Innovation Organisationsentwicklung

„Teams brauchen Strategie ohne Hierarchie“

Wo Agilität draufsteht, ist nicht immer Agilität drin. Bei Seibert Media schon. Das Wiesbadener Softwareunternehmen mit rund 150 Mitarbeitern arbeitet seit 9 Jahren agil. Ein Gespräch mit Scrum Master & Agile Coach Dr. Kai Rödiger über Strategieumsetzung in agilen Teams.

Für Agilität gibt es keine Blaupausen, die auf alles passen.
Für Agilität gibt es keine Blaupausen, die auf alles passen.

Herr Rödiger, Seibert Media versteht sich als agiles und hierarchieloses Unternehmen. Welche Bedeutung hat Teamarbeit in einem solchen Umfeld?

Wir arbeiten schon sehr lange agil – jenseits von hippem Buzzword-Bingo fürs Employer Branding. Es ist nicht sinnvoll, wenn ein oder zwei Leute im Unternehmen alles entscheiden. Wir stellen Leute ein, die Experten auf ihrem Gebiet sind. Sie sollen sich um die Dinge kümmern, die sie gut können. Es braucht eine Art von Führung, die die Vision und den Rahmen absteckt, in dem die Leute agieren. Unsere Mitarbeiter sollen verstehen, an was wir arbeiten und warum. Aber wie das geschieht, bleibt den Teams überlassen. Teams brauchen einen strategischen Fokus, aber keine Hierarchie. Eine große Stärke von Teams ist ihre Individualität, die durch das Zusammenspiel von ganz vielen unterschiedlichen Ideen und Meinungen entsteht. Wenn es Teams gelingt, ihre Vielfalt zu bündeln, sind die Ergebnisse meist wertvoller als die von Einzelkämpfern.

Führung heißt nicht top -down befehlen, sondern einen Rahmen für Eigenständigkeit setzen. Sagt Kai Rödiger von Seibert Media.    Foto: Kai Rödiger
Führung heißt nicht top -down befehlen, sondern einen Rahmen für Eigenständigkeit setzen. Sagt Kai Rödiger von Seibert Media. Foto: Kai Rödiger

Agilität hilft, Vielfalt zu bündeln

Welche Vision treibt Seibert Media an?

Wir wollen Mitarbeiter und Unternehmen dabei unterstützen, softwaregestützt besser zusammenzuarbeiten. In den letzten Jahren haben wir unseren Fokus stark auf Kollaboration-Software im Atlassian-Umfeld gerichtet und gehören hier zu den größten Lizenzhändlern weltweit. Wir vermarkten auch unsere eigene Lösung Linchpin, ein Social Intranet. Doch wir haben gemerkt, dass wir uns nicht nur auf ein Standbein fokussieren sollten, sondern mehrere Märkte beackern müssen. Deshalb haben wir uns jetzt zum Beispiel in den Bereich „Zusammenarbeit mit Google-Produkten“ vorgewagt.

Teams brauchen einen strategischen Fokus, aber keine Hierarchie. 

Wie tragen Sie Ihre Vision in die Teams hinein?

Erstmal hat jemand eine Idee. Um die Idee kundzutun und sich ein Team zu suchen, gibt es mehrere Gremien. Manche Leute brennen sehr für ihr Thema und machen intensiv Werbung dafür. Sie laufen im Unternehmen herum und fragen jeden zweiten Mitarbeiter, der nicht bei drei auf dem Baum ist, ob er oder sie mitarbeiten möchte. Damit wir die Auswahl der Ideen, die wir umsetzten möchten, stärker an der Unternehmensstrategie ausrichten, haben wir vor knapp einem Dreivierteljahr ein „Portfolio-Meeting“ ins Leben gerufen. Das ist eine Plattform, wo Vertreter aus allen Teams konsolidiert über unsere Vorhaben sprechen – insbesondere die Product Owner oder die Service Owner, wenn es um Dienstleistungen geht. Dort kann man für die eigene Idee Mitstreiter finden. Es geht aber auch darum, wie die Auftragslage in den Teams ist, an was sie gerade arbeiten und was sie in Zukunft vorhaben. Die Entscheidung, ob wir eine neue Idee umsetzen wollen oder nicht, treffen wir gemeinsam in einem kleineren Gremium von vier bis sechs Leuten plus Ideengeber. Diese Leute, die sich grundsätzlich mit strategischen Entscheidungen und neuen Produkten und Marktausrichtung beschäftigen, geben jetzt auch die strategischen Maßgaben in das Portfolio-Meeting hinein.

Mitarbeiter entscheiden selbst, wo sie mitmachen

Inwiefern greifen Sie in die Zusammensetzung der Teams ein?

Unsere Teams bilden sich bedarfsorientiert an der Schnittstelle zum Markt, wenn eine sehr hohe Nachfrage da ist und wir entsprechendes Potential sehen. Entsprechend lösen wir Teams auch wieder auf, wenn die Nachfrage abebbt. Dann suchen sich die Teammitglieder neue Betätigungsfelder. Ein Team besteht zunächst meist aus einer Person und hat vielleicht noch zwei studentische Mitarbeiter mit an Bord. Wenn das Ganze größer wird, wachsen organisch mehr und mehr Leute hinein. Die Mitarbeiter sind grundsätzlich frei, ob sie da mitmachen möchten. Wir haben verschiedene kleine Teams, die sich immer sehr explizit darauf konzentrieren können, was der Markt will. Mitarbeiter, die direkt mit den Kunden zusammen arbeiten, wissen eher als die Geschäftsführer, was die richtige strategische Entscheidung ist. Darum legen wir auch Wert auf interdisziplinäre Teams. Wir wollen sicherstellen, dass alle Teams, die irgendeine Leistung am Markt erbringen, so aufgestellt sind, dass sie das autark machen können – auch in Sachen Marketing, Design oder User Experience.

Es ist nicht sinnvoll, wenn ein oder zwei Leute im Unternehmen alles entscheiden.

Die strategische Richtung bleibt mit der Fokussierung auf den Kunden quasi automatisch bestehen?

Es ist schon wichtig, dass der Scrum Master neben dem Product Owner von außen auf die Prozesse schaut. Gerade wenn sich die Teams eingespielt haben und jeder weiß, wie der andere tickt, zählt manchmal auch der Blick links und rechts über die Schulter, um die blinden Flecken zu entdecken. Als jemand, der nicht elementarer Bestandteil des Teams ist, kann man in der Regel besser diese Außensicht einnehmen. Wir haben aber auch noch Leadership-Rollen. Im Vergleich zum Management, das dem Team genau sagt, was es zu tun hat, bedeutet bei uns Führung, dass jemand den Rahmen vorgibt und das Team dabei unterstützt, Entscheidungen selbst sinnvoll zu treffen, eine gemeinsame Vision auszuarbeiten und einem Ziel zu folgen. In manchen Phasen kann auch jemand, der Management-Skills mitbringt, Teams besser helfen – und zwar meist dann, wenn sie gerade neu entstehen und sich noch gar keine Prozesse gebildet haben. In einer solchen Situation braucht man noch nicht mit einer Vision zu kommen, da sind die Leute meist in dem Moment völlig überfordert.

Leadership heißt, Rahmen zu setzen

Wer übernimmt die Führungsrollen?

Die Rollen werden nicht in der Hierarchie festgelegt, sondern entstehen im Bedarfsfall. Man bekommt nicht jemand vor die Nase gesetzt, der einfach den Titel oder die Position hat. Am Ende sagt sowas ja nichts darüber, ob jemand eine gute Führungskraft ist oder nicht. Je nach Phase des Teams braucht es diese Führungspersönlichkeit vielleicht auch gar nicht mehr. Wenn das Team eine gewisse Reife erreicht hat, kann man auch darauf verzichten. Dafür ist es wichtig, dass diese Ernennung zur Führungskraft aus der Prozess-Dynamik und aus dem Team selbst kommt. In einem klassischen Unternehmen würde man einen Teamleiter reinsetzen, der oder die da am Anfang auch einen großen Mehrwert stiftet. Wenn das Team aber gewachsen und reifer ist, kann es das selbst – aber es gibt immer noch einen Teamleiter. Da wird es früher oder später zu Konflikten kommen. Das ist auch eine Frage von Akzeptanz der Teamleistung.

Bei uns bedeutet Führung, dass jemand den Rahmen vorgibt und das Team dabei unterstützt, Entscheidungen selbst sinnvoll zu treffen. 

Was macht eine gute Führungspersönlichkeit prinzipiell aus?

Für uns ist wichtig, dass sie den Teams hilft, Entscheidungen selbst treffen zu können. Oft gibt es da doch noch einen unsichtbaren Zaun. Zum Beispiel, wenn man sagt, Urlaubsanträge muss man nicht genehmigen lassen, dann aber kritisch nachfragt, warum jemand zu einem bestimmten Termin frei hat.

Quasi natürliche Führungspositionen

Nach welchen Kriterien entwickeln sich informelle Hierarchien in Teams? 

Die informelle Hierarchie hängt sehr von der Persönlichkeit ab und wie stark sich jemand einbringt. Aber es fließen auch noch viele weitere Faktoren mit ein. Es gibt zum Beispiel Leute, die in der Geschäftsführung sind oder insgesamt schon 15 Jahre bei Seibert Media. Die haben eine natürliche Führungsposition und das wird dann von vielen Mitarbeitern auch angenommen. Es gibt aber auch andere, die noch nicht so lange dabei sind, fachlich dafür unglaublich stark. Die werden genauso als Führungskraft akzeptiert. Das ist wirklich sehr individuell und von Team zu Team unterschiedlich. Aber Teams, in denen es jemanden gibt, der so eine Art Führungskraft ist, funktionieren deutlich besser als die, die so jemanden nicht haben. 

Was passiert, wenn sich das Team nicht einigen kann und Konflikte aufkommen?

Konflikte und Meinungsverschiedenheiten gehören immer dazu. Zunächst versuchen wir, zu vermitteln und Teams dabei zu unterstützen, den Konflikt selber zu lösen. Wenn das eskaliert und die Leute gar nicht mehr miteinander reden können, geht ein Scrum Master oder auch ein externer ausgebildeter Coach rein. Fachliche Dinge kann man das durchaus mal in einem größeren Gremium besprechen – zum Beispiel, wenn es darum geht, in welcher Programmiersprache etwas programmiert wird. Für zwischenmenschliche und rechtliche Dinge haben wir auch eine kleine Gruppe aus agilen Coaches und HR. Wenn das auch nichts hilft, versucht man anzuregen, dass einige Leute in andere Teams wechseln. Im Extremfall mussten wir uns auch schon mal von einem Mitarbeiter trennen. Doch prinzipiell versuchen wir, nicht zu viel in Teamkonflikte einzugreifen. Das Schlimmste ist, wenn man sich da immer einmischt und damit Konflikte für das Team nur oberflächlich löst. Dann werden sie immer wieder Hilfe von anderen einfordern statt sich selbst mit dem Konflikt auseinanderzusetzen.

Es gibt für agiles Arbeiten keine Blaupausen, die für jede Situation gleich gut funktionieren.

Wie lange sollte die Lebensdauer eines Teams in etwa sein? 

Prinzipiell sollten Teams schon stabil sein und eher einzelne Personen wechseln als das Team selbst. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass gerade in Teambildungsprozessen sehr viel Reibung entsteht. Da greifen die klassischen Team-Zyklen nach Tuckman: Forming, Storming, Norming, Performing. Man muss erstmal in den Performing-Modus reinkommen und das dauert schon ein bisschen. Wenn man Teams zu schnell auflöst, kommen sie nicht an ihrer Höchstleistungsgrenze. Aber die Scrum Master und Agile Coaches schauen regelmäßig drauf, ob sich bei den Teams mal was ändern müsste. Ein Indikator kann sein, ob das Team noch profitabel ist. Solange ein Team schwarze Zahlen schreibt, darf es gerne so weiter agieren. Ansonsten muss man sich etwas überlegen. Wir haben zum Beispiel ein größeres Produkt-Team für unsere Social-Intranet-Lösung, das aus fünf einzelnen Teams bestand. Das hat angefangen als ein großes Team von neun Entwicklern und einem Designer. Innerhalb der letzten zwei Jahre ist es angewachsen auf knapp 45 involvierte Personen. Da haben wir richtig rein investiert. Jetzt ist die Lösung ausgereift genug und wir müssen mehr auf die Wirtschaftlichkeit schauen. Entsprechend haben wir das Ganze auf vier Teams konsolidiert. Das ist ein gemeinsamer Prozess, den man mit den Teams durchgeht. Feste Richtwerte gibt es dafür aber keine – das ist einfach zu individuell. So ist es eigentlich immer: Es gibt für agiles Arbeiten keine Blaupausen, die für jede Situation gleich gut funktionieren.