Agilität Organisationsentwicklung

Weg damit!

Kommentar Agiler, digitaler, innovativer: Hauptaspekte, um als Unternehmen die Zukunft erreichen zu können. Doch die Mitarbeiter ersaufen in Bürokratie. Um Zeit und Raum für Neues zu haben, müssen zunächst die Altlasten weg.

Erst einmal aufräumen: Vor der Agilität geht es ums Ausmisten.          Foto: Gary Chan on Unsplash
Erst einmal aufräumen: Vor der Agilität geht es ums Ausmisten. Foto: Gary Chan on Unsplash

Agilität braucht radikalen Bürokratieabbau

Neulich auf einem Event: „Unsere Mitarbeiter sind bis oben zu mit Arbeit. An weitere Aktivitäten ist gar nicht zu denken. Die brauchen jetzt erst mal ‘nen Puffer, um das Aufgetürmte wegzuarbeiten.“ Bitte nein, kann ich nur sagen, denn mit solchem Vorgehen kuriert man höchstens Symptome. Man muss schon an die Wurzel des Übels. Was es in Wirklichkeit braucht, ist ein radikaler Abbau selbsterschaffener Bürokratie.

Die Reise in die Zukunft gelingt nur mit leichtem Gepäck. Für Planzahlspiele, Budgetierungsgelage, aufwendige Abstimmungsschleifen und Irrläufe im Vorschriftengeflecht bleibt keine Zeit. Regeln, Standards und Normen von früher lähmen das Vorankommen, frustrieren die Mitarbeiter und verärgern die Kunden. Deshalb ist zunächst eine Transformation in einen fluideren Zustand vonnöten.

Alles, was eine Organisation langsam macht, muss weg. Und alles, was sie schnell macht, muss her. Denn je schwerfälliger eine Organisation, desto anfälliger ist sie für Überholmanöver. Doch klassische Managementformationen sind die meiste Zeit damit beschäftigt, sich selbst zu organisieren. Prozessbesessenheit, Zielfetischismus und Kennzahlenmanie sind eine kolossale Verschwendung von Zeit, Geld und Talenten, die sich niemand mehr leisten kann.

Alles, was eine Organisation langsam macht, muss weg. Und alles, was sie schnell macht, muss her.

Bürokratie macht ein Unternehmen träge und dumm, weil alles einem vordefinierten Weg folgen muss und in starren Verfahrensweisen versinkt. Standards erzeugen zudem Isomorphie: Alles gleicht sich immer mehr an. Doch nur das Besondere, Faszinierende, Bemerkenswerte hat eine Zukunft. Bei Vergleichbarem hingegen entscheidet allein der Preis. Dann soll es wenigstens billig sein. Für die Bilanz ist das verheerend.

Organisationsentwicklung: „Minus50“ heißt die Devise

Im Eilschritt die Zukunft erreichen bedeutet zuallererst: Rigide Strukturen lockern, Altlasten entsorgen und Hürden entfernen, um flotter laufen zu können. Die Schnelligkeitslücke muss eiligst geschlossen werden. 50 Prozent weniger Bürokratie, Administration, Regelwerke, Reportings, Formularwesen und Genehmigungsverfahren sind dabei eine vernünftige Zielzahl. „Minus50“ nenne ich dieses Programm. 

Hiermit sind allerdings nicht die gesetzlichen Regularien und behördlichen Vorschriften gemeint, sondern überholte interne Unternehmensroutinen. Ganz ohne Strukturen geht es natürlich nicht, schon allein deshalb ist „Minus50“ vernünftig. Einleuchtende Funktionsvorgaben sichern ein notwendiges qualitatives Leistungsniveau. Und sie helfen, böse Fehler zu vermeiden. Solche Prozesse sind kluge Prozesse.

Dumme Prozesse hingegen verplempern wertvolle Zeit. Zudem sorgt Bürokratie für Selbstvermehrung. Jeder Ausrutscher hat eine weitere Regel zur Folge. Am Ende wird das Ganze derart komplex, dass alles wie in einem Panzer erstarrt und jeder nur noch nach Vorgaben tanzt. Doch „Zuständigkeiten“ und „Dienst nach Vorschrift“ goutieren die Kunden mit Sicherheit nicht.

Einleuchtende Funktionsvorgaben helfen, böse Fehler zu vermeiden. Das sind kluge Prozesse.

Ein ausuferndes Berichtswesen gibt einem zudem gute Gründe, sich von den Kunden abzuwenden, frei nach dem Motto: „Würde nicht so viel Zeit mit dem Reporting draufgehen, hätte ich mehr Zeit zum Verkaufen.“ Und jeden Freitag ist Märchenstunde: Der Wochenbericht muss geschrieben werden. „Irgendwann habe ich den einfach nicht mehr abgegeben – und niemand hat ihn vermisst“, erzählt mir ein Vertriebsmitarbeiter.

Wie Transformation Taskforces aktiviert werden können

Um sich per Quick Wins für die Zukunft zu rüsten, werden schnelle Einsatztruppen benötigt. Ich nenne sie Transformation Taskforces (TTs). Sie gehören zu keiner Business Unit, sondern sind der Geschäftsleitung beigestellt. Sie werden aus dem bestehenden Mitarbeiterkreis rekrutiert und wenn nötig um externe Profis ergänzt.

Entscheidend ist bei einem solchen Projekt:

  • Die jeweilige Taskforce darf von Bereichsleitern nicht an ihrer Arbeit gehindert werden.
  • Von aufgezeigten Widerständen, die aus allen Ecken kommen werden, darf man sich nicht blenden lassen.
  • Die Teams müssen selbstorganisiert arbeiten können, damit sie schnell Fahrt aufnehmen und entscheidungsfrei sind.
  • Verzichten Sie auf aufwendige Berichtsmaßnahmen und umfängliche Kontrollaktivitäten.
  • Lassen Sie Experimente und Irrwege und damit auch Fehlschläge zu.
  • Die unbedingte Rückendeckung der Geschäftsleitung ist essenziell.
  • Lassen Sie solche Projekte nie von einer externen Beratercrew machen.

Beim Bürokratieabbau können nicht nur die erfahrenen Mitarbeiter helfen, sondern vor allem die jungen Beschäftigten. Warum? Sie haben einen unverstellten Blick und den immanenten Drang, die Dinge agiler, kollaborativer und digitaler zu machen. Zudem sind sie mit modernen Methoden der Zusammenarbeit meist bestens vertraut.

Transformation Taskforces auf Bürokratiemonsterjagd

Ein Bürokratie-Transformationsteam kann sich um überholte Abläufe quer durch das ganze Unternehmen kümmern. Zum Beispiel so: „Bisher dauert die Abwicklung von x eine Woche. Wie schaffen wir das in einem Tag?“ So kann man Verfahren digitalisieren, Tempo machen und mithilfe agiler Arbeitstools die Effizienz deutlich steigern. Oha, Sie meinen, die einzelnen Abteilungen sollen sich selbst um Effizienzzuwächse kümmern? Genau das wird nicht klappen.

Ausufernde Verfahrensweisen und Vorschriftenberge sind Selbsterhaltungsmechanismen und dienen der Bedeutungserhöhung. Durch einen Verwaltungsapparat, der letztlich vom Kunden bezahlt werden muss, und eine aufgeblähte Steuerungsadministration schaffen sich viele Bereiche überhaupt erst eine Existenzberechtigung. Das blockiert nicht nur, es verhindert auch Innovationen.

Für die, die Entschlackungsprogramme in Angriff nehmen, hier gleich ein Tipp: Fangen Sie im Einkauf, in der juristischen Abteilung und im Controlling an. Da wird man besonders schnell fündig. Einmal habe ich ein fünfseitiges (!) Pamphlet bekommen, das sich Vertraulichkeitserklärung nannte. Natürlich habe ich bei meiner Arbeit mit strategischen Interna zu tun. Dass ich davon nichts weitergebe, ist eh klar. Ist unbedingt etwas Schriftliches vonnöten, kann man das auch ganz einfach in fünf Sätzen sagen.

Bevor man sich um Neues kümmert, müssen die Altlasten weg.

Die Assistentin des Niederlassungsleiters eines großen deutschen Kfz-Herstellers schrieb mir: „Wir hätten großes Interesse an Ihrem Buch. Da wir ein Konzern sind, ist es aus internen Gründen leider nicht möglich, dieses einfach so zu bestellen und einen Betrag zu überweisen. Hierfür benötigen wir im Vorfeld ein Angebot. WICHTIG: Aus dem Schriftstück muss deutlich erkennbar sein, dass es sich um ein Angebot handelt und die Mehrwertsteuer muss ausgewiesen sein.“ Ich hab mal kurz gerechnet: Die Gesamtkosten, um den Vorgang zu bearbeiten, dürften bei rund 200 Euro liegen, meine eigenen Prozesskosten, hätte ich das gemacht, noch nicht einmal mitgerechnet.

Die Kunst des Weglassens bringt eine Menge Kostenersparnis

Die Studie „The Workforce View in Europe“, an der knapp 10.000 Arbeitnehmer in acht europäischen Ländern teilnahmen, macht deutlich, dass mit knapp 20 Prozent ineffiziente Systeme und Prozesse die Hauptursache für mangelnde Produktivität am Arbeitsplatz sind. Veraltete Technologie folgt mit 19 Prozent auf Platz zwei.

Bevor man sich also um Neues kümmert, müssen die Altlasten weg. Erst muss gejätet werden, damit die junge Saat aufgehen kann. Das würde jeder Gärtner so machen. Alles Unkraut, das die jungen Triebe am Wachsen hindert, räumt er beiseite. Mithilfe der Kunst des klugen Weglassens ist ein dicker Batzen Kostenersparnis gleich zum Start drin. Dabei wird nicht nur wertvolle Arbeitszeit eingespart, es werden auch bedeutende Mittel frei, um sich gut für die Zukunft zu rüsten.