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Die Egoismus-Falle: Achtsamkeit in der Arbeitswelt

Kommentar Achtsamkeit habe im Büro nichts zu suchen, meinte Guido Schmidt an dieser Stelle. Diese Polemik sei viel zu pauschal, antwortet nun Markus Breitweg. Obwohl: So ganz von der Hand zu weisen sei die Kritik am Achtsamkeits-Hype nicht.

Achtsamkeit: In der Ruhe liegt nicht nur Kraft, sie birgt auch jede Menge Konfliktstoff. Foto: Colton Sturgeon, Unsplash
Achtsamkeit: In der Ruhe liegt nicht nur Kraft, sie birgt auch jede Menge Konfliktstoff. Foto: Colton Sturgeon, Unsplash

Achtsamkeit als Mode

Passend zur Weihnachtszeit, hat Guido Schmidt vor einigen Wochen einen catchy Einwurf zum Thema „Achtsamkeit in der Arbeitswelt“ geschrieben. Die für manche Ohren sicher provokante These des Autors: „Das Konzept Achtsamkeit hat in der Arbeitswelt nichts zu suchen.“ Diesem pauschalen Urteil stimme ich ebenso wenig zu wie den teils etwas plumpen Karikaturen derjenigen, denen Achtsamkeitspraktiken etwas bedeuten. Wir versuchen ja alle, irgendwie durchs Leben zu kommen. Jeder hat da seine Techniken und das verdient im Zweifel erstmal Respekt statt Polemik. Und dennoch ist die Kritik am Modekonzept Achtsamkeit nicht völlig von der Hand zu weisen.

Wider die Polemik

Zunächst sei jedoch mein Vorwurf der plumpen Karikaturen argumentativ untermauert. Laut Guido Schmidt gehört „bildlich gesprochen [..] die Yogamatte [..] nicht ins Büro.“ Das kann er natürlich für sein Büro so entscheiden. Ich habe auch keine Matte im Büro und praktiziere auch sonst wenig dezidiert achtsamkeitsbezogene Techniken in meinem Berufsalltag. Aber warum denn eigentlich nicht? Wenn’s und wem‘s hilft. Die Frage ist doch eher, was man daraus macht. Das ist der eigentliche Knackpunkt. Doch dazu später mehr.

Nicht vorschnell urteilen, beobachten, Perspektiven akzeptieren, nicht gleich gestalten, sondern erst einmal verstehen wollen. Wenn Achtsamkeitspraktiken zu solchem beruflichen Handeln führen, kann das nur guttun.


Guido Schmidt stört sich ebenso daran, dass es bei Achtsamkeit „in Wirklichkeit [um] ein riesiges Geschäft“ gehe: „Die psychologisch geschulten Coaches und Trainer haben ein neues Feld entdeckt, mit dem sich gutes Geld verdienen lässt. Sie versprechen einen hohen Nutzen in nur drei, vier oder fünf Schritten. […] Schon sprießen Achtsamkeitsseminare, Workshops und Anleitungen für jedermann wie Pilze aus dem Boden.“ Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn solche Kritik von jemandem geäußert wird, der ja selbst eben auch als Berater und Keynote Speaker sein Geld verdient. Auch ich bediene mich in meiner Arbeit an Konzepten, die gerade en vogue sind. Ist das verwerflich? Erneut ist die Frage doch eher, was man daraus macht.
Auch ist es für Guido Schmidt „nur schwer vorstellbar, bei der Arbeit in diesen besonderen Bewusstseinszustand abzutauchen“. Die laut ihm von Achtsamkeitspraktizierenden gesuchte „Form der Trance, also des halbwachen Zustandes der totalen Erkenntnis“ seien mit den Anforderungen des Wirtschaftslebens nicht zu vereinbaren. Ich gebe zu, dass ich zugedröhnte Mitmenschen in meinem beruflichen Kontext auch wenig inspirierend finde. Wenn es aber bei dieser vermeintlichen Trance darum geht, „beobachtend, vorurteilsfrei, akzeptierend und ohne das Wollen zur Gestaltung“ zu sein (so die zutreffende Beschreibung Guido Schmidts für Achtsamkeitspraktiken), dann ist das nicht mit einem LSD-Rausch vergleichbar. Vielmehr geht es um eine Geisteshaltung, die für das Berufsleben zu disqualifizieren ich kümmerlich finde.
In den von mir genutzten Beratungsansätzen ist jedenfalls genau das der Kern: Nicht vorschnell urteilen, beobachten, Perspektiven akzeptieren, nicht gleich gestalten, sondern erst einmal verstehen wollen. Wenn Achtsamkeitspraktiken zu solchem beruflichen Handeln führen, dann kann das jedem Team und jeder Organisation nur guttun. Aber erneut ist eben die Frage, was wer daraus macht.

Individualisierung unserer europäischen Gesellschaft

Die Aussage, wonach das „Modewort Achtsamkeit ein weiterer Ausdruck einer totalen Individualisierung der Gesellschaft“ sei, muss auch mehrfach gelesen werden, um in ihr nicht eine weitere übertriebene Engführung mit dem alleinigen Ziel eines Achtsamkeits-Bashings zu sehen. Das würde zum Rest des Artikels passen. Doch liegt in diesem Satz der Knackpunkt, warum Guido Schmidts Einwurf eben doch die Tinte wert war.

Frei nach Camus rufen wir dem Universum unseren neurotisch-permanenten Hunger nach Sinn entgegen. Und ernten die ohrenbetäubende Stille einer Welt, die für sich selbst keinen intelligiblen Sinn hat.

Zwar ist es etwas ungerecht, ausgerechnet am buddhistischen und mithin durchaus gemeinwohlorientierten Konzept Achtsamkeit Anstoß zu nehmen, um die zunehmende Individualisierung unserer europäischen Gesellschaft zu kritisieren. Dass es diese Tendenz, sei sie nun mit total adäquat beschrieben oder nicht, gibt, ist aber sicher keine überraschende Erkenntnis, sondern eine Beobachtung, die ich umso mehr mache, seit ich in Tunesien und damit einem Land lebe, wo das Gemeinwesen eine deutlich größere Rolle als in den mir bekannten europäischen Gesellschaften spielt.
Ganz im Achtsamkeitssinne: Mit dieser Beobachtung geht noch keine Bewertung einher. Nicht alles, was individualisiert ist und nicht alles was gemeinschaftlich ist, ist gut oder schlecht. Entsprechende Bewertungen sind kulturell geprägt und Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Daraus ergibt sich ein ganzes Spektrum von der Verteidigung individueller Freiheiten gegen Gemeinschaftszwänge, auf der einen Seite, bis hin zu Versuchen, auf der anderen Seite, das Gemeinwohl vor überbordendem Egoismus zu retten: Eine muntere Dialektik zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, und mithin zwischen meinen Bedürfnissen und den Bedürfnissen jedes Einzelnen um mich herum und von uns allen zusammen.

Dialektik zwischen Individuum und Welt

Psychologisch gesprochen entsteht unser Ego als Differenzwahrnehmung gegenüber unserer Umwelt, in Abgrenzung zu einem Ganzen also, das als solches zu titulieren dieses Ganze überhaupt erst zu etwas phänomenologisch Erfassbaren macht. Einfacher ausgedrückt: Wären wir allein, wäre unsere abgrenzende Selbstwahrnehmung als Individuum bedeutungslos. Wir hätten nichts, wovon wir als Einzelnes unterschiedlich sind. Und ohne Individuen, die eine Gemeinschaft deklarieren, gäbe es eine solche schlicht nicht.
Diese dialektische Spannung zwischen Individuum und Welt, zwischen Ego und den Anderen, treibt uns als Menschen an. Und in ihr liegt unsere lebenslange Herausforderung.
Am Ende geht es darum, die extremen Tendenzen einer totalen Individualisierung ebenso einzuhegen wie die Tendenzen einer totalen Vergemeinschaftung. Und interessanterweise können wir weltweit beides beobachten. Wo hier der Blick für das Gemeinwohl von egoistischer Selbstbezogenheit erstickt wird, leidet dort der*die Einzelne unter den Schikanen eines mystifizierten Gemeinschaftsgedankens. Die Extreme geben sich die Klinke in die Hand. Das ist keine Hufeisentheorie für Hobbyphilosoph*innen, sondern schlicht Ausdruck einer dialektischen Spannung deren Pendelbewegungen in einer sich beschleunigenden und zunehmend vernetzenden Welt größer werden.

Egozentrische Auswüchse der Achtsamkeit

Was hat das Alles mit Achtsamkeit in der Arbeitswelt zu tun? Zunächst nicht viel. Denn Achtsamkeitsprinzipien und -praktiken können eben, wie weiter oben dargestellt, eine Geisteshaltung und ein Handeln hervorbringen, das empathisch, zuhörend, unverkrampft offen für Anderes und mithin hochgradig gemeinverträglich ist. Aber das Kann in diesem Satz ist entscheidend. Denn was Konzepte und Prinzipien beinhalten, ist nicht unbedingt, was wir daraus machen.
Gerade beim Blick auf die Arbeitswelt erlebe ich Menschen, die Achtsamkeit propagieren, oftmals als sehr auf sich selbst bezogen und am eigenen Wohlbefinden orientiert. Mein mentales Wohlbefinden, meine Work-Life-Balance, meine Karriere, die ich mit meinem Familienleben verbinden können möchte. Meine Bedürfnisse werden zum Paradigma meines Handelns. Ich bin achtsam – aber eben vor allem mit mir selbst.

Gerade beim Blick auf die Arbeitswelt erlebe ich Menschen, die Achtsamkeit propagieren, oftmals als sehr auf sich selbst bezogen und am eigenen Wohlbefinden orientiert.

Um jedoch, etwa in einem Team, gut und produktiv zusammenzuarbeiten, gibt es allzu oft auch Sachzwänge. Bestimmte Rollen sind zu spielen. Nicht immer ist davon alles auch kompatibel mit den eigenen Bedürfnissen. Aushandlungsprozesse und Kompromisse sind nötig, um die eigenen Bedürfnisse mit denen der anderen und der Gesamtorganisation (und idealerweise auch der Gesamtgesellschaft und der nicht-menschlichen Umwelt) optimal zu kombinieren. Da ist sie wieder, die oben dargestellte Dialektik zwischen mir selbst und den Anderen.
Wem Achtsamkeitsprinzipien und -praktiken dabei helfen, sich und seine*ihre Mitmenschen einigermaßen schadlos durch diese unruhigen Fahrwasser zu navigieren, der*die sei herzlich beglückwünscht. Doch lohnt sich ein genauer Blick hinter die Kulissen. Nur weil die profitorientierte DAX-Konzern-Managerin oder der auf schnellen Gewinn fokussierte Startup-Gründer aus Achtsamkeitsprinzipien mehr Kraft schöpfen, um noch mehr Profit zu machen, macht ihn*sie dies nicht zu einem kleineren Problem, sondern womöglich zu einem größeren.

Wider den spirituellen Materialismus

Der seinerseits nicht ganz unumstrittene, aber populäre tibetanische Mönch Chögyam Trungpa hat derartige Auswüchse bereits in den 1970er-Jahren als „spirituellen Materialismus“ gebrandmarkt. Er beobachtete eine „verzerrte, egozentrische Version der Spiritualität“. Statt uns spirituell weiterzuentwickeln und Ungewissheiten zu akzeptieren, nutze unser Ego die Spiritualität lediglich, um sich selbst zu verfestigen. Wenn aber Achtsamkeit zum Klischee und zur Ausrede für schlichten Egoismus wird, dann haben diejenigen gewonnen, die in Arbeit vor allem ein Mittel zur kurzfristigen Gewinnmaximierung sehen.

Nur weil die profitorientierte DAX-Konzern-Managerin oder der auf schnellen Gewinn fokussierte Startup-Gründer aus Achtsamkeitsprinzipien mehr Kraft schöpfen, um noch mehr Profit zu machen, macht ihn*sie dies nicht zu einem kleineren Problem, sondern womöglich zu einem größeren.

Diejenigen, denen an einem Wirtschaftssystem und einer Arbeitswelt gelegen ist, die sich an sozialen, ökologischen und nachhaltigen Kriterien orientieren, schauen hingegen dumm aus der Wäsche. Und dass ein solches Wirtschaftssystem und eine solche Arbeitswelt auch mir selbst letztlich zu einem besseren Leben gereichen könnten, sehen immer mehr Menschen so. Doch alleine und gegen die Anderen wird dies nicht gelingen.
Denn eines sollten wir uns in aller Bescheidenheit auch hin und wieder vergegenwärtigen: Am Ende sind wir als Individuen, seien wir auch noch so selbstbewusst, schlicht insignifikant. Frei nach Camus rufen wir dem Universum unseren neurotisch-permanenten Hunger nach Sinn entgegen. Und ernten die ohrenbetäubende Stille einer Welt, die für sich selbst keinen intelligiblen Sinn hat. Diese Absurdität als wesentliche Eigenschaft unserer conditio humana hat ihren Ursprung im Ego, das sich von der Welt abgegrenzt hat.
Wenn Achtsamkeitsprinzipien und -praktiken für Momente sorgen können, in denen unser Ego die Welt nicht anschreit, sondern sie in einer empathisch-zuhörenden Haltung schlichtweg nimmt, wie sie ist, mithin also ihre Sinnlosigkeit akzeptiert und in ihr sogar eine Erfüllung findet, dann ist in der Tat etwas gewonnen. Achtsamkeit ist dann ein Mittel zum Zweck, um Egozentrismus, Egotismus und Egoismus einzuhegen.

Am Ende kommt es darauf an, was wir aus Achtsamkeit machen

Achtsamkeit als Selbstzweck und Zweck für das eigene Selbst aber ist wahrlich wenig hilfreich. Und vielleicht sogar gefährlich. Für die sinnhungrigen Generationen Y und Z bietet Achtsamkeit in ihrer Version des "spirituellen Materialismus" eine vermeintliche Wunderwaffe, um im turbokapitalistischen Treiben nicht unter die Räder zu kommen. Das Ich stärken, um den Überblick zu bewahren. Jetzt geht es mal um mich in dieser ganzen beängstigenden VUCA-Welt. Alles wird immer schneller und komplexer. Indem ich mich meines Selbst vergewissere, wird auch der Rest wieder beherrschbar.
Die schlechte Nachricht: Die Welt lässt sich nicht zähmen. Schon gar nicht von mir allein. Im vergeblichen Versuch, genau dies aber mit einer Überachtsamkeit auf mein Ich zu erreichen, wird der Graben zwischen mir und der Welt, zwischen mir und den Anderen nur noch größer.
Anstatt Ungewissheiten zu akzeptieren und zu lernen, in ihnen zu navigieren, tradiert die zum spirituellen Materialismus pervertierte, egozentrische Form der Achtsamkeit eine Geisteshaltung, die einem gemeinwohl- und damit auch individualwohlfeindlichen Turbokapitalismus die entscheidende Triebfeder ist: den Egoismus.

Die schlechte Nachricht: Die Welt lässt sich nicht zähmen. Schon gar nicht von mir allein.

So verheißungsvoll manche Konzepte, Prinzipien und Paradigmen auch klingen – über ihre Finalität entscheiden wir am Ende selbst. Entsprechend wichtig ist es, in Achtsamkeitskonzepten und -praktiken keinen Heilsbringer zu sehen, sondern einen kraft-, aber auch voraussetzungsvollen Ansatz, gut mit uns selbst umzugehen, um daraus Kraft zu schöpfen, gut auch mit unseren Kolleg*innen umzugehen. Um so schließlich in unseren rund 40 Jahren Arbeitsleben, im Zusammenspiel mit den Gemeinschaften, in denen wir leben (Büro, Familie, Freunde, Sportverein, …), der Welt zumindest keinen allzu großen Schaden anzutun. Das wäre doch schon was. Und vielleicht gelingt uns ja sogar etwas kleines Gutes. Achtsam und gemeinsam mit den Anderen.