Innovation Organisationsentwicklung

Daimler erfindet sich neu – Musterbrüche und Lessons learned

Leadership 2020, Schwarmorganisation, Bottom-up – Daimler erprobt eine neue Führungskultur. Nutzerzentrierte IT ist in diesem Changeprozess Ausdrucksform und Enabler zugleich, wie eine „Expedition“ auf der Kienbaum People Convention am 7. Juni 2018 demonstrierte.

Leadership 2020: Daimler ist angetreten, seine Führungskultur komplett zu verändern.
Leadership 2020: Daimler ist angetreten, seine Führungskultur komplett zu verändern.

Mit Teenagern im Bergdorf ohne WLAN

Die Session mit Unternehmensvertretern von Daimler und Haufe-umantis in den Mauern der Malteser Kommende in Ehreshoven bei Köln war einer der Publikumsmagneten auf der Kienbaum People Convention Anfang Juni. Heiß war nicht nur das Raumklima, heiß war auch das Thema: Mit dem Programm „Leadership 2020“ möchte sich der Daimler-Konzern neu erfinden und zukunftsfähig machen. Ursula Schwarzenbart, als Head of Talent Management & Chief Diversity Officer zuständig für die Personalentwicklung des Automobilherstellers, ersparte den Teilnehmern eine lange Hinführung über Themen wie Digitalisierung, Disruption & Co. und begründete die fundamentale Veränderung des 135 Jahre alten Traditionsunternehmens einmal etwas anders: „Wer versucht, mit einem Teenager ohne Internet in ein schönes abgelegenes Bergdorf zu fahren, weiß: Es ist die Hölle.“ Die Auswirkungen auf Produkte und Belegschaft liegen auf der Hand.

Daimler baut Führung um - und alle Führungskräfte konnten sich als First Mover bewerben, erklärt Ursula Schwarzenbart, Head of Talent Management & Chief Diversity Officer von Daimler. Foto: Stefanie Hornung
Daimler baut Führung um - und alle Führungskräfte konnten sich als First Mover bewerben, erklärt Ursula Schwarzenbart, Head of Talent Management & Chief Diversity Officer von Daimler. Foto: Stefanie Hornung

Organisation als Ökosystem, das ständig dazu lernt

Und so hat Daimler in den letzten zwei Jahren angefangen, eine neue Form der Zusammenarbeit in das Unternehmen hineinzubringen. Um eine neue Unternehmenskultur zu entwickeln, wurden 144 Mitarbeiter nominiert und ausgewählt, die in globalen Workshops ein neues Führungsleitbild und zentrale Themenfelder herausarbeiteten. „Wir haben alle Führungskräfte gebeten, sich zu bewerben und sich in den Veränderungsprozess einzubringen, insgesamt 17.000 Menschen angeschrieben und über 3000 Bewerbungen bekommen“, berichtete Schwarzenbart. „Wir wollten herausfinden, was die Menschen im Konzern wirklich bewegt und was ihre Pain Points sind.“

Bis 2020 sollen 20 Prozent der Daimler-Mitarbeiter weltweit in agilen und flexiblen Strukturen arbeiten. 

Die Daimler-Managerin beschrieb die neue Organisationsform als Ökosystem, das sich ständig weiter entwickle, lerne und versuche, Bewegung in den Konzern zu bringen. Eines von 14 bis 15 Themenfeldern ist die Entwicklung hin zur Schwarmorganisation: Um das kollektive Denken im Konzern zu stärken, sollen 20 Prozent der rund 295.000 Mitarbeiter bis 2020 weltweit in agilen und flexiblen Arbeitsstrukturen agieren. Eine große Rolle spielt auch ein neues hierarchiefreies Feedback-Instrument, das derzeit für 190.000 Mitarbeiter ausgerollt wird. Dafür arbeitet Daimler in sogenannten Squads: bereichsübergreifend bringen HR, IT, User und Führungskräfte ihre Kompetenzen in Teams ein, konkretisieren die Themen und bauen gemeinsam neue Produkte dafür. „Wir versuchen Muster zu verändern, nach denen wir funktionieren, und statt Zulieferermentalität mehr Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu schaffen“, so Schwarzenbart.

Keine reinen Expertensysteme mehr, Mut zur Unvollkommenheit, Veränderung, die weh tut: Die Personalabteilung sei nicht mehr die verlängerte Servicebank der Mitarbeiter und auch nicht die Unternehmenspolizei, die kontrolliert, dass alle alles richtig machen. „HR wird zum Enabler und Manager werden zum Coach. Das hört sich banal an, ist aber wahnsinnig schwierig in der Umsetzung, insbesondere wenn ein Unternehmen erfolgsverwöhnt ist.“ Das sei etwas völlig anderes als die rund 17.000 Manager bei Daimler bisher praktiziert hätten – sie zu motivieren: eine Mammutaufgabe. „Die Führungskräfte haben das Gefühl, sie verlieren an Macht. Und das stimmt. Aber wenn wir Positionsmacht durch Sinn und Freude an der Arbeit ersetzen, kann das ein fairer Deal werden“, meint die Chef-Personalentwicklerin. Gleichzeitig müsse man darauf achten, dass sich die Mitarbeiter mehr einbringen, Verantwortung übernehmen und nicht mehr „das Gehirn abgeben, wenn sie ins Unternehmen kommen“. Dafür müssten die Menschen verstehen, warum sie sich verändern sollen.

„Wir versuchen Muster zu verändern, nach denen wir funktionieren, und statt Zulieferermentalität mehr Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu schaffen."
Ursula Schwarzenbart, Head of Talent Management & Chief Diversity Officer, Daimler


Ein weiterer Erfolgsfaktor sei das Commitment des Vorstands. Dabei habe insbesondere das Netzwerk der 144 Botschafter für den Change geholfen: „Diese Freiwilligen haben die Begeisterung im Vorstand angezündet und sind mit den Vorstandsmitgliedern in ungewöhnlichen Settings gegangen“, ergänzte Bernd Staudinger, Director Corporate Systems HR & COM bei Daimler. Der IT-Chef stellte auf der Kienbaum-Konferenz drei Musterbrüche aus seinem Bereich vor: User-centric Design, Mobile First und mehr Wow.

„Wir haben eine radikale Kundenfokussierung eingeführt“, sagt Bernd Staudinger, Director Corporate Systems HR & COM, Daimler. Foto: Stefanie Hornung
„Wir haben eine radikale Kundenfokussierung eingeführt“, sagt Bernd Staudinger, Director Corporate Systems HR & COM, Daimler. Foto: Stefanie Hornung



„Wir haben eine radikale Kundenfokussierung eingeführt“, erläuterte Staudinger den ersten Bruch.  Dafür wurden Personas wie Führungskräfte, Mitarbeiter oder Bewerber definiert, auf die die Systeme zugeschnitten wurden. In einem internen App Store können die Mitarbeiter die Lösungen in einem 5-Sterne-Rating bewerten und ihre Kommentare dazu abgeben. Statt 14 bis 15 Apps für alle Themenfelder fasst Daimler die Funktionen in ein oder zwei Apps zusammen. „Hier brauchen Sie eine hohe Kooperationsbereitschaft und ein Change-Mindset, damit  alle sagen, ich verzichte auf meine eigene App und wir bauen lieber eine gemeinsam.“ Das sei die Rolle der modernen IT: diese Integrationsleistung, zwischen den Silos alle zusammen zu bringen.

„Wir haben eine radikale Kundenfokussierung eingeführt.“
Bernd Staudinger, Director Corporate Systems HR & COM, Daimler

Ein weiterer Anspruch: Die Hälfte der Applikationen soll ohne Training funktionieren – und zwar vor allem mobil. Die Mitarbeiter können dafür auch ihre eigenen Endgeräte nutzen, laut Staudinger eine Pionierleistung, die nicht einfach ist. Ebenso wichtig sei, die Apps easy, cool und sexy zu gestalten. Die Lösungen dürfe man nicht überladen und sie müssten einfach bedienbar sein. Dann nutzten Mitarbeiter und auch Führungskräfte die Anwendungen freiwillig. „Gerade Führungskräfte möchten mit der Anwendung keine Zeit verlieren und schnell klarkommen. Dann macht ihnen auch ihre Führungsaufgabe mehr Spaß“, ist Staudinger überzeugt.

Bereits acht Wochen nach dem Neubeginn in der IT waren die ersten Features am Start. Zu den neuen Apps gehört die Feedback-App „Daimler for you“, auf der die Mitarbeiter Unternehmensinfos lesen und Push-Nachrichten schicken können – hierarchieübergreifend versteht sich. Enthalten ist etwa der Speisplan der unternehmenseigenen Kantine und eine Funktion, mit der man sich über Wunschgerichte wie „Currywurst mit Pommes“ informieren lassen kann, damit man den Essensgang auf keinen Fall verpasst. Jederzeit lässt sich einsehen, wann das nächste Gehalt kommt oder an welchem Standort gerade ein Meetingraum frei ist. „Das ist auch eine Art internes Airbnb: Weil der Stuttgarter Raum sehr stark frequentiert wird, können die Mitarbeiter darüber ihre Büros für Kollegen zur Verfügung stellen. Diese Sharing-Plattform ist nicht nur praktisch, sondern man lernt auch noch neue Kollegen kennen.“

Als Herausforderung beschreibt Staudinger die Geschwindigkeit, in der die neuen Applikationen entwickelt und implementiert würden. Schnell trete ein Gewöhnungseffekt und hohe Erwartungshaltung in Sachen Speed ein. Das könne fatal sein. „Wenn das System wächst und immer mehr Features dazukommen, wird das in sich immer komplizierter und Sie müssen die einzelnen Module zu einem Gesamtkunstwerk bauen. Das war eine Lesson learned: Irgendwann holt Sie die Daimler- und DAX-Komplexität brutal ein. Da gilt es, ein gutes Erwartungsmanagement zu machen.“ Oft habe man kurz vor dem Launch „Blut und Wasser geschwitzt“ und gezittert, geht der Go-Live morgen gut oder schief. Denn der Konzern sei bisher auf Perfektion getrimmt. „So ist das bei Pionieren, da steht es öfter mal Spitz auf Knopf. Die Komplexität kriegen Sie nicht weg, die müssen Sie managen.“ Außerdem habe es zwei Jahre gebraucht, den Betriebsrat und die interne IT-Sicherheit ins Boot zu holen. „Wir haben viel erklärt, zum Beispiel bei Themen wie Analytics. Den Betriebsrat haben wir nie außen vor gelassen und so Vertrauen aufgebaut, was am Ende den Unterschied gemacht hat.“

Vorsicht! Rückfall in alte Muster droht

Mit Marc Stoffel, CEO der Haufe-umantis AG, war ein Referent Teil der Runde, der insbesondere für den Brückenschlag zwischen Kulturwandel und moderner IT steht. „Die größte Gefahr beim Übergang von einem tayloristisch geprägten Modell in eine kundenzentrische agile Struktur besteht darin, in alte Muster und Machtstrukturen zurückzufallen“, betont der gewählte Geschäftsführer von Haufe-umantis, das Daimler beim Projekt Leadership 2020 begleitete. Wichtig sei, dass man genügend schnell viele Musterbrüche erreiche, denn nur dann gelänge es, die bestehende Hierarchie aufzuweichen. „Die Ambidextrie-Phase, in der sowohl eine Hierarchie als auch ein agiles Netzwerk existiert, ist besonders anspruchsvoll. Da muss man auf der Verhaltensebene permanent nachhalten und dranbleiben.“ Auch bei Haufe-umantis habe man sich anfänglich an der Frage aufgerieben, wie man eine Sogwirkung in Richtung Agilität erzeugen könne. Er komme zwar aus einem viel kleineren Umfeld wie Daimler, in dem die Führungskräfte zudem gewählt würden, doch er hält es in allen Organisationen für richtig, „mit den Willigen und Fähigen zu starten“. Ein gutes KPI, um Agilität zu messen, ist laut Stoffel die Zeit die eine Idee braucht, um beim Kunden anzukommen. Feedback sei dafür ein ganz starkes Instrument, das man nicht kleinreden solle. „Wenn Feedback zum Treibstoff für Karriere und Gehalt wird und nicht nur der Chef beurteilt, wer gut arbeitet und seine Ziele erfüllt, dann ist das eine wichtige Vorbedingung dafür, dass Ideen nicht in der Hierarchie verrecken.“

„Die größte Gefahr beim Übergang von einem tayloristisch geprägten Modell in eine kundenzentrische agile Struktur ist der Rückfall in alte Muster und Machtstrukturen.“
Marc Stoffel, CEO, Haufe-umantis

Der Geschäftsführer von Haufe-umantis räumte zudem mit einem Mythos der Digitalisierung auf, die Konzerne in ihrem Veränderungsprozess behindern: „Die Cloud soll uns retten“, laute das Credo in vielen Unternehmen. Es sei naiv zu glauben, dass allein durch die Cloud alles von alleine besser werde. „Wir sind ein Cloud-Hersteller und ich möchte mal ganz ehrlich erzählen, wie das funktioniert“, so Stoffel. On premise werde verteufelt, habe aber einen riesigen Vorteil: Wer etwas mehr Geld investiere, bekomme alles, was gewünscht sei. „You get, what you pay.“ Das meiste in der Cloud sei ein bisschen schlechter und höher standardisiert, habe aber eine nettere Oberfläche. Wenn es darum gehe, bestehende Instrumente wie Onboarding, Offboarding oder Verwaltung von Stammdaten zu digitalisieren, sei die Cloud sehr gut geeignet und oft günstiger als maßgeschneiderte Produkte.

„In Summe hat Daimler bisher die meisten Musterbrüche im Dax geschafft
„In Summe hat Daimler bisher die meisten Musterbrüche im Dax geschafft", meint Marc Stoffel, CEO von Haufe-umantis.   Foto: Stefanie Hornung

 

So habe die Standard-Cloud viele Vorteile, könne aber in Konzernstrukturen agile Netzwerke nicht kundenzentrisch zu empowern, Feedback einbeziehen und Musterbrüche ermöglichen. Das Ergebnis: Die Rolle von HR und IT werde geschwächt, weil man in der Entwicklung nicht Schritt halten könne mit dem Business. „Je mehr Kunden auf die Cloud umstiegen, desto geringer wird ihr Einfluss. Und der Provider gewinnt an Macht.“ Das gehe nur schwerlich mit Experimentability zusammen. Haufe-umantis habe deshalb versucht, die Not zur Tugend zu machen: „Gemeinsam mit unseren Kunden haben wir begonnen zu experimentieren – und zwar unternehmensübergreifend und nicht jeder für sich. Wir möchten nicht mehr sagen, wenn wir etwas herausgefunden haben, erzählen wir es nicht.“ Das neue IT-Ökosystem bei Daimler sei ein Ergebnis dieser Seilschaft, in diesem neuen Lab aus Schlüsselkunden. „In Summe hat Daimler bisher die meisten Musterbrüche im DAX geschafft. Das zeigt: Wenn wir unser Verhalten ändern, wie wir zusammenarbeiten, intern zwischen IT, HR und der Linie, aber auch zusammen mit den Providern, dann können wir verdammt viel erreichen in 18 Monaten.“