New Work Organisationsentwicklung

„Unsere Kultur rettet uns den Arsch“

Interview Die Corona-Krise trifft die Touristikbranche besonders hart - so auch die rund 70 Hotels und Ferienwohnanlagen von Upstalsboom an Nord- und Ostsee. CEO Bodo Janssen verbreitet dennoch Zuversicht. Ein Gespräch über den Umgang mit Unsicherheit.

„Unsere Position in der Krise ruft auch Gegenwehr hervor“, sagt Bodo Janssen, Geschäftsführer von Upstalsboom.
„Unsere Position in der Krise ruft auch Gegenwehr hervor“, sagt Bodo Janssen, Geschäftsführer von Upstalsboom.

Herr Janssen, wie sieht die momentane Situation bei Upstalsboom aus?

Diffus und unklar. Die Mehrheit der Mitarbeiter ist in Kurzarbeit. Gerade haben wir für die Wiederaufnahme des Betriebs ein Hygienemanagement-System erarbeitet. Wir müssen Klarheit schaffen, damit die Mitarbeiter nicht wie Champignons im Dunkeln sitzen. Neben einem Podcast, in dem ich regelmäßig über die Entwicklungen spreche und in dem wir Fragen diskutieren, installieren wir gerade einen Faktentracker, über den wir auch Gäste laufend informieren. Gleichzeitig möchten wir uns nicht an Spekulationen beteiligen, sondern warten ab, welche Beschlüsse es in den verschiedenen Bundesländern gibt, in denen wir agieren. Die ganze Diskussion über das, was passieren könnte, kostet sonst viel Energie.

Auch wenn Sie sich nicht an Spekulationen beteiligen, müssen Sie flexibel auf die verschiedenen Szenarien reagieren können. Wie stellen Sie das sicher?

Darum kümmert sich unser Krisenstab. Als am 15. März die Meldung kam, dass die Inseln zugemacht werden, hat dieser sich kurz darauf proaktiv auf Initiative der Mitarbeiter gebildet. Das ist ein rollierendes Team. Jeder, der glaubt, einen Beitrag leisten zu können, macht für anstehende Aufgaben eine Zeitlang mit – Leute aus ganz verschiedenen Bereichen. Alle mussten dabei etwas tun, was sie bisher noch nicht getan haben, etwa neue Technik zu nutzen. Manche Mitarbeiter wachsen mit ihren Aufgaben. Wir haben beispielsweise einen Kollegen, der sich in der Politik engagiert und Banker ist. Mit seinem Faible für Zahlen ist er nun in doppelter Hinsicht eine Bank für uns. Wir haben eine starke Gemeinschaft, obwohl wir uns kaum begegnen dürfen. Das gibt uns eine enorme Entwicklungsgeschwindigkeit. Deshalb sind wir voller Zuversicht und Optimismus.

Die wirtschaftliche Lage dürfte dennoch angespannt sein…

Wir sind ein Saison-Betrieb und kommen aus der Nebensaison. Da sind die Kornspeicher nicht so voll. Der Lockdown war etwa so, wie wenn man in der Wüste umhergeht und eine Oase sieht, die sich kurz vor Erreichen als Fata Morgana herausstellt. Aber wir waren in der Vergangenheit sehr erfolgreich und haben einige Rücklagen. Wir sind vom Portfolio her gut aufgestellt und könnten mir den von der Regierung geschaffenen Rahmenbedingungen ohne Umsätze etwa ein Jahr überleben.

Wie detailliert erklären Sie das Ihren Mitarbeitern?

Wir haben anhand konkreter Zahlen aufgezeigt, welcher Liquiditätsbedarf für jedes Hotel entsteht, welche Verluste wir haben und wie viel Geld uns durch aktuelle Maßnahmen zur Verfügung stehen – sei es Vergleichsgelder von Versicherungen, Zuschüsse oder Kredite. Die Mitarbeiter wissen, dass wir noch einmal die gleiche Summe generieren können wie wir sie schon für dieses Jahr veranschlagt haben.

Das ist eine neue Dimension an Transparenz und für uns auch neu. Um das leicht verständlich zu machen, haben wir die finanzielle Lage anhand eines Ampelsystems erklärt. Solange ich sage, es ist alles im grünen Bereich, wissen die Mitarbeiter, wir können die Situation aus operativen Mitteln heraus stemmen. Wenn wir in den gelben Bereich kommen, wird es eng, dann müssen wir an die Substanz und die eine oder andere Immobilie losschlagen. Der rote Bereich heißt: „Leute, zieht die Köpfe ein, es geht tatsächlich Richtung Insolvenz“. Durch das Ampelsystem wissen alle genau, wo wir stehen.

Demnächst ist der Betrieb in Hotels und Restaurants unter Auflagen wieder erlaubt, allerdings nicht mit der vollen Auslastung. Kann man da langfristig überleben?

Wenn ein Hotel oder Restaurant nur zu 50 Prozent belegt werden darf, dann ist das zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Deshalb kommt es jetzt auf die Initiative jedes einzelnen Mitarbeiters an. Das sieht man zum Beispiel bei unserem Hygienemanagement-System. Zunächst hat sich ein Team von Mitarbeitern überlegt, was die neuen Abstands- und Hygieneregeln für uns bedeuten, organisatorisch, wirtschaftlich und in Bezug auf unsere Leistung. Einige haben eine vorläufige Endfassung der Voraussetzungen und Rahmenbedingungen erarbeitet. Dann benennt jedes Hotel einen Hygienebeauftragten, der oder die das System weiter entwickelt für den jeweiligen Standort. Die Mitarbeiter kennen das operative Geschäft und finden deshalb selbst die besten Lösungen. Ich mische mich da nicht ein, sondern gebe nur Hinweise oder stelle Fragen.

Zum Beispiel?

Ich frage: „Welche verbliebenen Angebote müssen geclustert werden, um den absoluten Deckungsbeitrag zu verbessern?“ Oder: „Welches F&B-Angebot (food & beverage = Essen und Getränke, Anm. der Redaktion) könnt Ihr unter dem Aspekt der 50-prozentigen Auslastung und der Wirtschaftlichkeit befürworten?“

Wie bauen Sie Ihre Fragen oder Hinweise konkret in Meetings ein?

Wir setzten dabei auf eine Methode, die aus dem Kloster kommt. Am Anfang hat jeder der Teilnehmer reihum einen Moment Zeit, um aus seiner Perspektive Gedanken zu formulieren oder Fragen zu stellen. Danach sind wir für einen Moment ganz still. Anschließend gibt es weiteren Input und durch eine hohe Interaktion lösen sich viele Fragen. Am Ende schließen wir mit einer Zusammenfassung und oft kommt noch ein Impuls von mir.

Wir kommunizieren sehr klar und deutlich, was möglich ist und was nicht. Und das kommt bei den Mitarbeitern gut an.

 

Zurück zur Wiedereröffnung. Inwiefern gehen die Mitarbeiter nun aus der Kurzarbeit heraus?

Wir fragen alle Mitarbeiter: Wer möchte unter diesen Umständen überhaupt arbeiten? Gibt es Menschen mit Vorerkrankungen oder vorerkrankten Familienmitgliedern? Für diejenigen, die in Kurzarbeit sind, müssen wir in die Kompensation gehen und einen gewissen Ausgleich der Differenz zum normalen Gehalt bieten. Die Mitarbeiter kennen unsere Bordmittel und wissen, wie weit wir da gehen können. Wenn es bei einzelnen wirklich wirtschaftlich kriminell wird, finden wir eine Härtefallregelung. Wir kommunizieren sehr klar und deutlich, was möglich ist und was nicht. Und das kommt bei den Mitarbeitern gut an.

Es kam vor, dass einige Mitarbeiter vorübergehend Aufgaben übernommen haben, die in dieser Situation wichtig waren, so dass sie währenddessen die Kurzarbeit reduzierten. Sie haben uns von sich aus berichtet, wenn sie fertig waren und gesagt, wir gehen wieder runter mit der Arbeitszeit. Da versucht niemand seinen eigenen Vorteil in den Vordergrund zu stellen.

Gilt das auch für die Führungskräfte?

Da differenzieren wir nicht, die Führungskräfte sind genauso in Kurzarbeit. Prinzipiell werden erst einmal alle auf null gesetzt. Wenn jemand systemrelevante Aufgaben hat, zum Beispiel die Arbeit im Krisenstab oder eine Grundreinigung der Ferienwohnungen, die wir nun als zusätzliche Leistung anbieten – dann gibt es dafür ein Kontingent. Jeder stuft sich selbst ein. Das ist Teil unserer Kultur. Auch ich bin als Geschäftsführer vom Gehalt her runtergegangen, in etwa so als ob ich in Kurzarbeit auf null wäre.

Wie geht man Ihrer Ansicht nach als Führungskraft am besten mit der aktuellen Unsicherheit um?

Wir sind nicht dafür verantwortlich, welche Emotionen wir haben, aber dafür, wie wir damit umgehen. Ich hatte durchaus Situationen in den ersten beiden Wochen, in denen sich Gefühle wie Trauer, Wut, Ohnmacht oder Angst eingestellt haben. Mir hat geholfen, was ich in unserer Ausbildung zur Logotherapie erfahren habe, die wir für viele Führungskräfte anbieten.

Mir ist wichtig, dass Menschen wachsen können – dieses Ziel geht über das eigene Unternehmen hinaus.



Dabei geht es auch um Demut und die Fähigkeit, das eigene Selbst zurückzunehmen. Gerade erlebt die soziale Beschleunigung eine Vollbremsung. Die Ausrichtung auf den Wettbewerb führt dazu, dass wir immer besser sein müssen als unsere Mitbewerber. Deshalb sind wir mit dieser Hochgeschwindigkeit unterwegs. Vieles von dem, was vermeintlich Zufriedenheit und Sicherheit bringt, verliert an Bedeutung. Da stürzen gerade so einige Sandburgen ein. Das gibt uns die Möglichkeit, uns damit zu beschäftigen, was wirklich zählt: Jede Berufung übersteigt eine bestimmte Situation oder Institution. Mir zum Beispiel ist wichtig, dass Menschen wachsen können – und dieses Ziel geht über das eigene Unternehmen hinaus.

Was steckt genau hinter der Logotherapie?

Die Logotherapie wurde von Viktor Frankl gegründet. Bekannt ist sie auch als „Dritte Wiener Schule der Psychoanalyse“ nach Sigmund Freud und Alfred Adler. Viktor Frankl praktizierte während der Nazizeit in Wien als Psychiater und überlebte das Konzentrationslager – er kennt also durchaus schwierigere Situationen als unsere heutige. Dennoch war er der Ansicht, dass es immer eine Möglichkeit gibt, etwas Sinnvolles zu tun. Wir haben uns entschieden, diese Haltung als Führungskompetenz zu entwickeln.

Wir lernen sie diese Haltung?

Unsere Führungskräfte können beim aktuellen Inhaber des Lehrstuhls von Viktor Frankl, Professor Alexander Batthyány, drei Module durchlaufen. Im ersten Modul haben wir das Gelassenheitsgebet kennengelernt, das ursprünglich von dem griechischen Philosophen Epiktet stammt und durch Theologen interpretiert wurde. Die meisten werden es kennen: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Es kommt nicht auf die Bedingungen an, denen wir ausgesetzt sind, sondern was wir aus ihnen machen.

Nicht alle Vertreter der Reise- und Touristikbranche sind so zuversichtlich…

Ja, unsere Position in der Krise ruft auch Gegenwehr hervor. Kürzlich hat mich nach einem Radiointerview ein Hotelier angeschrieben und gesagt: „Sie erweisen der Branche einen Bärendienst. Wir müssten nach Berlin gehen und Druck machen!“ Bei der Frage, ob wir mehr Widerstand leisten sollten, kommt es für mich darauf an, aus welcher Motivation heraus das geschieht. Bei vielen dieser Stimmen habe ich das Gefühl, da ist jeder sich selbst am nächsten. Das kann man auch in der Automobilindustrie oder der Luftfahrt beobachten. Wenn uns jemand dazu auffordert, irgendwelche Petitionen zu unterzeichnen, dann schauen wir uns an, ob es darum geht, das Gesamte zu stärken. Bei unseren Mitarbeitern erlebe ich in allen Belangen ein starkes Engagement.

Inwiefern? Haben Sie dafür Beispiele?

Wir haben einen Onlineshop, in dem wir jetzt auch Dinge verkaufen, die durch manche von uns für die Krise produziert werden – Gesichtsmasken oder Meditationsbänke. Eine Mitarbeiterin hat beispielsweise einen Nebenjob als Kassiererin angenommen. Sie hat mir explizit gedankt, dass wir offen kommuniziert haben, dass wir von einer Öffnung in nächster Zeit nicht zu viel erwarten sollen. Das war zwar im ersten Moment doof für sie, aber sie konnte sich dadurch viel stärker auf eine andere Perspektive einlassen. Das zeigt auch: Unsere Kultur ist durch ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein geprägt und berücksichtigt die Erfordernisse der Gemeinschaft.

Glauben Sie, dass andere Unternehmen, die bisher keine solche Kultur der Eigenverantwortung und Partizipation haben, nun in der Krise Ihren Weg kopieren können?

Partizipation kann man nicht verschreiben und auch nicht per Knopfdruck aktivieren. Das muss man geübt haben. Denn es gibt dabei zwei Seiten: Das eine ist, sich Partizipation zu wünschen, das andere, sie auch aktiv anzunehmen. In Stresssituationen greifen wir auf frühere Hirnareale zurück, auf das, was wir in der Vergangenheit erlebt haben. In dem Sinn rettet uns unsere Kultur gerade den Arsch. Dieses beherzte zupackende Handeln aller kann man nicht per Anweisung erwirken.

Mit Lohneinbußen und drohendem Arbeitsplatzverlust steht dennoch für viele die persönliche Existenz auf dem Spiel. Ist die Konzentration auf die eigene Berufung jenseits von Institutionen nicht eine Luxus-Situation?

Das hat etwas damit zu tun, wie resilient wir gegenüber den äußeren Umständen sind. Je bewusster sich Menschen ihrer selbst sind, desto unabhängiger fühlen sie sich von den Umständen. Upstalsboom unterstützt in Ruanda den Bau von Schulen und viele unserer Mitarbeiter waren in dem Zusammenhang schon dort. Da kriegt man ein anderes Verhältnis zu unserer Krise, wenn man sieht, wie anderswo die Menschen an Hunger sterben. Gerade müssen wir auf vieles verzichten, aber gleichzeitig können wir unsere Zeit ganz anders nutzen. Wenn es uns gelingt, uns von den Verhältnissen und den äußerlichen Dingen frei zu machen, gewinnen wir geistige Freiheit.

Ich habe beschlossen, dass ich auch in Zukunft 80 Prozent der Dienstreisen nicht mehr machen werde.

 

Welchen Verzicht leisten Sie derzeit?

Ich verzichte auf sehr viele Nachrichten, auf unnötigen Konsum und auf Reisetätigkeit. Den Pullover, den ich jetzt tage, habe ich schon seit fünf Jahren. Normalerweise wäre ich aktuell ständig zu Vorträgen oder Buchvorstellungen unterwegs. Seit dem Shutdown bin ich nicht aus Emden herausgekommen. Ich gewinne aber auch viel Zeit für mich und meine Familie. Ich bin viel mehr mit meinen drei Kindern zusammen, kann abends mit ihnen Elfmeterschießen machen oder mit ihnen singen. Ich habe einen kleinen Acker angelegt, wo ich Kartoffeln und Gemüse anbaue. Mehl, Hefe, Dosentomaten – wir sehen ja auch, dass die Menschen in der Krise vor allem grundlegende Bedürfnisse haben. Wir erleben gerade eine neue Lebensqualität und das möchte zumindest ich mir sichern. Ich habe beschlossen, dass ich auch in Zukunft 80 Prozent der Dienstreisen nicht mehr machen werde. Den neuen Dienstwagen habe ich gar nicht erst bestellt. 

Was heißt das dann für Upstalsboom? Reisen ist ja ihr Kerngeschäft und Sie betreiben auch luxuriöse Wellness-Hotels...

Eine Antwort in der Produktentwicklung ist unser Hotel am Rande der Welt, das Upleven. Das Konzept „Raum für Zeit in Stille“ hat mit der klassischen Hotellerie gar nichts zu tun. Da gibt es keinen Wellness-, sondern einen Meditationsbereich. Statt der Flucht in die Sinne geht es dort um die Suche nach dem Sinn. Stille ist dort der Luxus. Das ist ein Beispiel für die konsequente Weiterentwicklung des sogenannten Upstalsboom-Weges.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass die aktuellen Lockerungen allmählich wieder in eine Art Normalität führen?

Die Diskussionen um Lockerungen ohne einen klaren Fahrplan führen dazu, dass so eine Art Hufescharren entsteht. Sie fördern das Gefühl: Alles wird gut. Da kann zu viel Zuversicht schädlich sein. Ich spreche lieber von vorläufiger Wiedereröffnung, denn ich rechne damit, dass eine zu schnelle Lockerung dazu führen kann, dass wir wieder schließen müssen. Statt blindem Vertrauen sollten wir dankbar sein für alles, was jetzt gerade möglich ist. Wir freuen uns darüber, wenn wir auch nur einen einzigen Monat öffnen können. Unsere Strategie ist eine nüchterne Betrachtung. Wir bewahren uns davor, zu euphorisch zu sein. Sonst ist die Enttäuschung unter Umständen sehr groß.