Selbstorganisation Agilität

„Selbstorganisation ist gerade in Krisen hilfreich“

Interview Selbstorganisation funktioniert auch in der Krise. Wie und wieso hat Marco Luschnat, Founder und Gesellschafter der Ministry Group, auf der Agile HR Conference von HR Pioneers in Köln erklärt. Aber ein Selbstläufer sei das Ganze nicht. Sondern viel harte Arbeit und Disziplin. Wir haben mit ihm gesprochen.

Selbstorganisation hat nichts mit Chaos zu tun.     Foto: chuttersnap on Unsplash
Selbstorganisation hat nichts mit Chaos zu tun. Foto: chuttersnap on Unsplash

Bewusst keine Pyramide

Marco, Ihr seid eine mittelständische Agentur, die sich früh für Selbstorganisation und gegen die klassische Linienorganisation entschieden hat. Aus welchen Gründen?

"Wir wollten Selbstorganisation und crossfunktionale Teams. Es einfach anders machen als andere", sagt Marco Luschnat, Gründer und Gesellschafter der Ministry Group. Foto: Marc Thürbach für HR Pioneers

Anlass war tatsächlich, dass wir vor fünf, sechs Jahren die magische Grenze von 45 Mitarbeitern überschritten haben. Das ist gemeinhin die Teamgröße, ab der eine zentrale Führung nicht mehr möglich ist. Damals haben wir festgestellt, dass wir mit unserer Struktur an Grenzen stoßen, dass wir unflexibel geworden sind: Die Qualität unserer Produkte hat gelitten. Es war klar, wir müssen etwas tun. Und haben getan, was Geschäftsführer so machen: ein dreitägiges Strategie-Offside an der Ostsee. Es wäre einfach gewesen, nach Managementhandbuch vorzugehen und ein Mittelmanagement einzuziehen. Die Voraussetzungen dafür waren gegeben: Wir hatten klar voneinander getrennte Teams, beispielsweise Entwicklung, Design, Beratung. Tolle potenzielle Führungspersönlichkeiten waren auch im Unternehmen, die in den Teams schon informelle Führungsaufgaben übernommen hatten. Wir haben uns jedoch dagegen entschieden, weil wir damals durch viele Gespräche zu der Erkenntnis gekommen waren, dass pyramidal organisierte Strukturen dem Untergang geweiht sind. Und wenn sich auch unsere Gesellschaft sich in eine nicht-pyramidale Richtung entwickelt, sollten wir das anders machen: nämlich Selbstorganisation und crossfunktionale Teams aufbauen.

Selbstorganisation ist das Gegenteil von Disziplinlosigkeit.
Marco Luschnat

Als Vorteile der Selbstorganisation werden oft genannt: schnellere Entscheidungen, mehr Verantwortung der einzelnen Mitarbeiter, mehr Kundennähe, mehr Commitment. Was sind Nachteile, in Deinen Augen?

Selbstorganisation bedeutet unglaublich viel Kommunikation. Der Redebedarf ist enorm, vor allem zu Beginn und immer dann, wenn es in eine neue Richtung geht. Weil eben nicht ein Mensch sagt, wo es langgeht, sondern Ziel und Weg dorthin erst einmal ausgehandelt werden müssen. Da besteht die Gefahr, dass sich Teams und die gesamte Organisation um sich selbst kreisen. Zu sehr im eigenen Saft schmoren. Es bedarf einer unglaublichen Disziplin, dass das nicht passiert. Natürlich gilt für Selbstorganisation – wie für klassische Organisationen auch – dass sie sich regelmäßig hinterfragt. Alle müssen aber aufpassen, dass die Inspektion nicht zu kleinteilig wird und am Ende mehr diskutiert als produziert wird. Oft ist das nur ein Gefühl, dass zu viel geredet wird. Denn selbstorganisierte Teams sind sehr produktiv und auch effizient. Doch schon das schiere Gefühl kann lähmen. Die Teams müssen sich selber disziplinieren. Deshalb kann ich Kritikern nur sagen: Selbstorganisation ist das Gegenteil von Disziplinlosigkeit.

Selbstorganisation heißt Kommunikation

Ihr habt schon wirtschaftliche Krisen überstanden. War Euer Organisationsmodell dabei eine Hilfe oder eine Last? Kritiker warten ja nur darauf, dass agile Unternehmen in Schwierigkeiten geraten, um beweisen zu können, dass Selbstorganisation et cetera ein Schönwetter-Thema sei.

Selbstorganisation ist leicht bei schönem Wetter. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, wenn man sich keine Gedanken um das Geld machen muss. Wenn alle wissen, ihr Job ist sicher. Dann haben alle im Unternehmen unfassbar viel Freiraum und Energie, sich um Dinge zu kümmern, die ein Unternehmen in der Selbstorganisation und im agilen Arbeiten voranbringen. Klingt leicht, ist aber viel Arbeit für alle und benötigt sehr viel Energie aller Menschen im Unternehmen. Und die Arbeit daran, ein Unternehmen in Richtung völliger Selbstorganisation und agilem Arbeiten zu bringen, hört eigentlich nie auf. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen - wenn die Sonne scheint, um im Bild zu bleiben - ist das leichter. Die gesamte Organisation kommt schneller voran, und Erfolge sind sichtbar.

Teams, die es gewohnt sind, auch unbequeme Entscheidungen selber zu treffen, sind in Krisenzeiten viel flexibler und besser vorbereitet.
Marco Luschnat

Nichtsdestoweniger funktioniert Selbstorganisation auch hervorragend in einer Krise. Ich glaube, dass selbstorganisierte Strukturen und flache Hierarchien sehr gut in der Lage sind, auf Krisen zu reagieren. Denn in Teams, die es gewohnt sind, eigenständig und eigenverantwortlich zu arbeiten, herrscht eine ganz besondere Dynamik. Die normale Reaktion in einer Krise ist: „Jemand muss mir sagen, was zu tun ist. Wir brauchen jemanden, der uns sicher durch die Unsicherheit führt.“ Teams aber, die es gewohnt sind, auch harte, schwierige und unbequeme Entscheidungen selber zu treffen, sind in Krisenzeiten viel flexibler und besser vorbereitet, mit Unsicherheit und Ungewissheit umzugehen. Aber selbstverständlich müssen in einer Krise Entscheidungen getroffen werden zum Beispiel über Entlassungen, bei denen Selbstorganisation heute noch oft an ihre Grenzen stößt.

Habt Ihr beispielsweise die Kündigungen auch den selbstorganisierten Teams überlassen?

Wir haben uns damals dagegen entschieden, weil wir der Meinung waren, die Organisation sei nicht reif dafür, selber zu bestimmen, wer gehen muss. Die Geschäftsführung hat nach wirtschaftlichen und arbeitsrechtlichen Kriterien die Betroffenen identifiziert und die Trennungsgespräche geführt. Und dann ist Folgendes passiert: Wir haben einer Kollegin die Kündigung ausgesprochen – und das Team ist auf die Barrikaden gegangen. Die KollegInnen haben gesagt, dass diese Person unbedingt bleiben müsse, weil sie für das Team, für die Kunden und für die Produkte unheimlich wichtig sei. Viel wichtiger, als ein Blick auf Zahlen et cetera je hätte zeigen können. Wir haben die Kündigung zurückgenommen, und heute kann ich sagen, dass war eine der besten Entscheidungen, die wir treffen konnten.

 

Die Entscheidung, die Geschäftsführung in andere Hände zu legen, hat mir persönlich eine ganze Menge von den Schultern genommen.
Marco Luschnat

Die Krisensituation, die Ihr bewältigt habt, hat Dich dazu gebracht, zum 1. Juli die Geschäftsführung abzugeben und als „normaler“ Mitarbeiter weiterzumachen. Warum dieser Schritt?       

Es gab einen Moment, in dem ich für mich erkannt habe, dass ich im Augenblick nicht der Beste für die Aufgabe Geschäftsführer bin. Ich habe gemerkt, dass ich andere Dinge besser kann, als in dieser Situation das Team und die Agentur zu führen. Der Augenblick, in dem ich das erkannt habe, war unglaublich erleichternd. Die Entscheidung, die Geschäftsführung in andere Hände zu legen, hat mir persönlich eine ganze Menge von den Schultern genommen. Ich habe meine Entscheidung mit der Mannschaft geteilt, und die Reaktion war: „Okay, eine weise Entscheidung.“ Da habe ich mich im ersten Moment gefragt, warum sie mir nicht vorher schon gesagt haben, dass ich nicht (mehr) der Richtige bin. Und muss heute zugeben: Doch, sie hatten es mir ab und zu gesagt, ich habe es bloß nicht gehört. Kurz gesagt, geht es mir sehr gut mit dieser Entscheidung. Und ich gehe auch nicht ganz, denn ich bleibe ja Gesellschafter. Dem Team wiederum geht es vor allem gut mit der Aussicht, dass der neue Geschäftsführer von außen kommt. Sie erwarten, dass er uns aus unserer Tretmühle herausholt, in die wir geraten sind. Das kommt beim Team sehr gut an.