Agilität Selbstorganisation

Wenn Ordnung Leben oder Firmen rettet

Die Welt des neuen Managements ist voller hochtrabender Begriffe und gut gemeinter Ratschläge. Was davon aber bewährt sich im harten Alltag eines Interim- und Turnaroundmanagers? Dr. Bodo Antonic gibt Antworten. Diesmal: „Chaos Management“.

Management heißt irgendwann immer Chaos managen

Chaos-Management? Ein Hype, den ich verpasst habe? Das werden Sie sich angesichts meines heutigen Schlagworts sicher fragen. Doch diesmal liegen die Dinge anders. Heute geht es mir nicht um ein sinnentleertes, aber populäres Buzz Word. Heute beschäftige ich mich tatsächlich damit, wie es gelingt, das Chaos zu managen und im Chaos zu managen.

Einfache Probleme lassen sich mit Routine und Erfahrung lösen; komplizierte Probleme können durch Experten aus der Welt geschafft werden; komplexe Probleme dagegen brauchen das Ausprobieren, Nachjustieren und Dazulernen. Und chaotische?

Diese Disziplin ist unter praktizierenden Managerinnen und Managern verbreiteter als Sie denken. Früher oder später trifft es jede und jeden, die Unternehmen, Bereiche oder Teams durch turbulentes Wasser steuern. Und für jene, die wie ich vor allem in Krisen- und Turnaroundsituationen zum Einsatz kommen, ist Chaos-Management fast schon Alltag.

Ob Love Parade oder Sturm aufs Kapitol: Das Chaos als Bewährungsprobe

Was also verstehe ich unter Chaos-Management? Wenn Sie es nicht nur verstehen, sondern spüren wollen, dann holen Sie noch einmal folgende Erinnerungen hoch. Damals, 2010, die Ereignisse bei der Love Parade in Duisburg, als Menschen beim Marsch durch einen Tunnel panisch wurden und beim Versuch, dem Druck von allen Seiten auszuweichen, sich gegenseitig niedertrampelten.

Die Loveparade-Katastrophe von Duisburg und der Sturm aufs Kapitol in Washington zeugen davon, was passiert, wenn sich Ordnung in Chaos auflöst. Gegen Angst, Panik, Orientierungslosigkeit gibt es nur ein Mittel: Führung!

Oder sie vergegenwärtigen sich die Bilder von vor einem Jahr, wie ein Mob am 6. Januar das Kapitol in Washington stürmte. Eine ARD-Doku dazu, die unter die Haut geht, findet sich noch in der Mediathek. Sie zeigt eindrücklich, wie eine Handvoll Polizisten mehrere Stunden einen Eingang gegen heranstürmende Chaoten verteidigen, um deren Eindringen ins Kapitol zu verhindern.

Bei „Flight, Fight, Freeze“ braucht es Führung

Beide Ereignisse zeugen davon, was passiert, wenn sich Ordnung in Chaos auflöst. Wenn Menschen den Verstand verlieren und nur noch triebgesteuert reagieren. „Fight, Flight, Freeze“, wie es die Amerikaner nennen. Es ist der Moment, wenn sich alle Phantasien von Selbstorganisation und „shared leadership“ ganz in Luft auflösen. Weil es gegen die Angst, die Panik, die Orientierungslosigkeit nur ein Mittel gibt: Führung! Führung, die sagt, wo es langgeht, was zu tun ist, warum alles gut wird und was es dazu braucht.

Das ist der Job des Chaos-Managers. Und er tritt in kaschierter Form auch im Manageralltag auf, ohne das gleich ein Chemieunfall, eine Werksbrand oder ein Amoklauf damit verbunden sind. Ein abspringender Schlüsselkunde, eine brisante Presseanfrage, ein Produktionsstopp, eine sich anbahnende Zahlungsunfähigkeit können Ähnliches auslösen – und bedürfen im Akutstadium durchaus ähnlicher Antworten in der Führung.

Kompliziert, komplex oder chaotisch? Das ist die Frage

Einen erhellenden Artikel dazu hat der Schöpfer des Cynefin-Frameworks David J. Snowden schon 2007 in der Harvard Business Review veröffentlicht. Dem Waliser verdanken wir die sehr hilfreiche Unterscheidung von einfachen, komplizierten, komplexen und chaotischen Herausforderungen im Management und in der Führung.

In Kürze zeigt Cynefin, was ich im Management-Alltag beständig erlebe und lebe: einfache Probleme lassen sich mit Routine und Erfahrung lösen; komplizierte Probleme können durch Experten in relevanten Gebieten aus der Welt geschafft werden; komplexe Probleme dagegen brauchen das Ausprobieren, Nachjustieren und Dazulernen.

Im Chaos zählen die Sprache, Klarheit im Auftritt, Wachsamkeit und Konzentration auf die wirklich wichtigen Dinge.

Und chaotische Herausforderungen? Die brauchen Führung, Führung, Führung! Für Snowden besteht sie darin,

  • durch „Weisung und Kontrolle“ wieder ein Mindestmaß an Ordnung herzustellen (was im Duisburger Tunnel Leben gerettet hätte)
  • schnell in Erfahrung zu bringen, was in dieser unbekannten und diffusen Situation wirkt und funktioniert (ausprobieren, aber nicht als Spiel, sondern als Überlebensstrategie mit hohem Erfolgsdruck).
  • klar und eindeutig zu kommunizieren (was am besagten Eingang zum Kapitol der Diensthabende auf eindrückliche Weise tut, indem er seinen Kollegen Mut zuspricht, ihnen Verständnis entgegenbringt und ausgelaugte Kräfte aus der ersten Reihe nach hinten beordert und frische nach vorne – und das über Stunden).

Was mich mein Job gelehrt hat, um im Chaos zu bestehen

Aus meiner Praxis in weniger dramatischen, aber durchaus ähnlich angespannten Situationen wäre dem noch hinzuzufügen:

  • Auf die Sprache kommt es an: Leute direkt ansprechen, dabei die guten alten Tun-Wörter verwenden. „Sie kümmern sich jetzt bitte um …“
  • Immer den Grund nennen: Auch klare Anweisungen gewinnen an Wirkung, wenn die Absicht dahinter genannt wird. „So können wir Arbeitsplätze retten, die Insolvenz vermeiden, den Kunden halten …“
  • Klarer Auftritt: Alle Selbstzweifel und Ängste beiseite schieben, Entschlossenheit und Bestimmtheit ausstrahlen. Je brenzliger die Situation, desto mehr …
  • Quertreiber und Renitente ignorieren und separieren: Jetzt braucht es die „Koalition der Willigen“, diskutiert wird anschließend …
  • Immer wachsam bleiben: Wenn alle den Verstand verlieren, muss die Person, die führt, einen besonders kühlen Kopf bewahren …
  • Auf ganz wenige Dinge fokussieren: Denn alle Kraft und Aufmerksamkeit müssen dorthin fließen, wo dem Chaos am effektivsten beizukommen ist …

Mein Tipp: Sich rechtzeitig und immer wieder auf mögliches Chaos einstellen.

In meinen Einsätzen hat mir das immer wieder geholfen, ein um sich greifendes Chaos in den Griff zu bekommen. Alle sich anschließenden Schritte, eine latente Krise oder ein akutes Problem aus der Welt zu schaffen, wären ohne dieses Chaos Management weder denkbar noch realisierbar gewesen. Insofern empfehle ich allen Kolleginnen und Kollegen, sich früh und intensiv mit dieser verkannten Managementdisziplin auseinanderzusetzen.