Innovation Business Transformation

Vernetzung und Verflüssigung

Analyse Wir brauchen einen meta-disruptiven Wandel unserer Vorstellungen und Theorien von Wertschöpfung, Organisationen und Ökonomie in Richtung agiler, ko-kreativer Ecosysteme. Mit diesem Wandel sind enorme ökonomische Potenziale verbunden. Zugleich wird eine solche neue Logik unsere Management-Modelle, Plattformen und Forschung und Lehre fundamental verändern.

Endlich – die „Digitalisierung“ wird (von manchen) wirklich verstanden

Lange Zeit wurde die Digitalisierung in Deutschland als ein technologisches Problem missverstanden. Digitale Cargo-Kulte wie eine reine Effizienzoptimierung der alten Prozesse durch Technologie oder digitale Labs waren die Ikonen einer Zeit der digitalen Irrwege des Mainstreams, oft getrieben von den Eigeninteressen von Technologie- und Beratungsanbietern und externen wie internen Evangelisten. Selbst Konzepte wie Big Data und KI (Künstliche Intelligenz) oder IoT (Internet of Things) und Industrie 5.0 verdeutlichen in ihrer Betonung der „technischen“ Enabler, dass die wahre ökonomische Emergenz aus den Big Shifts – den großen Treibern unserer Zeit nach John Hagel – oft nicht verstanden wird. Das ist schade, weil die enormen neuen Potenziale für den Wohlstand und die Bewältigung unserer Weltprobleme so in den alten Denk- und Handlungsmustern der bisherigen ökonomischen Logik nicht gehoben werden.  Ikonisch formulierte dies einst Thorsten Dierks, wobei der Begriff der Vereinfachung zu kurz springt: "Wenn Sie einen Scheißprozess haben und den digitalisieren, dann haben Sie einen digitalen Scheißprozess. Das Schwierige ist ja nicht die Digitalisierung an sich. Das Schwierige ist die Vereinfachung von Strukturen und Prozessen."

Wenn Sie einen Scheißprozess haben und den digitalisieren, dann haben Sie einen digitalen Scheißprozess. Das Schwierige ist ja nicht die Digitalisierung an sich. Das Schwierige ist die Vereinfachung von Strukturen und Prozessen.
Thorsten Dierks

Durch die sogenannten „Big Shifts“ nach Hagel, also fundamentale Veränderungen bei Technologie, Kultur und Komplexität und Komplexitätsfähigkeiten, geraten die alten Denk- und Handlungsmuster unserer materiellen Welt im „Immateriellen“ unter Druck. Insbesondere durch Connectifying (Vernetzung) und Cognifying (KI) verändern sich Schlüsselkonzepte wie Markt, Produkt und Organisation. Nach ihrer  „Entgrenzung“ und „Verflüssigung“ durch den technologischen Wandlungsdruck in Richtung Digitalisierung, Connectifying und Cognifying wie auch durch den kulturellen Wandlungsdruck in Richtung höherer Kooperationsbereitschaft und neue Komplexitäten wie Komplexitätsfähigkeiten betreten am Ende vollkommen neue Denk- und Handlungs-Muster und eine neue ökonomischen Logik die Weltbühne. Im Sinne der normativen 4I von Heribert Meffert (Individualität, Integrität, Integration, Innovation) können alte mentalen Modelle nun vor allem individualisierter und integrierter gedacht werden. Produkte und starre Märkte sowie Organisationen werden zu Ko-Kreationen und agilen beziehungsweise fluiden Ecosystemen. Diese Transformation mit ihren Verflüssigungen/Entgrenzungen betrifft alles. Philipp Kotler hat die Meta-Transformation der Konzepte für die 4P dekliniert, die bei ihm zu den 4C werden, indem

  • aus dem Produkt nun die Kokreation (Co-Creation),
  • aus der Promotion die Konversation (Conversation),
  • aus der Platzierung die multiple Kontextualisierung (Kotler: Coactiviation) und
  • aus dem Preis die Kopartizipation (Kotler: Currency) wird.

Die enormen Potenzialen der neuen „digitalen“ Denk- und Gestaltungsmuster

Vor Jahren schon haben wir bei einem Spin-Off des Fraunhofer-AZ für logistikorientierte Betriebswirtschaft von einer Ökonomie der Competence Networks und des Competence Networkings gesprochen, folgen nun aber gerne der „Neusprache“ der Ecosysteme. Namen sind Schall und Rauch. Wichtig sind die enormen Potenziale der neuen Natur und Logik des Ökonomischen! Was Jahrhunderte seit Smith, Taylor & Co unser Denken und Handeln geprägt hat, können und sollten Sie vor allem vergessen, da der alte Fokus auf skalierbare Effizienz durch Arbeitsteilung und Komplexitäts-Entkopplung in einer „Beyond-VUCA-Welt“ nicht mehr wettbewerbsfähig sein wird.

Die materielle Transformation ist im Zeitalter von Daten-Ökonomie und 3D-Druck nur noch der Wurmfortsatz des Ökonomischen und die materialistische Koordination durch alte Ego-Logiken sind in der Regel die schlechteste spieltheoretische Alternative. Die neue ökonomische Logik der agilen, ko-kreativen Ecosysteme mit ihrem Mehr an Individualisierung und Integration nach Meffert sorgt für Potenziale in allen Dimensionen der Wertschöpfung. Ich nenne das die „6 Power of P“.

  • Besseres Kreieren von Werten (horizontal)
    • Power of Personalization / Ko-Kreation (Individualisierung)
    • Power of integrated Problem Solving (Integration)
  • Besseres Management des Wertschöpfens (vertikal)
    • Power of emPowerment der Kompetenz der Zelle (Individualisierung)
    • Power of Pull (new Partnership) des Netzwerks / des Ecosystems (Integration)
  • Besseres (skalierendes) Lernen für neues Wertschöpfen (diagonal)
    • Power of agile Prototyping (Individualisierung)
    • Power of scalable Pattern (Integration)

Produkte beziehungsweise Services werden im Rahmen dieser „Großen Transformation“ also individualisierter und integrierter, wir arbeiten besser zusammen durch ein Empowerment der Individuen und Zellen und eine bessere Kollaborations-Logik im Netzwerk („Kollaboration 4.0“). Und wir schaffen es schließlich auch durch agiles Prototyping und nachhaltige Pattern, das Spannungsfeld von Schnelligkeit und Nachhaltigkeit zu balancieren.

Die Zukunft heißt Ko-Kreation.
Die Zukunft heißt Ko-Kreation.

Erfahrungen auf dem Weg zu einer neuen ökonomischen Theorie

Bevor wir nun eine „neue“ formale Theorie für ko-kreative Ecosystemen skizzieren, wollen wir noch einmal betonen, dass die zugrunde liegenden „neuen“ Konzepte keineswegs so neu sind. John Hagel spricht schon lange von der „Power of Pull“ als Basis der exponentiellen Potenziale und nun vom „Scalable Learning“ als neuer Basis der Organisation im Zeitalter der Big Shifts.

Noch viel älter sind natürlich die theoretischen Vorarbeiten auf dem Weg zu einer formalen Theorie ko-kreativer Ecosysteme. Am Ende sind ko-kreative Ecosysteme Netzwerk beziehungsweise aus der Sicht der Mathematik Graphen. Graphen bestehen aus Knoten und sie verbindendende Kanten, wobei Knoten und Kanten je nach Referenzdomäne sehr Unterschiedliches repräsentieren können. Das Eulerkreisproblem von 1786 gilt als Beginn der Graphentheorie, damals publizierte Leonhard Euler eine Lösung für das Königsberger Brückenproblem. Dort repräsentierten die Knoten Stadtteile von Königsberg und die Kanten Brücken. Aber auch zunehmend komplexere Graphen wie gefärbte oder gewichtete Graphen, Petri-Netzwerke oder aktuell natürlich „Neuronale Netzwerke“ sind am Ende Varianten von Graphen mit komplexen Eigenschaften der Knoten und/ oder Kanten. Domain-spezifische Theorien und Anwendungen sind in den Sozialwissenschaften zum Beispiel Soziale Netzwerk-Analyse oder die Akteurs-Netzwerk-Theorie oder in der Produktion/Logistik (Industrie 4.0) Kollaborations-Netzwerke digitaler und humaner Agenten.

Bereits vor einem Vierteljahrhundert lagen Arbeiten zur normierten Beschreibung ko-kreativer technischer Ecosysteme aus Basis etablierter, internationaler Standards vor.

Zunehmende Autonomie

Aber nicht nur die Soziologie fasst die Welt als Netzwerk kollaborativer Agenten auf. Das Modell der Fertigung anthropomorphisierte lange vor der Popularität von IoT und Industrie 4.0 jede Entität und jeden Prozess durch einen begleitenden „digitalen“ oder „virtuellen“ Agenten, der im Zusammenspiel mit anderen Agenten die Fertigungssteuerung realisierte, wobei sich auch Netzwerke von Zellen/Akteuren fraktal bildeten. „Beyond Industrie 4.0“ entdeckt nun die KI als Option, um durch Anthropomorphisierung (Vermenschlichung) des Internets der Dinge und ein Mehr an Intelligenz eine zunehmende Autonomie der Agenten in Richtung von Ecosystemen zu realisieren.

Auf Organisationen, menschen und Wissenschaft warten neue Forschungsfelder.
Auf Organisationen, Menschen und Wissenschaft warten neue Forschungsfelder.

Auf diesem Weg können sich viele andere Wissenschaften produktiv einbringen, vor allem auch die Informatik und hier insbesondere das System Engineering und die Komplexitäts-Theorien. Sie verfügen über einen reichen Schatz an Begrifflichkeiten und formalen Methoden. Begriffe wie Kopplung, Kohäsion, Pfadanalyse, Kommunikationskomplexität … werden sicherlich im Zeitalter der ko-kreativen Ecosysteme und ihrer systematischen Gestaltung an Aufmerksamkeit gewinnen.

Die rekursiven Fraktale kollaborativer Kognition

Soweit der Vorlauf zur Theorie. Nach Poppers letztem Buch vor seinem Tod ist Leben Problemlösen, Soziologen würden vielleicht erweiternd von sozialem oder kollaborativem Problemlösen sprechen. Passend zur Akteurs-Netzwerk-Theorie und dem Modell der Fertigung betrachteten wir ein Netzwerk-Fraktal kollaborativer Kognitionen als „basales“ bzw. grundlegendes Element einer rekursiven und verteilten kollaborativen Kognition. Die Emergenz kollaborativer Kognitionen ist wiederum Kognition, die rekursiv in anderen kollaborative Kognitions-Netzwerke einfließen oder wechselseitig, insbesondere auch selbstreferentiell gekoppelt sein kann. Hier wird nicht zwischen Subjekt und Objekt differenziert, jedes Subjekt ist auch Objekt und umgekehrt. Damit das Wunder laufend neuer Emergenz gelingt, sind vor und nachgelagerter Teilprozesse notwendig.

  • Matchen (C): Abgleich der Kompetenz-Profile komplementärer Kollaborateure / referenzierter „Sub“-Fraktale untereinander und gegen den Sinn / das Ziel des Fraktals
  • Vernetzen (N): Bilden von Netzwerken als Basis der Kollaboration zwischen den Teil-Fraktalen und der gewünschten Emergenz
  • Kollaboration, Emergenz (CN()): Generieren neuer Kognition auf Basis der Teil-Kognitionen der Kollaborateure / referenzierter „Sub“-Fraktale
  • Selbstreferenz (CN<=CN()): Beeinflussung von Umwelt, Kollaborateuren und Selbst

Man muss also auch Fraktale matchen, vernetzen, zur Kollaboration befähigen et cetera. Vom Welt-Fraktal über Ökonomien, Organisationen, Missionen, Mitarbeitern bis zur neuronalen Zelle – am Ende geht es stets darum, dass aus der Kollaboration von Kognitionen neue Kognition entsteht oder wir umgekehrt erkennen, dass Kognition im Innersten aus Kollaboration von Kognitionen entsteht.

Ausblick: New Management, Plattformen und Forschung und Lehre

Die hier skizzierte neue Natur und Logik des Ökonomischen wird sich umfassend auswirken und wirkt sich bereits umfassend aus. So verändert sie bereits fundamental die „New Management“-Modelle. Auch Plattformen werden ganz andere sein. An die Stelle der Dominanz der ERP-Systeme treten Ecosystem-Plattformen als Technologie-Unterstützung von fluiden „Organisationen“ und „Märkten“. Last, but not least müssen sich auch ökonomische Forschung und Lehre anpassen. Die bisherige betriebswirtschaftliche Forschung ist trotz des Siegeszugs der Verhaltensökonomie noch immer stark von einer „materiellen“ wirtschaftlichen Realität geprägt, die zunehmend Vergangenheit ist. Der Wandel wird hier nicht nur andere Theorien und Modelle erfordern, sondern sogar die Grundausbildung berühren. Die heute typische Mathematik zur Beschreibung von Preis-, Umsatz- oder Kostenkurven wird den strukturellen Komplexitäten von ko-kreativen Ecosystemen nicht gerecht. Am Ende werden BWL-Studenten an Netzwerk- und mehr Spiel-Theorie nicht vorbeikommen.