Selbstorganisation Aufbrecher

Selbstorganisation braucht Schulung und Zeit

Buurtzorg Deutschland möchte der ambulanten Pflege, die häufig zu Akkordarbeit geworden ist, mit selbstorganisierten Teams wieder mehr Wert und Sinn verleihen. Doch aller Anfang ist schwer, wie die Learnings aus Pilotprojekten zeigen.

Pflege ganz anders organisieren: Das ist das Ziel von Buurtzorg Deutschland. Dazu gehört vor allem die Selbstorganisation der Pflegenden. Foto: Buurtzorg Deutschland
Pflege ganz anders organisieren: Das ist das Ziel von Buurtzorg Deutschland. Dazu gehört vor allem die Selbstorganisation der Pflegenden. Foto: Buurtzorg Deutschland

Pflege in Selbstorganisation

Zeitdruck, Bürokratie, wenig Anerkennung – so sieht der Alltag in der ambulanten Pflege oft aus. Pflege ist Akkordarbeit: drei Minuten für Kompressionsstrümpfe, zehn für die Medikamentengabe, dreizehn für Waschen. „Satt und sauber“ lautet die Devise; Zwischenmenschliches bleibt auf der Strecke. Die pflegerische Einschätzung der Mitarbeitenden, ihre Vorschläge und Ideen finden kaum Beachtung. Oftmals geht dies auf Kosten der Patienten, wider besseres Wissen. In einem System, das Pflege in Einzelprodukte zergliedert, ist Demotivation vorprogrammiert. Kein Wunder, dass Personal in der Altenpflege schwer zu finden ist: Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln fehlten allein zwischen Juli 2019 und Juni 2020 20.282 Fachkräfte in dem Bereich.

Ein Modell aus den Niederlanden

Gunnar Sander, Inhaber des Pflegediensts Sander Pflege, verfolgt deshalb eine Mission: Buurtzorg, das Prinzip der Nachbarschaftspflege aus den Niederlanden, in Deutschland zu etablieren und das deutsche Pflegesystem damit zu revolutionieren. „Ein Chef ist dazu da, Entscheidungsgrundlagen für die Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass sie sich das nötige Wissen für ihre Arbeit aneignen“, ist er überzeugt. Alles andere könnten die Beschäftigten selbst übernehmen. Schon 2018 hat der Münsteraner ein Pilotprojekt lanciert: Drei Teams mit maximal zwölf Personen fingen an, in Selbstorganisation ohne Führungskraft zu arbeiten. 2019 hat Gunnar Sander dafür die gemeinnützige GmbH Buurtzorg Deutschland Nachbarschaftspflege gegründet, die hierzulande die neue Arbeitsweise vorantreibt. Acht Teams sind mittlerweile auf Buurtzorg umgestiegen, Anfang 2021 kommen zwei weitere dazu – nicht nur in Westfalen.

Ein Chef ist dazu da, Entscheidungsgrundlagen für die Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass sie sich das nötige Wissen für ihre Arbeit aneignen.
Gunnar Sander, Inhaber Sander Pflege

Buurtzorg sieht eine ganzheitliche Betreuung der Patienten vor. In lokalen Netzwerken aus Beteiligten – neben den Angehörigen, Ärzten und Sanitätshäusern gehören auch Freunde, Nachbarn, Vereine oder Ehrenamtliche mit dazu – kann jeder entscheiden, wo er oder sie mit anpacken möchte. Ein zentrales Merkmal ist die Bezahlung nach Zeit statt Leistung. So können die Pflegekräfte ihre Arbeit je nach Patientenbedarf individuell gestalten. In den Niederlanden ist dies leichter möglich, da nur examinierte Pflegekräfte zum Einsatz kommen – dort arbeiten inzwischen mehr als 14.500 Beschäftigte nach der Methode. In Deutschland hingegen sind auch viele ungelernte Mitarbeitende tätig – und es ist genau festgeschrieben, wer welche Aufgaben übernehmen darf. „Die Krankenkassen müssen probeweise die Abrechnung nach Zeit statt Leistung genehmigen“, erklärt Gunnar Sander.

Ist trotz Rückschlägen von selbstorganisierten Pflegeteams überzeugt: Guido Sander Foto: Buurtzorg Deutschland
Ist trotz Rückschlägen von selbstorganisierten Pflegeteams überzeugt: Guido Sander Foto: Buurtzorg Deutschland

Erste Teams starten richtig durch

„Wir müssen wieder zu einer Solidargemeinschaft werden, in der alle gemeinsam anpacken – so wie das damals die Gemeindeschwestern vorgelebt haben“, fordert Udo Janning, der seit 31 Jahren in der Pflege arbeitet. Der Pflegedienstleiter hat bei Sander Pflege von Anfang an Buurtzorg-Teams betreut und Höhen und Tiefen erlebt. Wenn Teams in dem neuen System starten, stehen viel Fragen im Raum. Welche Formulare und Arbeitsnachweise müssen wann gemeldet werden? Wer darf welche Aufgaben übernehmen? Und wie intergiert man alles in die tägliche Dienstplanung? Morgens früh treffen sich die Teams im Büro. Dann wird der Einsatz des Tages besprochen: Was gibt es Neues von der Spätschicht, welche Arztkontakte stehen an. Drei Touren sind täglich zu besetzen – morgens, mittags und abends. Wenn eine Tour zu voll ist, muss das Team eine Lösung finden. Am Ende der Tour treffen sich die KollegInnen im Büro und erledigen alles, was sonst noch so anfällt, Medikamente bestellen, Neuaufnahmen im System eingeben, Touren- und Dienstplanung.

Wir müssen wieder zu einer Solidargemeinschaft werden, in der alle gemeinsam anpacken – so wie das damals die Gemeindeschwestern vorgelebt haben.
Udo Janning, Pflegedienstleiter, Sander Pflege

2018 startete ein Team in Hörstel, das Udo Janning begleitete, mit der neuen Arbeitsweise richtig durch. Für jeden Pflegebedürftigen ist nun eine bestimmte Zeit reserviert, die die Pflegekräfte flexibel nutzen. Wenn eine Patientin traurig wirkt, können die Pfleger mit ihr auch einmal das Fotoalbum hervorholen und sich um das seelische Wohl kümmern. Fürs Recruiting schaltet das Team in Eigenregie Anzeigen und stellt sich auch mal als Personalmarketingmaßnahme auf den Wochenmarkt, vor Corona zumindest. Wenn sie unsicher sind oder ein Problem nicht im Team lösen können, wenden sie sich direkt an ihren Coach oder fragen die holländischen Kollegen um Rat. Schon anfangs lief es in Hörstel so gut, dass sich dort sogar noch ein zweites Team gebildet hat.

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Von Schichtplanung bis Tagesorganisation planen die MitarbeiterInnen alles selbst. Foto: Buurtzorg Deutschland

Im Schnelldurchlauf gegen die Wand

Doch Udo Janning hat auch andere Erfahrungen gemacht. Anfang 2020 starteten bei Sander Pflege zwei Teams in einer neu gebauten Pflegewohngemeinschaft für 20 Bewohner. „Das ging alles zu schnell“, erzählt der Pflegedienstleiter, der eigentlich keiner mehr sein wollte. Das Team sei in kürzester Zeit enorm gewachsen und zu groß geworden. Das erschwere Selbstorganisation. Denn der Knackpunkt sei ja, wie es Kollegen gelingt, ohne Chefs an einem Strang zu ziehen und zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen. „Es gilt, sich immer auf einer Ebene zu bewegen. Manche müssen hochkrabbeln und andere runterkommen.“ Das falle einigen sehr schwer – viele Menschen seien eben in hierarchischen Arbeitssystemen sozialisiert. Gerade anfangs müsse man aufpassen, nicht in alte Gewohnheiten zurückzufallen, etwa indem man Tätigkeiten den erfahrenen Leuten überlässt, statt es selbst zu probieren.

„Durch den finanziellen und zeitlichen Druck sowie die steigende Bewohnerzahl litt das Recruiting – manche Leute passten nicht in ein Buurtzorg-Team.“ Einige hatten zuvor keine Berührung mit Pflegearbeit gehabt. Ungelernte Kräfte können durchaus in der Pflege Fuß fassen, betont Udo Janning. Das Problem war aber, dass niemand Erfahrung mit selbstorganisiertem Arbeiten hatte und die Vorstellungen sehr verschieden waren, was Buurtzorg eigentlich meint. Manche verließen das Team schnell wieder, anderen riefen nach einer Leitung und wieder andere wollten selbständiger arbeiten, weil sie sich ja für die neue Arbeitsweise explizit entschieden hatten. „Da hätten wir mit professionellem Coaching und Gesprächen gegensteuern müssen. Die Teams müssen erlernen, wie man als Team gemeinsam Stolpersteine beseitigt.“

Foto: Privat
Möchte Pflegedienstleitung im Kern unnötig machen: Pflegedienstleiter Udo Janning. Foto: Privat

Der Altenpflegeexperte merkte, wie er zunehmend in seine alte Rolle als Leitungsperson rutschte, obwohl er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. „Man muss sich mehr vernetzen und miteinander austauschen – das kann noch besser werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die Mitarbeiter das Prinzip Selbstorganisation generell in Frage stellen und sie die Philosophie von Buurtzorg nicht leben.“ So lief es aber in diesem Fall: Irgendwann waren die Pflegekräfte mehrheitlich der Meinung, dass es ohne Leitung nicht mehr gehe. Am Ende erschien die Lage aussichtslos und die Geschäftsführung musste handeln. Sander Pflege entschloss sich, das Experiment zu beenden und führte das „alte Pflegesystem“ wieder ein.

Learnings für die Zukunft

„Man hätte mehr schulen müssen“, ist auch Gunnar Sander überzeugt. „Selbstorganisation fällt nicht allen gleich leicht.“ In Gesprächen vor Ort stellte er fest, dass die Mitarbeitenden wenig über die Buurtzorg-Idee wussten, obwohl sie im Recruiting-Prozess eigentlich alle Informationen erhalten hatten. „Die Ziele muss man als Team bearbeiten und auch Vereinbarungen treffen, nach dem Motto, in einem Monat möchte ich ein Problem gelöst haben und diese Schritte werden wir dafür unternehmen.“ Das habe man bisher den Teams überlassen, aber im Zweifelsfall müssten künftig auch Coachs Verbindlichkeit schaffen. Stärker aufklärend und beratend einzugreifen sei auch angebracht, wenn Teams sich untereinander nicht unterstützen. „Da müssen wir die Warnsignale erkennen und den Mut haben, die Dinge offen anzusprechen.“

Das Buurtzorg-Aus für die Pflegewohngemeinschaft hatte auch mit der Umbruchsituation im Betrieb zu tun. Als sich das Team gründete, zog sich Gunnar Sander gerade aus dem operativen Geschäft bei Sander Pflege zurück, wo zwei neue Geschäftsführer antraten. Als Gründer von Buurtzorg Deutschland war er selbst viel auf Achse. Inzwischen gibt es neben den Teams in Westfalen auch eines in Augsburg und München – und ab Anfang 2021 zudem in Bremen und Nordhessen. Wenn etwa ein ambulanter Pflegedienst vor einem Generationenwechsel steht und ein Nachfolger fehlt, bietet Buurtzorg Deutschland an, Teams zu übernehmen. Der Geschäftsführer musste viele Verhandlungen führen, um Ausnahmegenehmigungen für eine Abrechnung nach Zeit statt Leistung zu erhalten – vor allem, wenn ein Team in einem neuen Bundesland anfängt. Währenddessen waren die Regionalleiter von Sander Pflege, die weiterhin einen hierarchisch geprägten Pflegedienst leiten, selbst noch nicht recht im Boot. „Es ergaben sich unterschiedliche Aussagen von den Coachs aus Holland und den Geschäftsführern. Das hat die Leute verunsichert. Man muss klare Strukturen schaffen“, weiß Gunnar Sander heute.

Auch Corona macht einen Strich durch die Rechnung

Der Buurtzorg-Deutschland-Gründer schätzt, dass man die Teams mindestens ein halbes Jahr ganz intensiv begleiten und schulen muss. Viele Teams treffen sich schon regelmäßig, bevor sie starten, um sich kennenzulernen und Selbstorganisation zu üben. Doch aktuell erschwert vor allem die Corona-Situation den Aufbau neuer Teams. Die Coachs aus Holland können nur virtuell unterstützen – wie teils auch die beiden eigenen Coachs, die Buurtzorg Deutschland inzwischen ausgebildet hat. Hinzu kommt: „In vielen Organisationen würde alles zusammenbrechen, wenn Leute jetzt wechseln“, so Gunnar Sander. Das Recruiting von Pflegekräften ist in normalen Zeiten schon schwer, obwohl Buurtzorg Deutschland besser zahlt als viele Pflegeorganisationen, die nicht tarifgebunden sind. Vor eineinhalb Jahren wurde ein neues Vergütungssystem eingeführt, das sich am TVöD orientiert. Die Gehälter können mit denen anderer Träger wie der Caritas mithalten, außerdem gibt es in jedem Gehaltsband, das auf der Ausbildung basiert, eine automatische Gehaltserhöhung nach Erfahrung – ein Fortschritt in einer Branche, in der wenig Transparenz herrscht und die Beschäftigten die Vergütung selbst aushandeln müssen.

Corona bremst neben dem Recruiting auch ein Forschungsprojekt aus, das die Fachhochschulen Münster und Osnabrück in den selbstorganisierten Teams durchführen. Sie möchten herausfinden, wie sich die Arbeitsqualität und das Patientenwohl durch die Buurtzorg-Methode verändert – im Vergleich mit konventionell arbeitenden Zwillingsteams. Aber Interviews sind vor Ort gerade nicht möglich.

Das Lernen geht weiter

Doch es gibt auch gute Neuigkeiten: Anfang Dezember machte Buurtzorg Deutschland den ersten Platz beim vdek-Zukunftspreises 2020 und erhielt ein Preisgeld von 10.000 Euro. Das hilft bei der Aufbauarbeit, etwa in Sachen Digitalisierung und innerbetriebliche Prozesse. Die Pflegesoftware der Niederländer wird aktuell noch übersetzt und soll im nächsten Jahr zur Verfügung stehen. Gunnar Sander motiviert die Auszeichnung jedenfalls für die Zukunft. „Bei Buurtzorg in den Niederlanden hat das Experimentierstadium auch drei Jahre gedauert und heute ist es ein wirtschaftlich erfolgreiches und stabiles Modell.“

In der erwähnten Pflegewohngemeinschaft, in der Udo Janning noch bis Ende 2020 arbeitete, sind mit dem „alten Pflegesystem“ Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten der Mitarbeitenden wieder reduziert. „Jetzt stöhnen einige, weil sie merken, dass sie keine Mitsprache mehr bei Dienstplänen und Co haben“, hat Udo Janning beobachtet. Er hat für sich persönlich die Konsequenz gezogen, Selbstorganisation auf einem anderen Weg zu versuchen: beim privaten Pflegedienst Prica, der neben einem Standort in Zürich ein Team in Andernach (Rheinland-Pfalz) aufbaut, stark digitalisiert ist und bereits Erfahrungen mit dem Thema gesammelt hat. Auch dort laufe alles noch mit einer formalen Pflegeleitung, doch gemeinsam mit Geschäftsführerin Katharina Grigolia-Gette und dem Team will Udo Janning ausprobieren, wie viel Freiraum in klassischen Strukturen möglich ist – ohne Ausnahmegenehmigung mit den Krankenkassen. Dem Münsteraner Pflegedienst Sander Pflege bleibt er weiterhin freundschaftlich verbunden. Da er in der Nähe wohnt, kann er sich gut vorstellen, mal als „Feuerlöscher“ einzuspringen, wenn Not am Mann ist. „Wir werden noch ganz viele Versuche brauchen, um die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern. Wichtig ist, dass wir uns von Fehlern nicht abschrecken lassen, sondern daraus lernen.“