Selbstorganisation Agilität

Vollzeit ist voll out

Kommentar Vollzeit oder Teilzeit – diese Unterscheidung passt nicht mehr auf die Art und Weise, wie viele von uns arbeiten. Wir brauchen neue, individuelle und flexible Arbeitskonzepte jenseits vom starren Schema F, meint Karin Lausch.

Foto: Pixabay
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Kommt traditionelle Arbeitsgestaltung an ihr Ende?

Unsere Arbeitswelt wird immer selbstbestimmter. Mitarbeitende entscheiden zunehmend allein, von wo aus sie arbeiten wollen und wie sie ihre Arbeit gestalten. Es wäre fast perfekt, wäre da nicht ein Faktor, den wir noch nicht selbst bestimmen können: unsere Arbeitszeit. Zwar sind wir im Rahmen von Gleitzeitmodellen und Vertrauensarbeitszeit vermeintlich frei in unserer Entscheidung, aber auf den zweiten Blick besteht unser Arbeitsvertrag aus einem wenig individuellen Korsett.

Wenn Arbeit keinen Spaß macht, dann macht nicht nur die Arbeit keinen Spaß, sondern das ganze Leben. Arbeitszeit IST Lebenszeit.

Es fängt schon bei der Stellenausschreibung an. „Auch in Teilzeit möglich“ heißt es da. Wir arbeiten in einer Welt, die das Gehalt immer noch nach der Stechuhr zahlt. Entscheidend ist die Stundenanzahl, die wie Beton im Arbeitsvertrag festgeschrieben wird. Wehe denen, die plötzlich weniger oder mehr arbeiten wollen. Das muss erst genehmigt werden. Alles eine Frage des Budgets und der Gunst. Kann Arbeiten zukünftig so noch funktionieren? 

Die Work-Life-Balance und ihr Erbe

Die Work-Life-Balance hatte eine Funktion. Sie sollte uns immer wieder daran erinnern, dass wir nicht zu viel arbeiten dürfen, damit das Leben noch genug Platz in unserem Leben hat. Und da ist das Problem. Eigentlich ein guter Grundgedanke für körperliche und mentale Gesundheit. Es ist wichtig, ganz bewusst zu arbeiten und dann ganz bewusst frei zu haben und das in einem ausreichenden und gesunden Verhältnis. Aber spätestens, seit die Arbeit in unser Homeoffice gezogen ist, wissen wir, dass wir Arbeit und Leben nicht künstlich voneinander trennen können.

Wir erleben es Tag für Tag. Während wir arbeiten, läuft schon der Countdown bis zum Wochenende. TGIF, ist der Schlachtruf, der uns aus der Pflicht befreit und es uns endlich ermöglicht zu leben. Wir kriechen auf dem Zahnfleisch von Urlaub zu Urlaub und hassen den Montag, an dem alles wieder von vorne beginnt. Wenn Arbeit keinen Spaß macht, dann macht nicht nur die Arbeit keinen Spaß, sondern das ganze Leben. Arbeitszeit IST Lebenszeit. Und zwar jede Menge davon. Auch sie will qualitativ gefüllt werden und sich nach Leben anfühlen.

Arbeit als Akkuladegerät

Sätze wie: „Am Wochenende muss ich was mit meinen Händen machen“ oder „Ich brauche das Laufen als Ausgleich, sonst drehe ich durch“ machen es noch deutlicher. Die Trennung zwischen dem Schönen (Freizeit) und der Pflicht (Arbeit) zieht sich tief durch unsere Gesellschaft. Wir benötigen das Handwerkern am Wochenende oder die zehn Kilometer am Abend, um uns wieder ins Lot zu bringen, weil uns unser Job belastet. Er fordert uns zu einseitig, kostet uns mehr Energie, als er uns gibt, oder spielt sich in einem anspruchsvollen Umfeld ab. Der Mensch braucht Ausgleich.

Was, wenn es nicht der eine Job ist, für den wir gemacht sind? Was, wenn wir unsere Arbeit verteilen müssen, damit sie sich selbst ausgleicht, statt das es dafür bestimmte Hobbys braucht?

Der Trend ist schon da. Laut einer Studie im Auftrag von HDI streben fast 50 Prozent der Befragten Arbeiten in Teilzeit an. 76 Prozent sind für eine 4-Tage-Woche, und jede dritte Person sieht sich im angestrebten Traumberuf. Viele Menschen bauen sich neben ihrem eigentlichen Job in Festanstellung oder in der Selbständigkeit noch ein zweites oder auch drittes Standbein auf. Die Pandemie wirkte wie ein Katalysator für alternative Möglichkeiten der (digitalen) Arbeit.

Arbeit wird zum Konzept und ist so individuell gestaltet wie der Mensch. Wir entlasten uns körperlich und mental und gestalten unser Leben flexibel.

Wir suchen nach Dingen, die uns erfüllen und die wir im bisherigen Job nicht ausleben konnten. Wir reduzieren die Stundenanzahl der bestehenden Stelle und schaffen so Platz für Neues. Richtete sich das Leben bisher stark an der Arbeit aus, bauen wir uns unsere Arbeit jetzt so, dass sie in unser Leben passt. Wir arbeiten nebenbei als Berater:innen, gründen Unternehmen, eröffnen eine Gastronomie, sind Coaches, schreiben Bücher oder engagieren uns im sozialen Bereich.

Die Möglichkeiten sind so groß wie nie zuvor. Der Effekt: Arbeit wird zum Konzept und ist so individuell gestaltet wie der Mensch. Wir entlasten uns körperlich und mental und gestalten unser Leben flexibel. Wir erleben mehr Sinn und Freude bei der Arbeit und sind weniger erschöpft. Mit jüngeren Generationen wird dieser Trend sich massiv verstärken. Schuften ist out, Sinn stiften in. Aber wie passt ein stärkendes und ausgleichendes Konzept von Arbeit in die starren Vollzeitjob-Budgets von Unternehmen?

Vollzeit ist voll out

In der Wissensarbeit funktionieren gängige Arbeitszeitmodelle nicht mehr. Teilzeit oder Vollzeit, das sagt schon lange nichts mehr über die Verantwortung und die Leistung aus. Wer Teilzeit arbeitet, schafft nicht selten genauso viel wie andere in Vollzeit, bekommt aber weniger Geld. Selbst die Frage, wann Arbeit anfängt und wann sie aufhört, können wir so einfach nicht mehr beantworten. Ist es Arbeit, abends auf der Couch im kreativen Flow noch eine Idee zu entwickeln? Ist es Arbeit, während unserer Arbeitszeit auf einen Kaffee mit Kolleg:innen den privaten Austausch zu suchen?

Unsere Arbeitszeit sagt nicht einmal mehr aus, ob wir wirklich arbeiten. Dennoch gibt es sie, die zwei Klassen zwischen Vollzeit und Teilzeit. Die Unterscheidung ist so rudimentär wie die Begrifflichkeiten und die damit einhergehende Bewertung.

Natürlich wird es immer Bereiche geben, in denen durch Bereitschaftsdienst oder Schichtarbeit sehr genau geplant werden muss, wer wann arbeitet. Im produzierenden Gewerbe oder in der Pflege ist beispielsweise deutlich weniger Flexibilität möglich als in der Wissensarbeit. Aber auch hier spielt der Ausgleich der einseitigen Arbeit zukünftig eine zentrale Rolle. Unternehmen werden deutlich mehr Verantwortung dafür übernehmen müssen, dass ihre Mitarbeitenden sich nicht mehr 40 Stunden die Woche Körper und Geist kaputtarbeiten. Sie müssen ausgleichende Konzepte und sinnvolle Weiterbildungsmaßnahmen entwickeln, damit Mitarbeitende sich innerhalb des Unternehmens breiter aufstellen können und entlastet werden.

Verteilte Arbeit bedeutet geteilte Verantwortung

Zukünftig werden wir unsere Arbeit also deutlich stärker auf verschiedene Tätigkeitsfelder verteilen und noch mehr Wert auf eine echte Integration und Vereinbarkeit von Familie und Care-Arbeit legen. Unsere Arbeitsergebnisse und unser Verantwortungsbereiche sagen zukünftig deutlich mehr darüber aus, was wir leisten, als jegliche Arbeitszeitmodelle. Unternehmen, die jetzt die Weichen dafür stellen, werden diejenigen sein, die in Zukunft die besseren Talente bekommen und halten und sie werden die deutlich besseren Ergebnisse erzielen.

Zukünftig werden wir unsere Arbeit also deutlich stärker auf verschiedene Tätigkeitsfelder verteilen und noch mehr Wert auf eine echte Integration und Vereinbarkeit von Familie und Care-Arbeit legen.

Jobsharing wird ein immer größeres Thema, denn es bietet viele Möglichkeiten Verantwortungen flexibel zu teilen und Stellen individuell zu besetzen. Zudem werden im Jobsharing tendenziell bessere Entscheidungen getroffen, weil der Prozess mehr Perspektiven einbezieht. Damit wir wegkommen von Vollzeit oder Teilzeit, hin zu einem individuellen und flexiblen Arbeitskonzept, müssen wir Arbeit und Gehalt aber ganz neu denken.