Organisationsentwicklung

Warum wir nachhaltiger mit unseren Führungskräften umgehen müssen

Kommentar Führung ist alles, wie es so schön heißt. Alles steht und fällt mit Führung. Warum gehen Unternehmen dann so herzlos mit Führungskräften um, fragt Gastautorin Karin Lausch. Sie fordert: "Lasst Führungskräfte einfach führen. Befreit sie von unnötigem Ballast."

Foto: Joshua Hibbert on Unsplash
Foto: Joshua Hibbert on Unsplash

Alleskönner Führungskraft

Führungspersönlichkeiten haben heute viele unterschiedliche Rollen. Sie sind Coaches und Visionäre, Entwickler und Gestalter, Mentoren und Vorreiter, sie motivieren und enablen. Sie haben natürlich jederzeit das „Big Picture“ im Blick, sind immer auf dem neuesten Stand und sehen, verstehen und entwickeln ihre Mitarbeitenden. Sie wissen dadurch genau, wer welche Kompetenzen wo gewinnbringend einsetzen kann und ebnen somit Karrierewege.

Leader sind außerdem absolut empathisch und stellen immer den Menschen in den Mittelpunkt. Ihre Führung ist geprägt von Vertrauen und Kommunikation. Leader sehen, was andere noch nicht sehen können, sie teilen ihre Vision und bewegen damit andere dazu ihnen zu folgen. Und wer heute immer noch keinen Purpose hat, der sieht spätestens durch gute Führung klarer und findet bestenfalls endlich Sinnhaftigkeit in der eigenen Arbeit.

Eines verbindet alle Führungskräfte, mit denen ich spreche: Sie kommen nicht dazu zu führen.

In einer perfekten Welt würde ich den meisten dieser Rollen und Anforderungen zustimmen. Sie sind wichtig und richtig. Es braucht zukünftig genau solche Menschen, damit Unternehmen den Anforderungen des Marktes gerecht werden können. Wie gut, dass es tatsächlich Menschen gibt, die sowohl die Motivation als auch die Kompetenzen haben, diese Aufgabe zu übernehmen und an und mit ihr zu wachsen. Was folgt daraus? Unternehmen müssen alles daran setzen, diese Menschen zu finden und sie nachhaltig in diese Rolle hinein zu entwickeln. Unternehmen sollten sie auf ihrem Weg begleiten und unterstützen, damit diese Menschen sich entfalten und wachsen können.

Allein, die Realität sieht leider anders aus.

Verwalten statt gestalten

In der Realität haben Menschen es endlich geschafft und dürfen Teams führen. Sie dürfen gestalten und entwickeln, sind motiviert und voller Ideen. Und dann kommt es doch nicht dazu. Ich spreche regelmäßig in unterschiedlichen Kontexten mit sehr vielen Führungskräften aller Ebenen aus verschiedensten Bereichen, Firmen und Branchen, viele davon coache ich auch. Eines verbindet sie alle: Sie kommen nicht dazu zu führen.

Die Kluft zwischen dem gebrauchten und zeitgemäßen Führungsbild und dem, was wirklich ist, war noch nie so groß. Die Führungspotenziale von morgen werden überrollt von der Realität von heute.

Die Menschen im Unternehmen, die voran gehen sollen, die das Big Picture sehen sollen, diese Menschen gehen unter in Terminen, Selbstverwaltung, Meetings und Administration. Viele von ihnen haben viel zu große Führungsspannen oder Doppelfunktionen in Unternehmen, die in sich schon Interessenskonflikte mit sich bringen. Sie müssen nebenbei noch Projekte leiten oder mindestens in ihnen mitarbeiten. Auf jeden Fall müssen sie dabei sein. Genau wie in einer großen Vielzahl an (für sie) sinnlosen Meetings. Sie sind eingebunden in Recruiting-Maßnahmen, weil sie dringend Mitarbeitende benötigen, müssen sich in der internen Politik behaupten, Budgets verwalten und sich dann schließlich auch noch selbst irgendwie weiterentwickeln, weil dafür nur wenig Angebot zur Verfügung steht.

Nichts davon ist Führung. Zumindest nicht die Art von Leadership, wie wir (und die Ergebnisse der Google-Suchfunktion) sie doch jetzt alle definieren. Die Realität fordert Management. Die (Arbeits-)Welt wird immer vernetzter, schneller und komplexer, somit gibt es jede Menge zu tun, und in der Regel ist alles wichtig und eilig, weil einfach nicht genügend und richtig priorisiert wird.

Die Kluft zwischen dem gebrauchten und zeitgemäßen Führungsbild und dem, was wirklich ist, war noch nie so groß. Wir wollen keine Leader, die als Manager agieren, doch gleichzeitig gab es noch nie so viel zu managen. Die Führungspotenziale von morgen werden überrollt von der Realität von heute.

Vom Kampf gegen Windmühlen

Jetzt könnte man auf die Idee kommen, diesen Führungskräften einfach beizubringen, „Nein“ zu sagen. „Nein“ zu Projektarbeit, „Nein“ zu Verwaltungsaufgaben. Einfach „Nein“. Nein ist immerhin ein ganzer Satz. Dann wäre alles gut, und sie könnten sich endlich den wirklich wichtigen Führungsaufgaben widmen. Dem Entwickeln von Visionen und Menschen.

Leider funktioniert das System so nicht. Die Führungskraft, die „Nein“ sagt, gibt einen Impuls an das System, in dem sie sich befindet. In diesem Fall ist es das Unternehmen mit seinen Schnittstellen und Menschen, Strukturen und Prozessen. Es herrschen eine bestimmte Kultur und Sozialisierung in diesem System. Beides dient immer der Systemerhaltung. Bestimmte Dinge werden toleriert, andere nicht.

Der Impuls „Nein“ löst (im besten Fall) eine Störung in diesem System aus. Das System wird schnell eine Antwort auf diese Störung parat haben. Entweder wird einfach immer mehr auf die Führungskraft „gekippt“ oder das Nein hat unangenehme und konfliktreiche Konsequenzen. Auf Dauer ein Kampf gegen Windmühlen. Fast alle fragen sich früher oder später: „Warum bin ich eigentlich Führungskraft geworden und wie konnte es dazu kommen?“

Die Schwelle zum Mandat

Schauen wir uns die Antwort auf diese Fragen genauer an. Wie werden sie eigentlich gefunden, unsere Leader? Warum werden sie Führungskraft, wie kommt es dazu? In vielen Unternehmen bildet immer noch ein Assessment die Schwelle zum offiziellem Leadership-Mandat. Das Führungspotenzial von Menschen wird aufgrund ihrer Leistung an einem bestimmten Stichtag von mehr oder weniger unabhängiger Instanz in konstruierten Situationen abgefragt und geprüft. In Rollenspielen müssen die Menschen all die gewünschten Fähigkeiten auf den Punkt zeigen. Danach gibt es Feedback und dann die frohe oder eben nicht so frohe Botschaft.

Bisher haben viele Unternehmen nicht verstanden, was sie tun müssen, um gute Leader zu entwickeln und vor allem zu halten.

Wie könnte man hier mit anderen Mitteln entscheiden? Menschen holen ihre Führungskompetenzen ja nicht erst nach einer Bewerbung oder nach einer Einladung zum Assessment aus der Tasche. Führungstalent zeigt sich täglich in der eigenen Haltung, dem Menschenbild und im Verhalten. Menschen, die führen wollen und führen können, gehen in Führung. Und zwar jeden Tag und in ihrer aktuellen Tätigkeit. Sie bringen andere Menschen auf ganz natürliche Weise dazu, ihnen zu folgen. Sie hören richtig zu, sie begeistern und motivieren. Sie moderieren und haben das Ziel vor Augen. Sie gehen Konflikte an und bringen andere dazu, miteinander zu kommunizieren.

Ein Unternehmen muss in der Lage sein, zu wissen, was Menschen täglich leisten, und zu entscheiden, wer Führungsqualität besitzt. Diese Menschen muss das Unternehmen in die Führung hinein entwickeln – und zwar nicht erst, wenn diese einige Rollenspiele im Sinne des Unternehmens erfolgreich absolviert haben.

Nachhaltigkeitsstrategie für Leadership

Wir haben jetzt zwei unterschiedliche Perspektiven unserer Leadership-Hoffnungen von morgen. Die Einen sind schon mitten drin und stellen fest, dass sie sich Führung ganz anders vorgestellt haben. Einst von Leidenschaft für die Sache geprägt, verwandeln sie sich Stück für Stück in enttäuschte und desillusionierte, sowie nicht selten auch erschöpfte Manager. Sie wandern dann in der Regel irgendwann ab oder ergeben sich restlos der Systemkonformität. 

Die Anderen sind noch nicht in Führung, würden aber gerne und könnten es auch. Diese Potenziale gehen uns verloren, weil es ihnen künstlich durch Bewerbungsprozesse und Assessments erschwert wird, in eine Führungsrolle zu gelangen und sie dann auch noch sehen, was aus engagierten einstigen Leader-Vorbildern geworden ist. Sie verwerfen ihre Führungsambitionen oder wandern ebenfalls irgendwann ab.

Wenn weiterhin gute Leader ihre Unternehmen verlassen oder den Erwartungen ihres Systems nachgeben und nicht genügend Nachwuchstalente da sind, die in Führung gehen wollen, dann sind die Führungskräfte von morgen, auf die wir doch so dringend warten, vom Aussterben bedroht, bevor sie überhaupt richtig angefangen haben. Wenn aber doch alles mit Führung steht und fällt und Führung so wichtig ist, warum wird sie dann so sehr sich selbst überlassen? Warum gehen wir nicht endlich nachhaltig mit unseren Führungstalenten um?

Ein Unternehmen muss in der Lage sein, zu wissen, was Menschen täglich leisten, und zu entscheiden, wer Führungsqualität besitzt. Diese Menschen muss das Unternehmen in die Führung hinein entwickeln

Bisher haben viele Unternehmen nicht verstanden, was sie tun müssen, um gute Leader zu entwickeln und vor allem zu halten. Die Einstellung, dass Menschen dankbar sein müssten, wenn sie die Chance bekommen zu führen, ist inzwischen völlig obsolet. Unternehmen müssen umdenken und es als ihre Aufgabe begreifen, Führungspositionen für ihre Talente attraktiv zu gestalten.

Es ist wie mit Pflanzen. Man braucht einen guten Nährboden und ein günstiges Umfeld, ausreichend Wasser und Sonne und ein wenig Liebe, damit eine Pflanze Wurzeln schlägt, wächst und sich entfaltet. Wie können Unternehmen solch ein Umfeld schaffen? Sie brauchen eine Nachhaltigkeitsstrategie für Leadership.

Führung von morgen braucht Mut zur Veränderung

Dafür gibt es keine Blaupause. Und auch keine Top 5-Liste, die Unternehmen bloß abarbeiten müssen in chronologischer Reihenfolge. Menschen sind komplexe bis chaotische Wesen, und in jedem Unternehmen ist die Kultur höchst individuell. Dennoch gibt es Fragen, die sich jedes Unternehmen stellen sollte:

1. Was macht es attraktiv, bei uns eine Führungsaufgabe zu übernehmen? Und wie können wir die Attraktivität noch erhöhen?

Damit ist nicht (nur) das Gehalt gemeint. Es geht vielmehr um Themen wie Vereinbarkeit von Beruf und Familie, echter Gestaltungsspielraum, gute Begleitung in der Führungsrolle, durchaus auch mehr als nur die ersten 100 Tage. Zudem humane und realistische Führungsspannen und interessante Entwicklungsmöglichkeiten.

2. Wie viel Zeit für echte Führung haben unsere Führungskräfte wirklich und wie können wir Managementaufgaben, Meetings und Projekte reduzieren oder anders organisieren?

Diese Frage zu beantworten, ist Unternehmensaufgabe und nicht die der einzelnen Führungskräfte. Vor allem muss klar sein, welche impliziten Erwartungen an Führungskräfte vorhanden sind.

3. Wie wählen wir unsere Führungskräfte aus? Wonach entscheiden wir, wer Führungspotenzial hat, und was sagt das über unser Unternehmen aus?

Hier geht es um Austausch, Reflektion, Feedback. Das Standard Mitarbeitendengespräch einmal im Jahr reicht nicht aus.

4. Was erzählen unsere Führungskräfte interessierten Mitarbeitenden, die auch in Führung gehen wollen?

Spätestens in diesen Gesprächen kommt immer die Wahrheit zu Tage. „Tolle Chance, bewirb dich auf jeden Fall!“ oder „Lass‘ lieber die Finger davon!“? Nachwuchstalente werden dem Aufruf ihrer Vorbilder in der Regel folgen. In beide Richtungen. Glücklichere Führungskräfte bedeuten also auch mehr Nachwuchstalente.

Wenn wir es schaffen, unsere Leader im Unternehmen wirklich führen zu lassen, sie besser zu verstehen, zu entlasten, zu vernetzen und zu entwickeln, sterben sie nicht aus, sondern verändern die Realität von heute zur Zukunft von morgen.