New Work Selbstorganisation

Wolf Lotter über Diversity: Was den Unterschied macht

„Gleichheit ist nicht gerecht“, sagt Wolf Lotter. In seinem neuen Buch „Unterschiede. Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird“ fordert der Autor und Journalist stattdessen die Anerkennung von Individualität. Dabei machen klassische Unternehmen (bisher) keine gute Figur.

Foto: John Schaidler on Unsplash
Foto: John Schaidler on Unsplash

Gerechtigkeit = Gleichheit?

Diversity ist ein Gerechtigkeitsthema: Menschen sollen unabhängig von ihren individuellen Merkmalen, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts gleiche Chancen haben. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit oder Chancengleichheit beim Zugang in Führungskarrieren – kaum jemand würde dem aus einer Gerechtigkeitsperspektive widersprechen. Bei der Verteilungsgerechtigkeit geht es darum, wer welches Stück vom Kuchen abbekommt. Problematisch wird dieses Verständnis von Gerechtigkeit in klassisch hierarchischen Systemen, nämlich wenn Gerechtigkeit nach Gleichheit verlangt. Die Leistungsgerechtigkeit von Aristoteles – nach dem Motto „Gleiches gleich, Ungleiches ungleich“ – versagt, wenn Machtinteressen im Vordergrund stehen.

Wolf Lotters Buch „Unterschiede“ steht in einer Reihe von Werken, in denen sich der Autor mit dem Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft beschäftigt. In „Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken“ näherte er sich der Frage, was das Neue in dieser Übergangsphase ausmacht, während er in „Zusammenhänge“ eruierte, wie man das Neue in einer komplexen Welt beurteilen soll. Immer geht es bei Wolf Lotter um die Fähigkeit zum komplexen Denken, zum Sowohl-als-auch.

Es war so schön übersichtlich

Diversity ist für Wolf Lotter die Vielfalt individueller Eigenschaften und Bedürfnisse. Er führt seine Leserinnen und Leser über geschichtliche und etymologische Ausflüge zu der Einsicht, was der größte Feind von Diversität ist: die Unfähigkeit zum Entweder-oder, zur Differenz, die den Unterschied macht. Als schlechte Könige oder Anführer galten laut dem Historiker niemals diejenigen, die ihre Leute brutal öffentlich hinrichten, wenn sie gegen ihre Regeln verstoßen. Für schlecht halte man die, die ihre Brutalität nicht gleichmäßig verteilten – nach dem Motto, lieber Härte als Willkür.

Scharfsinnig analysiert Wolf Lotter die Mechanismen der Macht, die sich der Differenz als Mittel der Ausgrenzung bedienen. Etwa in der Art und Weise, wie sich das Christentum gegen die römische Vielgötterei durchsetzt: durch „ein Amalgam, dessen gemeinsamer Nenner seither jenes ‚Allumfassende‘ ist, was sich im griechischen Wort katholikós in seinem Ursprung ausdrückt.“ Insbesondere in Deutschlands sei dieser Einheitskult besonders ausgeprägt. „Kleinstaaterei“ brandmarkt er als Schimpfwort für politische Vielfalt. Hier klingt für den Autor die Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches 1871 nach, die als Chaos beschworen wird. Diese Tradition setze sich bis heute in Organisationen, Marken oder Verbänden fort. „Sie alle verwandeln sich in Vereindeutigungsinstitute, die nur schwer […] mit mehr als einer Meinung umgehen können.“

Die Gleichmacherei in Organisationen

Viele Organisationen hätten sich für derartige Gleichmacherei den passenden Werkzeugkoffer zugelegt. Das Benchmarking zum Beispiel. Was ursprünglich ein Orientierungszeichen für Landvermesser war, ist heute ein Maßstab der Anpassung, so Lotter. Statt festzustellen, wo man steht, geht es nur darum, so zu werden wie die anderen. Selbsterkenntnis? Fehlanzeige.

Aus Sicht des Innovationsenthusiasten Lotter liegt hier der Hund begraben: Organisationen gleichen sich gegenseitig an statt sich mit Innovationen und der Entwicklung von Produkten und Services zu übertreffen. Aus gesundem Wettbewerb wird bloße Konkurrenz des Immergleichen. Eine Reminiszenz an die Weltpolitik zur Zeit des kalten Krieges darf da nicht fehlen: „So wie sich Russen und Amerikaner im Versuch, sich auf der Grundlage heftiger Konkurrenz zu vergleichen, immer mehr annäherten, funktioniert das Vergleichsprinzip auch in der industriellen Wirtschaft.“

Dass sich Unternehmen heute gern ein Diversity-Mäntelchen umhängen, ist Wolf Lotter ein Dorn im Auge. Wer sagt schon etwas gegen Arbeitgeber, die plötzlich ihr Herz für Diversity entdecken und bunte Fahnen schwenken? Eben, fast niemand. Das erklärt er mit der „Schweigespirale“, die die Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann in den 1970er Jahren entwickelte: Sie sagt, vereinfacht, dass Menschen dem Meinungsklima der Gruppe folgen, in der sie sich befinden – aus „Isolationsfurcht“ werden sie zu Mitläuferinnen und Mitläufern. Menschen umgeben sich gerne mit anderen, die ein ähnliches Weltbild haben wie sie selbst. Die Anerkennung von individuellen Eigenheiten – sie tut oft weh und ist nicht leicht. Nicht alle finden diese Anstrengung erstrebenswert.

New Work braucht Regeln, aber neue

Anpassungsmuster erkennt Wolf Lotter in allen Facetten der verkappten Industriekultur, in der wir heute noch stecken – auch in der New-Work-Debatte. Er hält es mit österreichstämmigen Philosophen Frithjof Bergmann: Selbstverwirklichung heißt herausfinden, was wir „wirklich wirklich“ tun wollen. Positive Differenz wird zur Grundlage für Selbstbestimmung und Emanzipation. Hier räumt er allerdings mit einem großen Missverständnis in der New-Work-Szene auf: nämlich dem, dass es in Unternehmen einfach weniger oder gar keine Regeln mehr braucht, um die eigene Meisterschaft erkennen zu können. Das Problem dabei: Menschen folgen dann ungeschriebenen Gesetzen, in vorauseilendem Gehorsam quasi. Man tut, was man für normal hält und wiederholt doch nur die Geschichte.

„Die Unterschiedsbewegung ist mit der Diskussion um gendergerechte Sprache und eine Quotenregelung für Frauen keineswegs schon dort angekommen, wo sie eigentlich hingehört.“ Wolf Lotter über Unterschiede und Gleichheit.
„Die Unterschiedsbewegung ist mit der Diskussion um gendergerechte Sprache und eine Quotenregelung für Frauen keineswegs schon dort angekommen, wo sie eigentlich hingehört.“ Wolf Lotter über Unterschiede und Gleichheit. Foto: Katharina Lotter 2021

Wolf Lotter fordert deshalb Regeln als Marker der Freiheit und Entwicklungsfähigkeit. Für ihn geht es vor allem um die Qualität dieser Regeln: Sie sollen den Individuen nützen. Die Quote erwähnt der Essayist nur am Rande. Sie gehen ihm nicht weit genug. Statt einer Umkehrung der alten Machtverhältnisse fordert er eine komplett neue Unternehmenskultur. „Die Unterschiedsbewegung ist mit der Diskussion um gendergerechte Sprache und eine Quotenregelung für Frauen keineswegs schon dort angekommen, wo sie eigentlich hingehört.“ Anfreunden kann er sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, da es finanzielle Freiheit ermöglicht und damit die selbstbestimmte Wahl der gewünschten Tätigkeit erleichtert. Ihm schwebt eine Organisation neuen Typs vor: Netzwerke, in denen unabhängige Teile und Individuen freiwillig kooperieren. Wie können Netzwerkorganisationen konkret aussehen? Haben nur Start-ups eine Chance, eine solche Kultur aufzubauen oder wie können sich bestehende Organisationen dorthin bewegen? Die Antwort bleibt er schuldig. Offensichtlich hält er die Menschen für mündig genug, dies selbst herauszufinden.

Hat echte Vielfalt eine Chance?

Wer Praxistipps sucht, wird also enttäuscht. Die Lektüre von „Unterschiede“ lohnt sich aber für alle, die verstehen möchten, warum Diversity in der Arbeitswelt so schwer ist. Aus Vielfalt wird dann Gerechtigkeit, wenn das gelingt, was der Philosoph John Rawls betont: „Gleichheit und Gerechtigkeit werden nicht gewährt, sondern von freien Menschen in einer freien, offenen Gesellschaft erzeugt, verhandelt also.“ Entscheidend sind dabei die Kompetenz und Fairness derer, die diese Verhandlungen führen. Das bleibt meist einer Elite vorbehalten: „Beim Reden über Diversität treffen nicht selten besser gebildete Bürgerkinder (m/w/d) aufeinander“, erkennt Wolf Lotter. Diesen Punkt kann man dem Autor selbst vorhalten, auch wenn er in seinem Essay die Bedeutung von Bildung hervorhebt und mehr Erziehung zu eigenem Denken fordert. So wie man sich Individualismus nur leisten kann, wenn man zur Elite gehört, ist es mit der intellektuellen Vielfaltsdebatte. Doch Wolf Lotter glaubt an die Kraft der Erkenntnis, auch wenn es nur langsam vorangeht. „So stolpern wir mehr in die Freiheit, als aufrecht in sie zu gehen. Immerhin, wir bewegen uns“, macht er Hoffnung.