern lautet, dass diese Entscheidungsprozesse länger dauern würden, weil viel diskutiert wird, bis man zu einem Ergebnis kommt. Können Sie das auch bestätigen?

Am Anfang haben wir länger gebraucht, weil wir uns zusätzlich zum Tagesgeschäft mit uns selber beschäftigt haben. Mittlerweile sind wir schneller, weil Entscheidungen nicht mehr an Hierarchiestufen gebunden sind und nicht mehr von meinem Terminkalender abhängen. Wir haben unsere Meeting-Struktur komplett verändert und statt bilateralen Abstimmungen, von denen ich viele hatte, machen wir nun mehr Teammeetings unterschiedlicher Art. Das ist viel effizienter. Wir haben im Meeting eine klar durchgetaktete Agenda und treffen gemeinsam vier oder fünf Entscheidungen. Dafür nutzen wir die Entscheidungsprinzipien, damit eben nicht alles ausdiskutiert wird.

Nicht alles muss bis zum Ende ausdiskutiert werden

Inwiefern war der Veränderungsprozess in Communications und HR verschieden?

Wir haben beide Abteilungen parallel transformiert, aber sie gingen ganz unterschiedlich an die Sache heran. Ein ganz wichtiger Erfolgsfaktor ist Vertrauen. Das war in meinem Fall nach 20 Jahren Unternehmenskommunikation natürlich dort am Anfang stärker da. Wir waren einfach aufeinander eingespielt. Der Bereich HR wurde hingegen lange anders geführt und ich war damals erst kurz dabei. Dementsprechend ist die Unternehmenskommunikation einfach losgelaufen, hat gemacht und darauf vertraut, dass das ein guter Weg ist. Der Personalbereich hat sehr viel mehr und kritischer gefragt. Da kam etwa gleich die Frage, „Wie sieht meine Funktions- und Stellenbeschreibung zukünftig aus?“.

Beide Bereiche sind heute gleich weit in der Umsetzung und haben es geschafft, „Tasks and Teams“ zu einem täglichen Arbeitsinstrument zu machen. Der Personalbereich hat auf dem Weg gelernt, dass es nicht auf jede Frage eine fertige Antwort gibt. Teil des agilen Ansatzes ist es, das Kundeninteresse stärker in den Fokus zu rücken – etwa mit Methoden wie Design Thinking, indem man Prototypen baut und schnelles Feedback bekommt. Wir müssen weg aus der Rolle des allwissenden Kontrolleurs hin zu einem kundenorientierten Berater und Coach.

Welche Vorteile hat es, eine derartige Veränderung mit HR und Communications anzufangen?

Um diese Prinzipien einzuführen, braucht es einen Coach für die Methodenkompetenz – so wie wir zunächst eine externe Begleitung hatten. Wir haben ein Toolkit entwickelt, in das die Erfahrungen der beiden Abteilungen eingeflossen sind, und gehen damit jetzt in die Phase zwei: Für die Vermittlung von Methodenkompetenz wollen wir interne Guides ausbilden, die den Prozess aus HR und der Unternehmenskommunikation hinaus in die Organisation tragen. Wir haben vor kurzem angefangen, Kreise mit anderen Abteilungen zu bilden. Der Vorstandsvorsitzende hat das in einer Führungskräfte-Veranstaltung präsentiert. Und wir sind dabei, das Thema auch international auszurollen. B. Braun ist ja in 64 Ländern weltweit und wir haben viele Organisationsbereiche, die mehr über „Tasks and Teams“ erfahren und das auch konkret „ausprobieren“ wollen.

Für die Vermittlung von Methodenkompetenz wollen wir interne Guides ausbilden.
Dr. Bernadette Tillmanns-Estorf

Hand aufs Herz: Waren Sie einmal an dem Punkt, an dem Sie lieber aufgehört hätten mit diesem Veränderungsprozess?

Wir haben regelmäßig Stimmungsabfragen gemacht. Das ist rückblickend eine interessante Dokumentation des Veränderungsprozesses – eine Art Seismograph des Wandels. Einen Tiefpunkt hatten wir nach einem halben Jahr. Da habe ich selbst gedacht, hoffentlich kommen wir überhaupt zu einem Ergebnis. Wir hatten eine hohe Aufgabendichte, zusätzlich dieses Veränderungsprojekt und viele Fragen, die nicht beantwortet waren. Wir haben lange am Thema Führung herum gearbeitet. Das war so ein Punkt, da hatten viele Mitarbeiter das Gefühl, wir kommen nicht recht voran.

Auch ich habe gezweifelt und mich gefragt: Hätte ich mehr vorgeben müssen? Sind wir das zu offen angegangen? Ich habe auch mit der Beratung gehadert, die agil beraten hat und mir nicht drei Wochen vor einem Treffen die Agenda zugeschickt hat. Aber das war ein bewusst so gestalteter Prozess, bei dem wir alle gelernt haben, was agiles Arbeiten bedeutet: die Dinge mit Zuversicht loslassen und laufenlassen. Und das ist eine gute Zusatzqualifikation für das, was noch kommt.

 

KONSENS, KONSENT, KONSULTATIVER EINZELENTSCHEID

KONSENS       
Die Gruppe findet eine Entscheidung, der alle Mitglieder uneingeschränkt zustimmen können. Ein Konsens kann jedoch oft nur schwer gefunden werden bzw. der Entscheidungsprozess dauert lange. Bei Entscheidungen mit großer Tragweite ist Konsens anzustreben.

KONSENT       
Eine Entscheidung wird vorgeschlagen und der Einwand der Gruppe abgefragt: "Ich schlage vor, xyz zu tun, hat jemand schwerwiegende Einwände?" Es geht nicht darum, was man selbst gerne hätte, sondern ob man mit der unterbreiteten Entscheidung leben kann. Wenn es Einwände gibt, muss der Grund dafür bekannt sein, damit der Entscheidungsvorschlag in einem moderierten Prozess entsprechend angepasst werden kann, bis keine Einwände mehr bestehen. Dadurch werden Entscheidungen systematisch getroffen, ohne lange Diskussionen.

KONSULTATIVER EINZELENTSCHEID           
Eine Person/Rolle kann entscheiden, muss aber eine vereinbarte Anzahl Personen konsultieren. Entscheidungen können relativ schnell getroffen werden, der Konsultationsprozess muss aber klar festgelegt sein.