Organisationsentwicklung The Next Normal

„Vieles wird in der Krise wie im Brennglas sichtbar – und daraus müssen wir jetzt lernen“

Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht bei Deutsche Bahn, erklärt worauf es beim Entscheiden jetzt ankommt, wie man als Organisationen aus der Krise lernen kann und warum er hofft, dass mit der Krise ein neues gesellschaftliches Bewusstsein erwächst.

"Ich bin sicher, dass wir gestärkt aus dieser Krise herauskommen werden." Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht, Deutsche Bahn
"Ich bin sicher, dass wir gestärkt aus dieser Krise herauskommen werden." Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht, Deutsche Bahn

Klare Entscheidung in der Ausnahmesituation

Herr Seiler, wann ist die Corona-Krise auf Ihrem Schreibtisch angekommen?

Wir hatten bereits im Januar damit zu tun, weil wir ja auch viele Beschäftigte in China haben. Aber das Wochenende um den 22. Februar wird mir im Gedächtnis bleiben. Wir hatten von Samstag auf Sonntag den ersten Zug, der am Brenner angehalten wurde wegen Verdacht auf erkrankte Personen im Zug. In Italien wurden die ersten Dörfer abgeriegelt. Es gab einen ersten Todesfall im Land. Ich bin im Vorstand derjenige, der den Krisenstab maßgeblich steuert und auch verantwortlich für das Thema Gesundheit. Ich habe am Sonntagmittag den Vorstandsvorsitzenden angerufen und ihn informiert, dass wir den großen Krisenstab einberufen. Noch am Sonntagnachmittag haben wir 500.000 Mundschutzmasken bestellt. Da waren noch die alten Prozesse spürbar, denn die erste Frage war: Auf welche Kostenstelle? Salopp gesagt war meine Antwort, „egal – im Zweifel auf meine.“ Das war einer meiner ersten Eindrücke, dass es in einer solchen Zeit wichtig ist, Orientierung zu geben, dass es also jemanden braucht, der klar entscheidet und dass das dann auch gemacht wird.

The Next Normal
Dieses Interview ist Teil von „The Next Normal“ – einer qualitativen Studie zur Zukunft von Organisationen, für die rund 100 Führungskräfte interviewt wurden. „The Next Normal“ ist eine Kooperation von Metaplan und Haufe. Erste Ergebnisse der Studie werden am 14. Mai in einem digitalen Symposium vorgestellt. Bei Interesse an der Studie wenden Sie sich bitte an thorsten.schaar@
haufe.com

Hat sich der Eindruck für Sie seither verfestigt, dass klare Hierarchie und eine Form von Durchsteuern in der Krise wieder relevanter ist?

Insgesamt kommt vor allem zutage, dass man in diesen Situationen noch schneller sein muss. Entsprechend muss man auch mal durchentscheiden. Auf den ersten Blick könnte man nun meinen: Das ist jetzt doch alte Schule. Wir haben gerade erst auf innovativere Arbeitsformen gesetzt, dann kommt eine Krise und plötzlich haben wir wieder jemanden, der sagt, wo es langgeht. Aber man sollte das differenzieren: Es kommt ja bei allen Entscheidungen darauf an, sich genau zu überlegen: Worum geht es – und wie kann man dieses Ziel bestmöglich erreichen? Daran sollte sich dann die Art des Entscheidens orientieren. Ob Top-Down oder eher autark in den Bereichen.   

Wir machen da aktuell eine ganz spannende Beobachtung, in vielen Organisationen:  Auf der einen Seite wird Führung dezentraler, allein schon dadurch, dass man nicht in einem Raum sitzen kann. Andererseits beobachtet man tatsächlich eine Rückkehr der Hierarchie, wie Sie es auch gerade beschrieben haben. Wie verhält sich dieses Spannungsfeld bei Ihnen?

So eine Zeit ist natürlich nicht widerspruchsfrei. Wichtig ist, dass wir mit diesen Widersprüchlichkeiten klug umgehen und sie auch gut erklären. Wir haben eine sehr große Organisation und da gibt es Dinge, die müssen wir zentral und für alle einheitlich entscheiden. Andere Dinge dagegen laufen dezentral, weil die Anforderungen völlig unterschiedliche sind. Beispielsweise beim Thema Kinderbetreuung. Wir haben unseren Beschäftigten Zeiten für die Kinderbetreuung eingeräumt – die Kitas waren ja plötzlich über Nacht zu. Aber das musste viel differenzierter geschehen: Diejenigen, die im Homeoffice arbeiten können und wollen, haben ihre Kinder bei sich. Aber es gibt bei uns ja auch viele, die können ihre Kinder nicht neben ihrer Arbeit betreuen.

Es kommt ja bei allen Entscheidungen darauf an, sich genau zu überlegen: Worum geht es – und wie kann man dieses Ziel bestmöglich erreichen? Daran sollte sich dann die Art des Entscheidens orientieren.
Martin Seiler, Vorstand Personal und recht, Deutsche Bahn

LokführerInnen können ihr Kind ja nicht mit auf die Lok setzen. Dort gibt es deswegen zusätzlich Möglichkeiten der Arbeitsbefreiung. Mittlerweile ermöglichen wir unseren MitarbeiterInnen bis zu zwanzig Tagen Arbeitsbefreiung für Kinderbetreuung und Pflege. Ein zweites Beispiel für einen dezentralen Angang ist die Einrichtung von Kontaktsperren. Wir haben bei uns betrieblich sensibelste Bereiche. Wenn die ausfallen, dann hat das eine sehr große Auswirkung auf unseren Betrieb. Die Leute im Stellwerk etwa müssen dafür Sorge tragen, dass Signale und Weichen richtig stehen. Wenn sich in so einem Gebäude jemand infiziert, dann droht das den gesamten Betrieb lahmzulegen. Dort haben wir also viel schneller und wesentlich engere Regeln definiert, was den Kontakt angeht. Zum Beispiel finden Schichtübergaben jetzt ohne Kontakt statt, es kommen keine Besucher mehr in die Räume, und vorübergehend haben wir auch die Auszubildenden dort abgezogen. Das wurde zentral entschieden. Die Umsetzung war dann aber wieder komplett dezentral organisiert.

Das Digitale stärkt den Zusammenhalt

Inwiefern machen Sie sich bereits Gedanken über die Post-Corona-Zeit? Gibt es vielleicht Abläufe und Prozesse, die sich jetzt so gut bewähren, dass man sie auch nach der Krise bewahren möchte?

Ja, im Bereich des Digitalen gibt es dafür die meisten Beispiele. Aktuell finden keine Bewerbungsgespräche mehr unter Anwesenden statt. Innerhalb von 14 Tagen haben wir deshalb unseren kompletten Bewerbungsprozess, inklusive der Bewerbungsgespräche, voll digitalisiert. Ein Teil davon wird ganz sicher bleiben. Das gilt auch für unsere neuen Trainingsformate, die jetzt virtuell stattfinden, weil unsere Trainingszentren schließen mussten. Und wir haben mit unserem Betriebsrat vereinbart, dass wir Formate der Mitbestimmung auf virtuellem Weg testen. Aber es geht natürlich über das Digitale hinaus. Zum Beispiel gibt es einige Mitarbeitende, die ich jetzt aufgrund ihrer Arbeit im Krisenstab besser kennengelernt habe, und bei denen man noch einmal stärker merkt, was die für ein Potenzial haben. Diese Erkenntnisse mit in die Zukunft zu nehmen ist ebenfalls sehr wichtig. Ob positiv oder negativ: Vieles wird in der Krise wie im Brennglas sichtbar – und daraus müssen wir jetzt lernen.

Wie kann das am besten gehen?

Man muss sich die richtigen Fragen stellen. Ich halte mit meinem Führungsteam bald eine Klausur, wo wir genau das tun. Wir überprüfen: Welche Themen brauchen jetzt eine andere Zeitleiste? Was ist überhaupt noch wichtig? Und was sind vielleicht Dinge, die wir noch nicht so zentral auf unserem Zettel haben, die jetzt aber drauf müssen? Ein konkretes Thema ist zum Beispiel die Kommunikation. Wir haben bei uns gesehen, dass der Informationsaustausch der Beschäftigten in einem noch nie gesehenen Maß stattfindet. In unserem Social Intranet erleben wir ein sehr großes Informationsbedürfnis. Das sind Klickzahlen, die sind zum Teil dreimal größer als die Maximalzahlen vor der Krise. Hier stärkt das Digitale auch den Zusammenhalt. Da kann man zukünftig noch deutlicher ansetzen und damit auch das Miteinander, die Partizipation und die Motivation noch stärker verankern.

Wir haben bei uns gesehen, dass der Informationsaustausch der Beschäftigten in einem noch nie gesehenen Maß stattfindet. Hier stärkt das Digitale auch den Zusammenhalt.
Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht, Deutsche Bahn

Das Entdecken der digitalen Möglichkeiten verändert unsere Arbeitswelt – und damit vermutlich auch, ob und wie wir uns zukünftig von A nach B bewegen. Wird das spürbar sein für die Bahn?

Das ist möglich. Für das Zwei-Stunden-Meeting werden viele geschäftlich Reisende nicht mehr von Frankfurt nach München fliegen. Das ist natürlich positiv. Aber sie werden vielleicht auch nicht mehr mit dem Zug fahren, weil sie eben etwas Virtuelles nutzen. Gleichzeitig wissen wir den Wert persönlicher Begegnungen jetzt vielleicht mehr zu schätzen denn je. Und gleichzeitig wird klimafreundliche Mobilität, wie sie die Bahn anbietet, langfristig immer wichtiger werden. Daher bin ich sicher, dass wir gestärkt aus dieser Krise herauskommen werden. Grundsätzlich beobachte ich, dass wir uns als Gesellschaft im Rahmen einer vernünftigen Wertediskussion nun bewusster werden, dass wir in vielen Fällen über unsere Verhältnisse gelebt haben. Dies würde ich als einen grundsätzlichen Gewinn ansehen, der über die Bahn hinausgeht.