Selbstorganisation Agilität

Zu viele Regeln bringen Stillstand

Kommentar Gerechtigkeit soll Grundpfeiler jeder Zusammenarbeit sein. Koordination soll ein Chaos verhindern. In Unternehmen werden beide Aspekte durch ein und dasselbe Mittel angegangen: Regeln! Ohne klare Regeln geht es nicht. Aber mit zu vielen Regeln bewegt sich jede Organisation in Richtung Stillstand.

Foto: Joshua Miranda von Pexels
Foto: Joshua Miranda von Pexels

Less is more

Die Agilität leidet unter einer ausgeprägten Regelungswut, die unsere Gesellschaft und die Wirtschaft nahezu lahmlegt. Es ist Zeit für eine neue Perspektive: LIM - Less is more! 

Exzellenz vor Troja

Die Spartaner hatten eine exzellente neue Kampftechnik entwickelt: Die Phalanx. Dabei schlossen sich zwei Dutzend Männer in einer drei Mann breiten und acht Mann langen Formation zusammen. Nach außen schützten sich die Männer mit ihren Schilden. So war die Phalanx gegen Pfeile und andere Angriffswaffen geschützt. Auf der rechen Flanke ragten lange Speere hervor. Damit konnte man den Gegner angreifen und insbesondere gegnerische Reiter aufhalten. Die geregelte Formation war ein militärischer Durchbruch.

Es ist Zeit für eine neue Perspektive: LIM - Less is more! 

Damit ein effizienter Schutz in der Phalanx gegeben war, kam es auf die Einhaltung einfacher Regeln an. Die Männer mussten in einem festgelegten Schrittmaß dicht beisammen bleiben. Die gesamte Bewegung der Gruppe war so ausgerichtet, dass die Schilde immer den maximalen Schutz boten. Es ging also im Trippelschritt langsam, aber stetig voran. Jeder musste sich unter allen Umständen an den gemeinsamen Rhythmus halten. Nur, wenn die klaren Vorgaben befolgt wurden, war die Phalanx erfolgreich..

Ganz anders die Kampftechnik des heldenhaften Achill. Seine Exzellenz gewann er aus eine präzisen Führung seiner Waffen, seiner Schnelligkeit und einer gewissen Leichtigkeit. Er hatte verstanden, dass der Wettkampf eine permanente Abfolge von Aktion und Reaktion war. Ein Wechsel von Außenbezug durch Reaktion und Selbstbezug durch Aktion. Es gab keine Planung der nächsten Bewegungen und nur wenige grundlegende Regeln.

Regeln als Herrschaftsinstrument

Wir haben uns heute so an Regeln gewöhnt, dass uns die Vielzahl der Vorgaben und Einschränkungen gar nicht mehr bewusst wird. Wir leben in einer geregelten Freiheit. In den großen Unternehmen, wie sie mit der Industrialisierung üblich wurden, hatte die Freiheit nie einen Stellenwert. Sie trug immer die Gefahr in sich, dass es zu eigenmächtigen und unkoordinierten Handlungen kommen konnte. Freiheit hat das Zeug dazu, die vorgedachten Prozesse zu stören. Regelungsfanatiker fürchten, dass das ganze System „Unternehmung“ gefährdet wird.

Die Herrschaft der Regelungen braucht keine Hierarchie. Jeder kann über Vorgaben in seinem Aufgabenbereich andere einschränken und bevormunden. Und viele Fachverantworltliche können über explizite Regelungen und Anweisungen ihren Einfluss in das gesamte Unternehmen tragen. So werden über die Fachkompetenz und teilweise unsinnige Vorgaben moderne Machtpositionen geschaffen.

Die Ausweitung der Regelungswut

Detaillierte Vorgaben sind heute nicht nur in der Produktion und auf der Arbeitsebene an der Tagesordnung, sondern finden sich mittlerweile eigentlich in allen Bereichen. In den administrativen Bereichen hängt man z.B. fast zwangsläufig an den berühmten „SAP-Prozessen“. Das System verlangt, dass man den überwiegenden Teil der Tätigkeiten im System abbildet. Daher ist die Organisation auch an die dort festgelegten Arbeitsschritte, Definitionen und Vorgaben gebunden. Gewisse Freiräume bestehen allenfalls dort, wo man auf „Management bei Excel“ zurück greift. Wenn nicht auch in den Tabellen die Formeln schon längst hinterlegt sind.

Die Freiheit insgesamt und für jeden einzelnen wird „der guten Ordnung halber“ suspendiert.

So bewegen sich unsere Unternehmen nach einer Phase der Mittelknappheit und Improvisation seit Jahrzehnten auf der Einbahnstraße zu immer mehr Vorgaben. Die Freiheit insgesamt und für jeden einzelnen wird „der guten Ordnung halber“ suspendiert. Das allgegenwärtige Effizienzstreben lässt sich auch besser mit klaren Prozessanweisungen sicherstellen als mit dem Gestaltungsspielraum des Funktionsträgers.

Agilität als Hilferuf der Freiheit

Es kann nicht wundern, dass aus der Regelungswut auf der einen Seite eine Sehnsucht nach Freiheit auf der anderen Seite resultiert. Die durch überbordende Vorgaben gedemütigten Mitarbeiter wollen sich wenigstens einen Rest an Würde erhalten und fordern mehr Freiheiten. Ein Minimum an Gestaltungsfreiraum wollen sie zurückerobern. Das steckt tatsächlich hinter dem Ruf nach mehr Agilität.

Im Sinne echter Agilität ist es vollkommen unverständlich, warum sich so viele Menschen in die Phalanx der „Agilen Methoden“ einreihen.

Leider hat das Management diesen Hilferuf nicht verstanden. Die Antwort der sachlogischen Systemprofis ist die Einführung agiler Methoden. Aber eine Methode besteht aus gut strukturierten Situations-Analysen, logischen Konzepten und klaren Vorgaben. Echte Agilität aber ist ein Produkt der Freiheit, der Möglichkeit, selber zu entscheiden und mit eigener Kreativität etwas zu gestalten. Die Methode hat den unabwendbaren Nachteil, dass Entscheidungsfreiheit und Kreativität eben nicht zugelassen werden. Kreativität und vor allen Dingen Intuition lassen sich nicht methodisch erfassen.

Im Sinne echter Agilität ist es vollkommen unverständlich, warum sich so viele Menschen in die Phalanx der „Agilen Methoden“ einreihen. Eine Methode ist niemals agil und will es auch eigentlich gar nicht sein. Sie kommt nicht ohne Regelungen aus. Ihre Verfechter haben allein die Freiheit, die einzelnen Schritte bei der Einführung abzuhaken. Die Truppe der Methodiker bewegt sich im vorgeplanten Gleichschritt des Erfinders. Sparta lässt grüßen.

Die neue Welt der Agilität

Es besteht gar kein Zweifel, dass die Unternehmen mehr Agilität benötigen. Der Gleichschritt der Phalanx ignoriert die komplexe Welt. Exzellenz im Sinne von herausragen ist in der Phalanx tödlich. Niemand darf über die schützenden Schilde hinausragen. Alle haben durch klare Regeln und eine Fixierung auf die Position das gleiche Schrittmaß. So kann man die Zukunft nicht gestalten. Auch nicht, wenn es innerhalb der Phalanx keinen echten Bestimmer mehr gibt. Der große Bestimmer steht außerhalb. Er hat die Anordnung der Gruppe und das Schrittmaß festgelegt.

Der Gleichschritt der Phalanx ignoriert die komplexe Welt. Exzellenz im Sinne von herausragen ist in der Phalanx tödlich. Niemand darf über die schützenden Schilde hinausragen.

Doch gerade jetzt nimmt eine Zeitenwende Gestalt an. Die Pandemie hat disruptiv zu neuen Formen der Arbeit geführt. Die Ordnungsfanatiker hatten keine Zeit, die neue Situation zu regeln. Mobilarbeit schafft die Freiheiten, die man zur Agilität dringend braucht. Die Arbeit vom Küchentisch bringt neue Herausforderungen mit sich, aber sie hat auch den Vorteil der geringeren Regelungsdichte. Die bisher zahllosen Kontrollen sind in den Remote-Modus gewechselt. Auf einmal sind sie da, die kleinen und großen Freiheiten, die man benötigt, um agil zu sein.

Die ungeregelte Exzellenz

Die neue Arbeitswelt hat nicht nur die Phalanx der Regelungswütigen erschreckt, sondern auch exzellente Reaktionen hervorgebracht. Ohne die enge Taktung in den Büros sind die Gespräche mit Kunden und Lieferanten persönlicher und verbindlicher geworden. In der ungeregelten Situation haben so viele Menschen auf allen Ebenen die Qualität der Zusammenarbeit deutlich verbessert.

Es gilt jetzt den heldenhaften Kampf zu führen, dass die Freiheiten der Mitarbeiter nicht wieder einkassiert werden.

Die Exzellenz hat endlich wieder einen Nährboden gefunden. Viele, viele Menschen haben den neuen Freiraum genutzt, um Exzellentes hervorzubringen. Die Situation hatte vielerorts dieses spielerische Moment zuzulassen, was man nicht ändern kann und alles Mögliche in Bewegung zu setzen, damit etwas geht.

Mit Agilität gegen die Regelungswut

Zwangsweise ist an vielen Stellen aus einem regelungswütigen Management eine gute Führung geworden. Agilität und Vertrauen haben eine neue Konjunktur erfahren. Doch die Unternehmen sollten jetzt sehr aufmerksam sein. Schon werden Initiativen gegründet, die neue Situation durchzuorganisieren. Die engmaschigen Regeln sollen an die neue Situation angepasst werden. Doch genau das ist der falsche Weg. Es gilt jetzt den heldenhaften Kampf zu führen, dass die Freiheiten der Mitarbeiter nicht wieder einkassiert werden.

Vergessen Sie Hierarchie als Bremsklotz der Agilität und stellen Sie sich den Regelungswütigen in den Weg!