The Next Normal

Normal ist fatal

Kommentar Die Welt des neuen Managements ist voller hochtrabender Begriffe und gut gemeinter Ratschläge. Was davon aber bewährt sich im harten Alltag eines Interim- und Turnaroundmanagers? Dr. Bodo Antonic gibt Antworten. Diesmal: „New Normal“.

Normalzustand bedeutet festgefahrene Routinen. Deshalb Vorsicht vor der Sehnsucht nach dem neuen Normal.
Normalzustand bedeutet festgefahrene Routinen. Deshalb Vorsicht vor der Sehnsucht nach dem neuen Normal.

Was war noch mal das alte Normal?

Von überall her erreichen mich dieser Tage Hinweise, dass sich gerade ein „new normal“ (ein „neues Normal“?) anbahnt. Garniert ist der Hinweis mit allerlei Betrachtungen, was das für mich und meine Welt bedeutet. Das erwischt mich komplett auf dem falschen Fuß. Denn was war noch mal mein „altes Normal“?

Die hippe Formel hat mir vor Augen geführt, dass „ein Normalzustand“ für mich weder wünschens- noch erstrebenswert ist. Warum? Das hat mit meiner Rolle als Interimmanager zu tun, der immer wieder in neue Konstellationen eintaucht, unter Druck und Unsicherheit handelt und im Normalfall gar nicht zum Einsatz kommt. Der Ausnahmezustand ist mein natürliches Habitat.

Das hat aber noch viel mehr mit meiner Überzeugung zu tun, dass ein „Normalzustand“ Menschen und Unternehmen nicht guttut. Denn

  • ein Normalzustand bedeutet festgefahrene Routinen.
  • ein Normalzustand bedeutet falsche Sicherheit.
  • ein Normalzustand bedeutet lauer Gleichklang.

Gefährliche Sehnsucht nach Komfort

Das „neue Normal“ drückt für mich nichts weiter aus als die Sehnsucht, dass wenn schon alles anders wird, es doch wenigstens berechenbar und planbar wird. Dass die Welt in ruhigen Bahnen läuft und das neue Normal uns in die verloren gegangene Komfortzone zurückversetzt. Diese Sehnsucht ist nur allzu menschlich, aber gefährlich.

Störungen des Normalzustands sind ein Geschenk. Krisenreaktionsfähigkeit will trainiert sein wie ein Muskel. Flexibel ist nur, wer sich bewegt und täglich übt, sich an neue Gegebenheiten anzupassen.

Denn die nächste Störung unseres Normalzustands bahnt sich irgendwo bereits an. Und wieder wird sie uns auf dem falschen Fuß erwischen. Was wir alle brauchen, als Mensch wie als Organisation, ist das Bewusstsein, dass das Außergewöhnliche, die Störung unserer Gewissheiten und unserer Routinen, uns fitter und flexibler macht. Dass wir Praktiken brauchen, Störungen frühzeitig zu erkennen, mit ihnen umzugehen und an ihnen zu wachsen.

Störungen des Normalzustands sind ein Geschenk

Deshalb sind Störungen des Normalzustands für mich ein Geschenk. Und wo sie nicht von außen kommen, sorge ich im Unternehmen im dosierten Umfang selbst dafür. Krisenreaktionsfähigkeit will trainiert sein wie ein Muskel. Flexibel ist nur der, der sich bewegt und täglich übt, sich an neue Gegebenheiten anzupassen. Das Wort von der „Business Continuity“, der Sicherung der Geschäftsfähigkeit, beinhaltet für mich im Kern genau die Ausbildung dieser Fähigkeit.

Die nächste Störung unseres Normalzustands bahnt sich irgendwo bereits an. Und wieder wird sie uns auf dem falschen Fuß erwischen.

Was also tun vor diesem Hintergrund mit allem, was da als „neues Normal“ ausgegeben wird? Hier ein paar praktische Überlegungen.

Was tun? Der neu-normale Arbeitsort

Das neue Normal, heißt es, beinhalte mehr Arbeit von zu Hause und weniger im Büro. Darüber habe ich erst jüngst an dieser Stelle geschrieben. Hier mag der Hinweis genügen: Gut, dann probieren wir im Lockdown, wie das funktioniert und was es dafür braucht. Wir erweitern unseren Handlungsspielraum und lernen dazu. Aber muss unser neues Normal bereits jetzt als Fortsetzung des Ausnahmezustands in einer Pandemie definiert werden? Flexibler zu werden in der Frage, wer wann wo am besten arbeitet, wäre für mich der größere Gewinn.

Was tun? Der neu-normale Produktionsstandort

Das neue Normal, heißt es, bedeute die Rückverlagerung von Produktion und Zulieferleistungen ins lokale Umfeld. Gut, wenn uns der Ausnahmezustand dazu verholfen hat, hier wieder offener und unvoreingenommener zu denken. Und noch besser, wenn wir bewiesen haben, dass wir im Ernstfall schnell handeln können. Aber muss unser neues Normal wirklich gleich die Globalisierung in ihren positiven Aspekten in Frage stellen? Bewusster mit den Gefahren in Lieferketten umzugehen und Fallback-Lösungen zu schaffen, wäre für mich der bessere Weg.

Was tun? Die neu-normale Vertriebsschiene

Das neue Normal, heißt es, sei der durchdigitalisierte Vertrieb und Service. Gut, wenn jetzt auch der letzte begriffen hat, dass Daten und automatisierte Prozesse die Effizienz und Effektivität hier drastisch steigern. Aber soll das nun das „neue Normal“ sein. Wow, dann haben wir schon vor knappen 20 Jahren das neue Normal gelebt. Weil wir innovativ waren und das Bestehende in Frage gestellt haben.

Neu und gut wäre es, wenn wir uns konsequent dem Thema Kundenzentrierung zuwenden würden. Wenn wir akzeptieren würden, dass es ein Miteinander aus Effizienz, Kundennähe und Digitalisierung gibt. Freiräume zu schaffen, um wirklich für den Kunden dazusein und ihn bestmöglich und enger (auch virtuell!) zu betreuen, das wäre für mich die beste Kombination aus altem und neuem Normal.

Wir brauchen eine wache, positive Anspannung

Deshalb: Wenn die Menschheit einen Normalzustand braucht, dann sollte sie ihn definieren als die wache und positive Anspannung, jederzeit mit Störungen umgehen zu können, von ihnen zu lernen und an ihnen zu wachsen. Wenn Corona im Rückblick einmal irgendetwas Positives bewirkt haben mag, dann hoffentlich das.

Neu und gut wäre es, wenn wir uns konsequent dem Thema Kundenzentrierung zuwenden würden. Wenn wir akzeptieren würden, dass es ein Miteinander aus Effizienz, Kundennähe und Digitalisierung gibt.

Zu guter Letzt, denn ich sehe Sie förmlich mit dem Kopf schütteln: Tut uns die permanente Unrast und Störung überhaupt gut? Braucht es nicht auch Phasen der Rekreation? Für Menschen wie für Unternehmen? Ja, die braucht es. Aber auch Sportler verfallen zwischen zwei Wettkämpfen nicht in Behaglichkeit. Sie trainieren weiter. Das sollten wir mit Blick auf unsere Reaktions- und Anpassungsfähigkeit in unseren Unternehmen auch tun.