Innovation Agilität

„Echte Innovationen schafft man nicht alleine“

Interview In der Tabakfabrik Linz arbeiten schon mehr als 250 Firmen in einem interdisziplinären Netzwerk an Innovationen für verschiedene Branchen. Wir sprachen mit dem Direktor des Areals und Gründer des Unternehmens Atmos Aerosol Research, Chris Müller, über Co-Creation und den Aufbau von Innovationsökologien.

Will Menschen und Ideen zusammenbringen, die sich gegenseitig befruchten, um Innovationsökologien zu schaffen: Chris Müller, Direktor der Tabakfabrik Linz. Foto: Fritz Beck
Will Menschen und Ideen zusammenbringen, die sich gegenseitig befruchten, um Innovationsökologien zu schaffen: Chris Müller, Direktor der Tabakfabrik Linz. Foto: Fritz Beck

Herr Müller, Sie waren schon als Stagemanager, Bildhauer und Dokumentarfilmer tätig. Heute leiten sie mit der Tabakfabrik Linz einen der größten Innovationshubs im deutschsprachigen Raum. Was heißt denn Co-Creation für Sie?

Bei Co-Creation geht es darum, dass sich Menschen gemeinschaftlich einbringen, um ein Ziel zu erreichen. Das ist mehr als Kollaboration und das können auch Personen aus ganz unterschiedlichen Branchen und Disziplinen sein. Das funktioniert nur mit entsprechenden Rahmenbedingungen, die wir in der Tabakfabrik zu schaffen versuchen. Der Kern meiner ganzen Tätigkeit ist es, Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen zusammenzubringen – mit dem Wissen, dass man gemeinsam mehr schafft als alleine.

Der ganze Start-up-Hype vermittelt den Eindruck, dass neue Ideen meist von genialen Gründern oder einzelnen Erfindern kommen. Ist das aus Ihrer Sicht nur ein Mythos?

Wenn man sich die Popkultur anschaut, sieht man, wie stark sich das verändert hat. Früher dominierten einsame Reiter wie Zorro oder Dr. Frankenstein, der ein genialer Erfinder in einem Schloss war. Das geht weiter bis zu Einstein und Kessler. In heutigen Serien wie beispielsweise Avengers, die mein Sohn mit seinen 13 Jahren so liebt, zählt jedoch nicht mehr der Superheld, sondern das Team. Selbst Helden, die fliegen können oder Feuer spucken, müssen sich in Netzwerken zusammentun, weil ihre eigene Superkraft nicht mehr genügt. Die Welt ist so komplex geworden, dass wir die größten Überlebenschancen haben, wenn wir interdisziplinär zusammenarbeiten.

Was hat diese Entwicklung mit der Tabakfabrik Linz zu tun?

Linz war in den 1980er Jahren eine der dreckigsten Industriestädte Mitteleuropas. Doch einige Jahrzehnte später hat man beschlossen, aus Linz eine saubere, umweltfreundliche und lebenswerte Stadt zu machen. Ein Wahrzeichen dafür ist die Tabakfabrik, die mit 50 Milliarden Zigaretten pro Jahr viel Leid über Menschen gebracht hat. Die Idee war, diese Fabrik in einen co-creativen Konzern zu verwandeln, in dem echte Innovationen entstehen.

Die Welt ist so komplex geworden, dass wir die größten Überlebenschancen haben, wenn wir interdisziplinär zusammenarbeiten.
Chris Müller, Tabakfabrik Linz

Welche nutzbringende Innovation ist auf dem Areal zum Beispiel schon entstanden?

Meine Tochter hat Mukoviszidose. Das ist eine Krankheit, die aufgrund eines Gendefekts die Lungen und den Darm verschleimt. Da die erkrankten Personen den Schleim nicht abhusten können, kommt es zu Infektionen oder sie ersticken daran. Die Lebenserwartung dieser Menschen ist gering und ich hatte wirklich Panik. Da bin ich in der Tabakfabrik herumgelaufen und habe alle möglichen Leute gefragt, ob sie mir helfen können, das Leben von Mukoviszidose-Kranken zu verbessern. Dass ich das getan habe, ist eines der besten Dinge, die mir im Leben passiert sind. Dabei ist ein internationales Netzwerk an Firmen entstanden, aus Ingenieuren, Wissenschaftlern der Kepler Universität, Krankenhäusern, der NASA und der ESA. Gemeinsam haben wir den präzisesten Algorithmus entwickelt, um weltweit mit Satelliten-Technik die Luftqualität zu messen – die Firma Atmos Aerosol Research ist so entstanden. Von dem Algorithmus profitieren nicht nur Mukoviszidose-Kranke, sondern alle Menschen. Und das haben wir durch Co-Creation hervorgebracht, innerhalb von zwei Jahren. Nur so kommt man an die richtigen Kontakte und die erforderliche Expertise.

Von der schmutzigen Stadt über die todbringende Fabrik hin zu einem Algorithmus, um Luftqualität zu messen – Chris Müller ist überzeugt, dass Innovationsökologien für solche Leistungen Co-Creation brauchen. Foto: Fritz Beck
Von der schmutzigen Stadt über die todbringende Fabrik hin zu einem Algorithmus, um Luftqualität zu messen – Chris Müller ist überzeugt, dass Innovationsökologien für solche Leistungen Co-Creation brauchen. Foto: Fritz Beck

Das ist eine gute Geschichte, aber in der Praxis sicher nicht leicht. Welche Rahmenbedingungen sind aus Ihrer Sicht notwendig, damit Co-Creation gelingt?

Die Idee und die Kultur müssen stimmen. Es braucht Menschen, die sich einbringen und Probleme lösen wollen. Und mit unserer Fabrik-Infrastruktur unterstützen wir diese Individualisten, die wenig regeln und ganz schnell ohne Hürden einen neuen gesellschaftlichen Horizont erdenken wollen. Dazu gehört das nötige Risikokapital, die passende Infrastruktur und auch die politische Unterstützung vor Ort – vom Bürgermeister, von der Kommune, vom Land, vom Bund. Außerdem ist eine gewisse Größe des Netzwerks hilfreich. Wir sind jetzt knapp 1.800 Menschen auf dem Areal, es werden über 3.000 sein. Wenn nur 50 Personen an einem Ort arbeiten, dann passiert natürlich nicht so schnell so viel. Durch viele mögliche Begegnungen, Pitches und sonstige Veranstaltungen entsteht auch eine größere Strahlkraft.

Wie unterstützt die Infrastruktur der Tabakfabrik dabei?

Eine Fabrik ist anders gebaut als ein Haus, das man als Kreativ-Hub transformieren will. Die Tabakfabrik gibt es seit 355 Jahren und sie hat eine bestimmte Gliederung, Abläufe und Widmungen, also eine vorgeschriebene Nutzungsart. Wir versuchen, die Gebäude als Produktionsstätte mit Abteilungen zu denken, aber so, dass wir im Produktionsprozess Barrieren zwischen Kunst, Forschung, Wissenschaft, Philosophie und Ethik abbauen.

Mittlerweile sind 250 Firmen bei uns auf dem Areal. Dort haben wir unter anderem die „Grand Garage“, einen großen Motorraum, wo man seine Erfindungen bauen kann. Außerdem gibt es Hallen, wo man die Produkte und Lösungen zeigen und diskutieren kann. Nächstes Jahr bauen wir auch ein Boardinghaus und Hotels für verschiedene Aufenthaltszeiten in der Fabrik, damit die Menschen, solange sie hier arbeiten, hier wohnen können. Hinzu kommt unsere Schule der Digitalisierung. Da sind zwei Privatuniversitäten in Gründung. Gerade bauen wir zudem einen eigenen Bildungsbereich auf, der darauf fußt, was wir hier aus der Produktionskette lernen können.

Was haben Sie aus der Produktionskette bislang gelernt?

Wir lernen viel, auf verschiedenen Ebenen. Aber zentral sind aus meiner Sicht unsere Netzwerkanalysen. Da arbeiten wir mit FASresearch zusammen, einem Wissenschaftler-Netzwerk aus Wien. Wir haben eine Art Rechenmaschine erstellt, um die Gemeinschaft laufend zu befragen, was sie noch braucht. Das ist so, wie wenn wir in jedem Raum Nervenenden hätten. Wir spüren die Zugkraft und wissen, wo was geht.

Haben Sie ein Beispiel?

Wir können etwa Mieter A und Mieter B fragen: „Wer wäre denn der beste Mieter C, damit Ihr wachsen könnt und Eure Projekte vorankommen?“ Bei der Analyse stellen wir gegensätzliche Antworten gegenüber, um Muster zu erkennen – ein nationales oder internationales Unternehmen, junge oder ältere Menschen, Start-ups oder alteingesessene Organisationen. Das gleichen wir mit der Liste der Unternehmen ab, die sich für die Tabakfabrik bewerben. Gerade gibt es 600 Firmen, die bei uns reinwollen.

Welche neuen Nachbarn oder Kollegen hätten die Firmen in der Tabakfabrik aktuell denn gerne?

Bis vor Kurzem haben wir Leute für Internationalisierung und Risikokapital gebraucht. Jetzt suchen wir vor allem „UmsorgerInnen". Kindergärten, Krabbelstuben, Gastronomie – dazu zählt alles, was hilft, dass wir vor Ort nicht nur arbeiten können, sondern auch einen gewissen Lifestyle haben. Mehr als zwei Drittel der ansässigen Firmen wünschen sich zudem Entdeckerinnen, Menschen, die aus anderen Zusammenhängen kommen und in der Lage sind, Dinge ganz neu zu betrachten. Und mehr als 50 Prozent wollen Idealisten wie etwa politische Akteure oder Aktivisten von Fridays for Future.

Was macht Unternehmen innovativ?
Linda Hill, Professorin an der Harvard Business School, ist eine der weltweit führenden Forscherinnen zur Innovation. Im Interview erklärt sie, warum Unternehmen allen Mitarbeitern innovatives Denken erlauben müssen.
Interview mit Linda Hill

Welche Rolle spielen HR-Manager in einem solchen Innovationshub? Werden sie angesichts der Netzwerkanalysen überhaupt noch gebraucht?

Wir haben deutlich weniger klassische HR-Themen. Viele Unternehmen und Menschen kommen zu uns, weil der Ort so gut funktioniert – und sie wollen nicht mehr weg, auch wenn sie woanders ein billigeres Büro haben könnten oder eine bessere Aussicht. Aber wir sind nur so stark, wie es unsere Mieter sind. Deswegen werden wir mehr noch als HR-Manager vor allem Community Manager brauchen: Menschen, die sich rund um die Uhr nur um die Gemeinschaft kümmern und unterschiedliche Welten thematisch matchen. Das müssen Leute sein, die zu einer Firma gehen und sagen, ich habe da drüben gehört, die suchen eine bestimmte Kompetenz und die ein Treffen zwischen diesen Leuten ausmachen. HR könnte zukünftig im Community Management eine neue Rolle finden.

Inwiefern sind Community Manager auch dazu da, innovative Arbeitsmethoden wie Lean Start-up oder Design Thinking zu vermitteln?

Das spielt eine große Rolle. Unsere Räume und Bühnen bespielen wir mit diesen Methoden und die Mieter können das hier auch lernen. Wir holen Unternehmen zu uns rein, die Vorträge halten oder etwas unterrichten. Wir tauschen uns in aller Tiefe über Innovationsmethoden aus.

Wir brauchen vor allem Community Manager: Menschen, die sich rund um die Uhr nur um die Gemeinschaft kümmern und unterschiedliche Welten thematisch matchen.
Chris Müller, Tabakfabrik Linz

Treffen da immer wieder vor allem Leute aus Innovationshubs von Unternehmen zusammen oder integrieren sie auch Experten aus dem Bestandsgeschäft?

Es kommen schon vor allem die Akteure in unserer Szene der kreativen Industrien. Aber die Netzwerkanalyse hilft uns, dass wir nicht auf einem Auge blind sind. Dadurch buchen wir auch Firmen ein, die man beim Thema Innovation sonst nicht auf dem Radar hat, die aber für das Gelingen dieser Ökologie unglaublich wichtig sind. Wir brauchen ja gerade die unterschiedlichen Kompetenzen, auch derjenigen, die nicht von vornherein so veränderungsbereit sind wie die üblichen Verdächtigen.

Wie gut gelingt es Ihnen, die Innovationsakteure und die klassischen Geschäftsbereiche in den Unternehmen zusammenzubringen?

Das ist nicht einfach. Die beiden Seiten verstehen sich nicht immer gut. Wir erleben da schon Akzeptanzprobleme. Viele Personen in großen und etablierten Unternehmen halten das für Pipifax, was wir tun, und sagen, das machen wir schon immer so. Für mehr gegenseitiges Verständnis braucht man vor allem am Anfang die richtigen Personen und ein gutes Aufeinandertreffen in Räumen, die das unterstützen. Manche Organisationen wie der Stahlhändler voestalpine oder das Bauunternehmen Soravia Gruppe schicken Menschen zu uns rein, die eine Zeit hier arbeiten. Sie müssen nicht alles gut finden und nicht alles können sie in ihren Arbeitsalltag mitnehmen. Aber mit manchen Ideen befruchten sie die Betriebe.

Es braucht vor allem neue Lern- und Kommunikationsformate?

Ja. Und Dialogbereitschaft sowie eine Sprache, die jeder versteht! Man muss aufpassen, dass man nicht nur Bullshit-Bingo betreibt. Manchmal hat das Ausmaße in unserer Szene, die nicht förderlich sind. Jede Woche gibt es ein neues Format und ein neues super heißes Ding. Die Innovationshubs sollten stattdessen Dolmetscherkabine für alle sein, die auf sie zugreifen.

Der Magnetismus einer Innovationsökologie entsteht, wenn verschiedene Perspektiven zusammenkommen.
Chris Müller, Tabakfabrik Linz

Wissen zu teilen ist noch immer nicht Standard in allen Organisationen, da gilt eher noch „Wissen ist Macht“. Oder wie beurteilen Sie das?

Da haben Sie hundertprozentig recht, aber es ändert sich gerade etwas. Nicht Patente schützen uns in Zukunft, sondern die Komplexität der Lösungen oder des angestrebten Ziels. Erwin Soravia, CEO der Soravia Gruppe, hat uns bei Atmos von Anfang an unterstützt und unter anderem gefragt: Dürfen wir überall einen Kindergarten hinbauen, wo man bauen kann? Brauchen wir nicht vorher eine Art Machbarkeitsstudie in Sachen guter Luft, damit wir nicht die nächsten Opfer von chronischen Lungenerkrankungen produzieren? Solche Persönlichkeiten müssen diese Fragen stellen, gerade wenn sie aus klassischen, etablierten Branchen kommen. Dann schauen alle darauf und fragen sich, warum tut der sowas? Warum arbeitet er mit Universitäten, Analysten und Innovationshubs zusammen? Das zieht die Leute an. Der Magnetismus einer Innovationsökologie entsteht, wenn verschiedene Perspektiven zusammenkommen.

Was können Innovationsförderer, auch außerhalb der Tabakfabrik, von Ihrem Konzept lernen und übernehmen?

Uns kontaktieren verschiedene Areale, Städte oder Länder, die konkret anfragen, ob ihre Orte für etwas ähnliches geeignet wären. Wir haben eine Art Checkliste entwickelt, was für eine Innovationsökologie entscheidend ist. Gerade arbeite ich mit Harald Katzmair, dem Geschäftsführer von FASresearch, an einem Buch darüber, das in 2020 erscheint. Wir hören nicht an der Stadtgrenze oder Landesgrenze auf. Wir bauen ein System, wie es früher war. Da fuhren ja auch die Zimmerleute und die Dombauer von Ort zu Ort und von Baustelle zu Baustelle. Wir möchten die Erkenntnisse und den Prototyp Tabakfabrik auch an andere Orte tragen.