Business Transformation Selbstorganisation

Eine reale Utopie: Company Sharing

Die dezentrale Netzwerkorganisation „Your Company“ hat eine kühne Vision: eine Firmenstruktur für alle, die eigene Produkte lancieren möchten. Geht das Konzept auf?

Remote Work und Video sind Alltag

Es ist Donnerstagvormittag, 9.15 Uhr. Langsam poppen zum Weekly auf MS Teams die Gesichter aus den Wohn- und Arbeitszimmern der rund zehn festen Teammitglieder von Your Company auf. Für sie sind diese Video-Calls keine Besonderheit. Schon vor Corona loggte sich jeder dort ein, wo er oder sie sich gerade befand. Mit dem Franzwerk, einem „Co-Creation Space“ in Tübingen, gibt es zwar eine Art Firmensitz. Doch jeder entscheidet selbst, wann, wo, wie viel und woran er oder sie arbeiten möchte.

Wir wollen den Oldtimer Arbeitswelt neu erfinden.
Elias Schiele, Mitgründer Your Company

Elias Schiele etwa hat sich aus Portugal zugeschaltet. Dort ist er mit seiner Frau und den Kindern in einem ausgebauten LKW unterwegs, hat einen Stellplatz gefunden, wo er trotz Ausnahmezustand bleiben kann, mitten in der Natur. Der Mechatronik-Ingenieur war von Anfang an bei Your Company dabei, nachdem er einige Jahre in einer Produkt-Dienstleistungsfirma tätig war. „Bei der ersten Gehaltsverhandlung mit meinem damaligen Arbeitgeber habe ich die Mini-Lohnerhöhung abgelehnt, die mir wie ein praller Nikolausstiefel angepriesen wurde. Statt nur für andere Gas zu geben, wollte ich lieber weniger arbeiten“, erzählt er. Als einziger Beschäftigter bekam er eine 35-Stunden-Woche, galt fortan im Großraumbüro als der Faule. „Wenn ich mit Kollegen unter vier Augen sprach, klopften sie mir auf die Schulter. Aber sie hatten irgendwie kapituliert.“

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Video-Meetings gehören zum Alltag.

Um zu funktionieren, hätte er sich zu sehr verbiegen müssen, sagt Schiele. Stattdessen half er nun dabei, das Start-up Innocyte aufzubauen, eine Ausgründung aus dem Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) der Fraunhofer Gesellschaft in Stuttgart, die Gerätelösungen für Biotechnologie und Medizintechnik produziert. Er beobachtete Mechanismen in der Start-up-Szene, die nachhaltige Aufbauarbeit erschweren – zum Beispiel, weil Geldgeber sich stark in die Entwicklung einmischen und es ihnen nie schnell genug gehen kann. Einige Freunde fingen damals einfach gemeinsam an, eigene Produkte zu bauen: zum Beispiel ein Blech-Gehäuse namens Micpower Supply für die Stromzufuhr von Mikrophonen. Wenig später stand der Entschluss, die Idee von Your Company zu verwirklichen: „Wir wollen den Oldtimer Arbeitswelt neu erfinden“, erklärt der Ingenieur.

Verbesserungsvorschlag für die Arbeitswelt

„Uns verbindet das Bedürfnis, anders zu arbeiten. Dafür möchten wir einen konkreten Verbesserungsvorschlag machen“, bekräftigt Kalle Bendias, einer der Mitstreiter von Your Company. Der Vorschlag ist eine große Vision: „Company Sharing“. Damit ist eine Firmeninfrastruktur gemeint, mit der jeder Produkte entwickeln und vermarkten und somit niederschwellig gründen kann. Für die Teammitglieder von Your Company ist das eigentliche Ziel jedoch die individuelle Potentialentfaltung. Alle Nutzer von Your Company sollen dank der dezentralen Netzwerkstruktur entscheiden können, in welche Ideen sie ihre Mitarbeit stecken und wie viel Zeit sie investieren. In Eigenregie formen sie Teams um einzelne Ideen, sogenannte Produktpartnerschaften. Alle Stakeholder – egal ob sie Geld oder Arbeit investieren – sollen dabei fair beteiligt sein.

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Prof. Theresa Veer begleitet das Projekt.

Wer gründet, muss normalerweise viele Dinge gleichzeitig auf die Reihe bringen: rechtliche Schritte, um eine Firma offiziell einzutragen, Personal gewinnen oder Geldgeber an Land ziehen. Wenn es jedoch eine Organisation gäbe, die all das übernähme, könnten sich Ideengeber und Teams voll und ganz auf ihre Produkte konzentrieren – und auf ihre Potentialentfaltung. „Unsere Infrastruktur soll Menschen dazu befähigen, das zu tun, was sie innerlich antreibt. Durch die Freiheit, in verschiedenen Projekten gleichzeitig zu arbeiten, kann man auch Jobs jenseits der eigenen Ausbildung ausprobieren“, erläutert Kalle Bendias. Er kann selbst ein Lied davon singen. Schließlich ist Your Company eigentlich auch ein Start-up, selbst wenn vieles hier nicht in dieses Raster zu passen scheint. Der Physiker, der vorher als Akademiker an der Uni tätig war, hat sich in das Thema Start-up-Finanzierung eingearbeitet, führt inzwischen Gespräche mit Investoren und treibt die Initiative „Fair Share“ voran, in der es um eine faire Vergütung aller Produktpartner geht. Er schrieb den ersten Entwurf für einen Businessplan, ohne grundlegende BWL-Kenntnisse. Auch beim später genehmigten Exist-Förderantrag beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie war er mit dabei. „Keiner kann sowas alleine machen, sondern ist auf die Expertise vieler angewiesen.“

Raus aus dem Haifischbecken Start-up-Szene

Sich Aufgaben suchen, auf die man wirklich Lust hat – das funktioniere dank eines divers aufgestellten Teams in puncto Erfahrung, Background und Know-how sowie eines Netzwerks, für das Your Company schon zu Beginn den Grundstein legte. Die Verbindungen zur Forschungslandschaft und zur Universität Tübingen sind eng – auch dank Prof. Theresa Veer, die im Team mitarbeitet. Eigentlich wäre sie nun in den USA auf Forschungsreise, heute hat sie sich aber wegen des US-Einreisestopps von zuhause in Tübingen ins Weekly eingeloggt. An der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät erforscht sie, was Start-ups erfolgreich macht.

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Im Moment von Portugal aus dabei: Elias Schiele. 

„In der Start-up-Szene gilt bisher: Der Teufel scheißt auf den größten Haufen. Wer schon vom Elternhaus her mit Bildung oder finanziellen Mitteln ausgestattet ist, bekommt leichter Zugang zu einer Unternehmensgründung und zu weiterem Reichtum. Gründer sind mehrheitlich jung, männlich, weiß“, sagt die Professorin. Vor allem Frauen, aber auch ältere Menschen blieben oft außen vor. Deshalb war sie sofort begeistert, als sie vor gut zwei Jahren die Ideen von Your Company kennenlernte, sah die Chance, den Zugang zur Gründung egalitärer zu machen. In Deutschland können sich laut Global Entrepreneurship Monitor zwar 40 Prozent der Bevölkerung vorstellen, zu gründen. Aber letztlich betätigen sich nur 6 Prozent tatsächlich unternehmerisch. Im weltweiten Vergleich sei das sehr gering, so die Forscherin. Diejenigen, die den Schritt wagen, stünden unter einem hohen psychologischen Druck: Die Angst zu Scheitern sei sehr hoch. „Mich interessiert an der Arbeit von Your Company das Potential, soziale Strukturen aufzubrechen und positiv zu verändern.“

Die Idee: Produktpartnerschaften

Dafür braucht es neben dem Aufbau einer leicht zugänglichen Infrastruktur vor allem funktionierende Produktpartnerschaften. Bisher gibt es bereits acht Produkte, die Your Company begleitet, fünf unter der Marke analogvibes: originalgetreue Gehäuse-Nachbauten legendärer analoger Röhren-Tonstudiogeräte der 60er und 70er Jahre. Hinzu kommt die Produktpartnerschaft „Wangenheber“, eine Kooperation mit einem KMU, die unter dem Label sensign einen Sensorik-Labortisch auf den Markt gebracht hat. Außerdem gibt es den Multifunktionsspaten Spartakus, der sich gerade in der zweiten Prototypenphase befindet und kurz vor der ersten Produktionsserie steht. Und mit Goodmotion hat sich Ende 2019 ein bereits etabliertes Start-up dem Netzwerk von Your Company angeschlossen, um einen Fahrradanhänger marktreif zu machen.

David Jenaro berät Produktpartnerschaften. Er sondiert, welche Produktionsbedingungen, Lieferketten und rechtlichen Fragen eine neue Idee mit sich bringen – und ob das zu Your Company passt. Gerade ist er in Gesprächen mit verschiedenen Interessierten. Die einen planen eine Hautcreme, die anderen ein Sorbet aus Brasilien. Während der Teams-Sitzung turnen im Hintergrund zwei seiner fünf Kinder herum, für Jenaro keine Ausnahmesituation – auch sonst nimmt er sie oft zur Arbeit mit. Er ist wie sein Bruder Elias Mechatronikingenieur und überzeugt, dass Your Company sich zunächst auf „echte Produkte“ fokussieren sollte.

Ziel: Das „Wikipedia“ für Produktentwickler werden

„Im Bereich Software existieren schon viele Plattformen. Unser System soll die Verwaltung des ganzen Ablaufs an den Schnittstellen bei Produzenten und Dienstleitern erleichtern“, betont Elias. So macht die Produktpartnerschaft beispielsweise die Zeichnung und Konstruktion für ein Produkt wie Micpower Supply, die geht über Your Company zum Zulieferer, der die Teile fertig, sie dann an den Siebdruck schickt, von wo sie zum Fulfillment-Dienstleiter gehen, der die Lagerhaltung, Kommissionierung und optimalerweise auch die Qualitätssicherung übernimmt. Zwischengeschaltet ist höchstens ein Transportdienstleiter, eigene Fabriken oder Lagerräume sind nicht nötig. Your Company setzt dafür ein ERP-System mit der Open Source Software Odoo auf, das Finanzbuchhaltung mit Lager- und Warenwirtschaft verbindet.

„Ich möchte aktiv etwas dazu beitragen, dass die Unternehmenswelt sich verändert und Wachstum nicht zum Selbstzweck wird“, sagt Silal El-Saleh.
„Was passiert mit meinem Wertbeitrag und meinem Wohlbefinden, wenn ich mich auf das konzentriere, was mich intrinsisch motiviert?“ Das möchte Silal El-Saleh herausfinden.

Die Infrastruktur bringt damit die Vorteile von Start-up und Konzern zusammen: einerseits die hohe persönliche Motivation, ein Produkt erfolgreich zu machen, andererseits die große Firma, die Abläufe perfektioniert, hohe Qualität bietet und mehr Sicherheit als ein Jungunternehmen, das morgen schon pleite sein kann. „Jeder weiß, wofür Wikipedia gut ist. Aber unseren Ansatz haben viele noch nicht verstanden“, räumt David ein. 2018 erschien ein Artikel über Your Company auf brand eins. Die Reaktionen waren enorm, sofort meldeten sich ganz viele Menschen und wollten direkt mitmachen – die Idee zündete. Allerdings kamen auch Leute auf Your Company zu, die ein Event organisieren, ein Buch herausbringen oder einen Fußballverein gründen wollten. Dafür brauche man Your Company nicht, auch wenn eine Erweiterung in diese Richtungen künftig nicht ausgeschlossen sei.

Eine Firma, die sich selbst gehört

Bis dahin konzentrierten sich die Teammitglieder auf die eigene Organisation. Im letzten Jahr gründeten sie die Firma in „Verantwortungseigentum“: „Wir möchten ein demokratisches Unternehmen sein, das nach einem meritokratischen Prinzip funktioniert. Aufgaben übernehmen diejenigen, die am besten dafür geeignet sind. Jeder soll ein Mitspracherecht haben“, erklärt der Ingenieur. Start-ups strebten oft nach einem gewinnbringenden Exit oder Börsengang, der dazu führe, dass sie den Shareholder Value über die eigenen Ziele und die Interessen anderer Stakeholder stellen. Gerade eine Organisation, die frei zugängliche Infrastruktur für niederschwelliges Gründen bereitstelle, müsse anders funktionieren. „Wir wissen ja, wie leicht ein Unternehmen das Motto ‚Don’t be evil‘ einfach in die Tonne tritt.“

Stattdessen soll Your Company nachhaltig gewährleisten, dass auch mit künftigen Erfolgen der Zweck des Unternehmens gewahrt bleibt. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Die gängigen Rechtsformen sehen das in Deutschland bisher eigentlich nicht vor. Unternehmen wie Zeiss oder Bosch arbeiteten dafür eine halbe Ewigkeit an komplizierten Eigentümerstrukturen – trotz großer Rechtsapparate. „Zwei Jahre lang sind wir gegen Mauern gerannt. Doch wenn man nicht aufgibt, wird man irgendwann magnetisch. Jemand hat uns mit der Purpose Stiftung vernetzt“, erinnert sich David. Die 2018 lancierte Initiative setzt sich für Verantwortungseigentum ein und berät Unternehmen, die ihre Werteorientierung rechtlich bindend in ihrer DNA verankern wollen. Zu den Unterstützerunternehmen gehören unter anderem das Einzelhandelsunternehmen Globus, der Bio-Supermarkt Alnatura, die GLS Gemeinschaftsbank oder der Kondomhersteller Einhorn. Das Prinzip passt für den Ingenieur genau zu Your Company: „Wer etwas benutzt und pflegt, sollte es auch besitzen. Ich liebe meinen Werkzeugkasten heiß und inniglich und fühle mich dafür verantwortlich. Das ist es letztlich, was Verantwortungseigentum auf der Ebene von Unternehmen meint.“

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„Uns verbindet das Bedürfnis, anders zu arbeiten“, erklärt Kalle Bendias.

Trotz der Beratung durch die Purpose Stiftung blieb die Gründung in Verantwortungseigentum kompliziert – und ist vor allem dank des Kollegen Christian Bayer gelungen, der Jurist in den eigenen Reihen. Die Lösung sieht drei Geschäftsführer vor, die nach außen nicht aktiv als solche auftreten und nach zwei Jahren neu gewählt werden, also automatisch abtreten. Die Geschäftsführer haben die Aufgabe, die Geschäftsverwaltung zu koordinieren und zusammenzuhalten. Die „Governance“ obliegt jedoch der Jahresversammlung aller Teammitglieder: Dabei können sie eigene Initiativen einbringen, für die sie den Hut aufhaben und Mitstreiter suchen. Initiativen entstehen auch unterjährig aus Ideen oder Verbesserungsvorschlägen. Der Gedanke dabei: So entwickelt sich das System der Zusammenarbeit evolutionär weiter – und zwar ohne Chefs, bottom-up.

Freiheit aushalten

Das Franzwerk, der Co-Creation Space in Tübingen, wo sich die Beteiligten nach Bedarf persönlich treffen, liegt gerade im Dornröschenschlaf, wenn nicht ausnahmsweise jemand in der Werkstatt schraubt oder eine kleine Auszeit vom Familienleben im Homeoffice nimmt. Im Schaufenster prangt ein Schild mit der Aufschrift: „Freiheit aushalten“. Was in diesen Tagen eher paradox klingt, hat dennoch weiterhin Gültigkeit: Nicht immer ist es leicht, wenn jeder mitbestimmt und die Organisationsstruktur mitgestaltet, hat Silal El-Saleh beobachtet. Die Meeresbiologin engagiert sich bei Your Company und hat viele Abläufe coronabedingt auf virtuellem Weg kennengelernt. Mit Video-Calls, Brainstorming über OneNote oder die schon gesammelte Erfahrung mit dezentralem Arbeiten funktioniere das gut.

„Ich möchte aktiv etwas dazu beitragen, dass die Unternehmenswelt sich verändert und Wachstum nicht zum Selbstzweck wird“, sagt sie. Dabei macht sie sich nichts vor: „Es wäre schön, wenn in Your Company Produkte entstehen, die dem Gemeinwohl dienen und auf Nachhaltigkeit einzahlen. Die Nutzer sollen aber frei entscheiden, den ethischen Richtlinien zu folgen.“ Den ersten Sensorik-Labortisch hat allerdings ein großer Tabakkonzern gekauft – und damit die Ansicht befeuert, dass es einen Ethikbeirat geben sollte. Denn Produkte, die der Waffen- und Rüstungsindustrie dienen, schließt Your Company zwar aus, aber die Grenzen der Gemeinwohlorientierung sind fließend. „Es gilt, gemeinsam mit den Produktpartnerschaften herausfinden, ob sie in Verantwortungseigentum und der Gemeinwohlökonomie verpflichtet gründen wollen und wie sie sich das leisten können.“

Ein Experiment: Oldschool-Arbeit verlernen

Silal bringt viel Erfahrung mit Benutzerakzeptanz, Changemanagement und Lernagilität ein. Sie weiß, wie man Menschen den Mehrwert von Software vermittelt. Entsprechend versteht sie sich als Strukturgeberin: Sie hilft dabei, die Prozesse für Onboarding von Produktpartnerschaften und weiteren neuen Kollegen digital abzubilden. Gerade nutzt sie zusammen mit dem Team den Corona-Shutdown, um die interne Website so aufzubauen, dass alle, die neu bei Your Company mitmachen, die Organisation eigenständig überblicken können. Einerseits sei es anfangs wichtig, die Prinzipien und die aktuelle Zielrichtung der Organisation zu verstehen. Anderseits komme es darauf an, eigene Strukturen für sich und für die Zusammenarbeit im Team zu finden.

Dabei geht es nicht immer konfliktfrei zu. „Manche reden viel und befinden sich auf einer abstrakten Ebene, andere hören eher zu und widmen sich der Praxis. Nicht alle haben auf Anhieb das gemeinsame Ziel vor Augen.“ Wenn die „Verantwortungseigentümer“ eigeninitiativ Themen verfolgen und sich bei der Arbeit nicht verstellen müssen, bringt dies auch Emotionen und Spannungen hervor. Im Umgang mit der Corona-Krise habe sich etwa gezeigt, dass der Informationsbedarf sehr unterschiedlich sei. Das gelte aber auch für andere Themen. Gerade im virtuellen Raum kommt es laut der „Digital-Enablerin“ auf die richtige Flughöhe an: „Transparenz ist eine Gratwanderung zwischen zu viel Detail und einer zu groben Darstellung einer Sache. Um wertschätzend mit der Zeit anderer umzugehen, müssen wir uns immer fragen, was ist eigentlich unser Thema, wo ist die Informationslücke und wer kann dabei helfen.“ Auf der Suche nach einem gemeinsamen „Werteteich“ hat sie ein Prinzip beobachtet, auf das sich alle bei Your Company einigen können: „Meine Freiheit endet, wenn sie die Freiheit anderer einschränkt.“

Auf dem Weg zum „Fair Share“

Das allgemeingültige Konzept der Vollzeitstelle mit einer 40-Stunden-Woche versucht Silal gerade zu verlernen, um Lean-Startup-Denken in ihre Arbeitsweise zu integrieren – etwa, indem sie nur kurzfristige Schritte im Zweiwochentakt plant. Wenn sie Führung braucht, holt sie diese aktiv bei Mitstreitern ein, die für eine Fragestellung die Expertise haben. Ihr aktuelles Engagement ist für sie letztlich auch ein persönliches Experiment und eine Suche nach Antworten auf die Frage: „Was passiert mit meinem Wertbeitrag und meinem Wohlbefinden, wenn ich mich auf das konzentriere, was mich intrinsisch motiviert?“ Der Faktor Zeit sei jedenfalls nur ein Aspekt unter vielen, wenn es um qualitativ hochwertige Arbeit geht.

Dieser Gedanke betrifft auch die Vergütung. Diejenigen, die überwiegend für Your Company arbeiten, bekommen bisher eine Art Grundsicherung, um ihre Fixkosten zu decken. Letztlich investieren sie ins Unternehmen – ihre Arbeit ist die Währung. Um diese umzurechnen, gibt es sogenannte Wertschätzungsrunden, die quartalsweise stattfinden. Darin sprechen die Teammitglieder über einzelne Arbeitspakete und vergeben Punkte: etwa für die Wertigkeit der Arbeit am Markt, die Qualität sowie den Wertbeitrag fürs Unternehmen und fürs soziale Gefüge. „Wer den Müll runterbringt, macht eine Arbeit, die eher unangenehm ist. Als Ingenieur verdient man normalerweise mehr, die Aufgaben machen aber auch mehr Spaß. Das gewichten wir in den Wertschätzungsrunden“, führt Elias aus. Letztlich vergleichen die Kollegen die verschiedenen Arbeitspakete so miteinander und kommen gemeinsam zu einer Einigung, bei der sich jeder wertgeschätzt fühlen soll.

Investition Arbeit

„Das war teilweise ein schmerzhafter Prozess und ist es noch“, gibt Kalle zu. Er kümmert sich federführend um das Thema „Fair Share“. Künftig soll der Prozess der Wertschätzungsrunden auch bei allen Produktpartnerschaften zum Einsatz kommen. Diese sind Töchter von Your Company. Die Firma hält die Markenrechte, auch wenn die Beteiligten in den Produktpartnerschaften bei Bedarf über selbige verfügen könnten. Um eine faire Vergütung zu gewährleisten, kommen aber noch weitere Faktoren ins Spiel: Die Idee der Gründer zählt nicht mehr als andere Arbeitspakete. Mit steigender Zahl der Teammitglieder in Produktpartnerschaften erhalten einzelne ein kleineres Stück vom Gesamtkuchen, dem zu verteilenden Budget. Doch der Kuchen wächst, wenn sich ein Produkt gut verkauft und mehr Menschen daran mitarbeiten, weil sie an die Idee und deren Erfolg glauben. „Für Investoren ist das ein bekannter Mechanismus: Sie investieren, weil sie das Team überzeugt. Das ist eine Bauchentscheidung, selbst bei hohen Beträgen. Aber der Schritt, dass sich jeder mit seiner Arbeit als Investor begreift, ist enorm“, glaubt Kalle.

Der Quantenphysiker arbeitet zusammen mit Prof. Theresa Veer seit einiger Zeit an einem Algorithmus für eine App, die auf Blockchain-Technologie basiert. Das ist eine Mammutaufgabe. Derzeit fehlt dafür die Datenbasis. Die ersten Produktpartnerschaften reichen noch nicht, um valide Aussagen zu treffen. Künftig wird viel davon abhängen, ob weitere Produktpartnerschaften ihre Arbeitspakete gut dokumentieren und die App als Grundlage für ihre Vergütung akzeptieren. Welche Wechselwirkungen der Ansatz auf die Motivation der Beteiligten hat, ist ebenso offen. Und dabei steht Your Company jetzt vor der größten Herausforderung: ihr komplexes System zu skalieren.

Der Zauberer der Zukunft

Theresa Veer baut darauf, dass die Produktpartnerschaften möglichst einheitliche Prozesse finden und sich bestimmte Arbeitspakete häufig wiederholen. „So könnten wir analysieren, wann welche Schritte in Start-up-Projekten entscheidend sind. Dabei entsteht ein System, das wir ‚Wizard‘ nennen: Es sammelt alle Learnings aus ganz vielen Produktpartnerschaften und stellt sie als automatisierte Beratung bereit.“ Wie eine Art virtueller Coach könnte eine Software die Gründer sogar anstupsen und Tipps für verschiedene Phasen der Produktentwicklung geben – einen Preisvorschlag für die Wertschätzung inbegriffen. Der „Wizard“ soll zum Unternehmertum befähigen. Zu dieser Form des Wissensmanagements kommt die physische Infrastruktur hinzu. Damit wäre jedes Themenfeld vorhanden, das auch klassische Unternehmen haben.

Der Weg dahin ist jedoch weit. „Bisher kennen sich die Menschen in den Produktpartnerschaften. Die große Frage ist, ob wir das auch digital großflächig in die Kultur der Zusammenarbeit implementieren können“, so die Professorin, die sich für Your Company on top zu ihrem Hauptjob an der Uni engagiert. Für sie lohnt sich allein der Versuch. Die Vision sei stark, gerade für eine Zeit nach Corona. Dieser Tage wird angesichts der Krise viel über eine neue Form des Wirtschaftens diskutiert. Dezentrales Arbeiten gilt als Teil der Lösung. Your Company ist dabei dank der eigenen Organisationsform und der Vision praktisch und gedanklich ein paar Schritte voraus. Auch deshalb laufen die Gespräche mit Investoren gut. Der Glaube an das Team ist da, auch bei den Teammitgliedern selbst.

Das Weekly endet immer mit einem Check-out, bei dem jeder abschließend Feedback gibt. Dabei sind alle Bemerkungen erlaubt, egal ob beruflich oder privat. David Jenaro bringt die Energie von Your Company für heute auf den Punkt: „Wir wissen, wo wir hinwollen: Jeder soll sein Potential entfalten können und fair an der Wertschöpfung beteiligt sein. Auf dem Weg dahin müssen wir noch eine Milliarde Kompromisse eingehen. Nur so kommen wir dem Ziel näher.“