Organisationsentwicklung

Vorfahrt Rechts vor Links: Regeln und Strukturen im agilen Unternehmen

Das Arbeiten im agilen Unternehmen gleicht dem Straßenverkehr: Jeder kann seinen Weg suchen, aber alle müssen sich an Regeln halten. Die Steuerung des Verkehrs durch die Führung kann nur gelingen, wenn die Führungsstruktur zur Phase der Organisationsentwicklung passt.

Agilität funktioniert nicht ohne Regeln und Strukturen
Agilität funktioniert nicht ohne Regeln und Strukturen

Wir sind uns bewusst, dass in agilen Strukturen großes Potenzial liegt. Nämlich: Möglichst vielen Mitarbeitern die Möglichkeit zur Gestaltung zu geben. Dafür muss jedoch die Kultur stimmen, müssen wir die richtigen (Spiel-)Regeln implementieren und Leute so ermächtigen. Wie das geht und ob das in unserem Start-up damals gelungen ist – darum soll es in diesem Artikel gehen.

Wir vergleichen ein gut funktionierendes agiles Netzwerk gerne mit dem Straßenverkehr: Jeder von uns darf sich in sein Auto oder auf sein Fahrrad setzen und jederzeit dahin fahren, wohin er möchte – Ziel, Weg, Fortbewegungsmittel und Zeitpunkt sind also selbstbestimmt. Doch dieses System kann nur mit klaren Strukturen und festen Regeln funktionieren. Wir halten an der roten Ampel, fahren auf der rechten Straßenseite und lassen an der Kreuzung dem Rechtsverkehr die Vorfahrt. Würden wir uns nicht an diese allgemeingültigen Vorgaben halten, wäre Chaos die Folge. Ähnlich verhält es sich mit Agilität im Unternehmen.

Individuelle Organisationsentwicklung: Agilität gestern und heute

Heute sind wir bei Haufe-umantis bekannt für demokratische Führungskräftewahlen. Das ist EIN Format, agile Strukturen zu kanalisieren. Doch Demokratie bedeutet immer auch, über die Köpfe Einzelner hinweg zu entscheiden. Gerade in der Gründungsphase ist es aber wichtig, dass alle Beteiligten ausnahmslos hinter den getroffenen Entscheidungen stehen. Wir haben unsere Entscheidungen damals also im Konsens getroffen und oft bis spät in die Nacht diskutiert. Im Nachhinein betrachtet haben uns zu Beginn klare Entscheidungsstrukturen gefehlt. Es würde zum Beispiel sinnvoll sein, Gegenstimmen zu gewichten: Stimmt jemand als Einziges gegen ein bestimmtes Thema, macht es einen Unterschied, ob derjenige sein Nein als eher unwichtig oder als absolut entscheidend werten würde. In ersterem Fall könnte entgegen dieser Vorbehalte dafür entschieden werden, in letzterem müssten die Bedenken in jedem Fall in Betracht gezogen werden.

Und auch das Team-Recruiting sah damals noch anders aus. Während heute unsere Teams ihre freien Stellen selbstständig definieren, ausschreiben und besetzen, haben wir in unserer Start-up-Zeit eine wesentlich informellere Art dessen gelebt: Ein Kandidat wurde immer allen vorgestellt, danach holten wir uns als Gründerteam die Meinungen unserer Kollegen zwischen Tür und Angel ein und entschieden auf dieser Grundlage für oder gegen eine Einstellung. Das ist natürlich wesentlich weniger explizit, passte aber zur damaligen Zeit zu unseren Strukturen.

Dieses System kann nur mit klaren Strukturen und festen Regeln funktionieren.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann diskutieren sie noch heute

Eine Zeit lang funktionierte das Unternehmen sehr gut so. Doch im Zuge des Wachstums schleichen sich Veränderungen ein. Informelle Strukturen kosten Zeit; Haufe-umantis ist sehr schnell gewachsen. Innerhalb kürzester Zeit waren wir statt zu viert schon zu fünfzehnt. Damit wurden die Strukturen und Schnittstellen komplexer, der Koordinationsaufwand stieg.

Allerdings handelt es sich dabei um graduelle Entwicklungen und so dauerte es eine Zeit bis wir merkten, wie sehr sich das Unternehmen verändert hat. Dann fiel uns auch auf, dass die bis dahin eingespielten Prozesse nicht mehr greifen. Doch bis neue passende Strukturen gefunden und implementiert sind, zieht weitere kostbare Zeit ins Land. Manchmal zu viel Zeit: Wir mussten im Nachhinein feststellen, dass wir in vielen Bereichen zu spät Klarheit geschaffen und es unseren Mitarbeitern somit schwer gemacht haben. Während zunächst einzelne Mitarbeiter darunter leiden, ist es bald schon der Großteil und dann steuert das Unternehmen zunehmend auf eine organisationale Überforderung hin.

Top-Down hilft in der Organisationsentwicklung, Komplexität zu reduzieren

Eine der wesentlichen Ursachen für diese Überforderung war die zunehmende Komplexität unserer Zusammenarbeit. Was in der Gründungsphase mit einem Zuruf über den Schreibtisch getan war, erforderte immer umfassendere Abstimmungsschleifen. Es fehlten klare Zuständigkeiten und geordnete Kommunikationswege. Jeder konnte «nein» sagen, niemand «ja». Uns wurde klar: Um unseren Mitarbeitern die Orientierung zurückzugeben, mussten wir mehr Führung in unser agiles Organisationsdesign einfließen lassen. Die Lösung sahen wir in der Einstellung erfahrener Senior-Manager – «grauer Haare», wie wir sie nannten – für verschiedene Bereiche wie Verkauf, Beratung, Entwicklung, Finanzen und HR. Diese Rekrutierungswelle würde ich im Nachhinein als Überreaktion auf die drohende Überforderung bezeichnen. Unser Ziel aber war es, für die nächste Phase unseres Unternehmens mit entsprechendem Know-how gerüstet zu sein. Und das war nicht länger in den eigenen Reihen zu finden.

Eine der wesentlichen Ursachen für diese Überforderung war die zunehmende Komplexität unserer Zusammenarbeit.

Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an

Doch nur wenige dieser Einstellungen waren erfolgreich. Wir hatten die falschen Profile ausgewählt und die meisten Senior-Manager fanden sich in unserer Unternehmenskultur nicht zurecht, weshalb wir uns von den meisten schon nach kurzer Zeit wieder trennen mussten. Heute wären diese Führungskräfte, die sich durchaus in der Rolle des Gestalters sahen, möglicherweise genau richtig für Haufe-umantis. Damals aber mussten wir erkennen: Die Auswahl der richtigen Mitarbeiter steht immer in Abhängigkeit zur Unternehmensphase. Und in dieser durchaus kritischen Phase der Unternehmensentwicklung musste Führung bei uns ein sehr breites Spektrum umfassen: Einerseits wollten wir Treiber unserer Strategie, die andererseits aber auch die Ärmel hochkrempeln und anpacken konnten – also Gestalter und Umsetzer gleichermaßen waren.

Aber wir hatten auch Glück und stellten als Teamleiterin in der Beratung eine Frau ein, die hervorragend in unsere aktuelle Situation passte. Sie konnte innerhalb kurzer Zeit exzellente Ergebnisse erzielen. Wir gaben ihr immer mehr Verantwortung, bis sie schließlich die COO-Aufgabe wahrnahm. Ohne ihre klärende, lenkende Rolle hätte unsere Firma in dieser Zeit nicht so schnell und erfolgreich wachsen können.

Von guten Fahrzeug- und Unternehmenslenkern

Ich möchte gerne wieder das Beispiel des Straßenverkehrs heranziehen, um die Passung von Personen in Organisationen zu erklären. Ein guter Autofahrer zeichnet sich beispielsweise durch Kenntnisse des Verkehrsrechts, eine vorausschauende Fahrweise und durch die Kontrolle seines Fahrzeuges aus. All das nützt ihm aber wenig, wenn er nicht mit den örtlichen kulturellen Gegebenheiten vertraut ist. Ein europäischer Autofahrer beispielsweise könnte auf indischen Straßen leicht die Übersicht verlieren. Und das Linksfahrgebot kann manchen kontinentaleuropäischen KFZ-Lenkern Schweißperlen auf die Stirn treiben. Über das fahrerische Können sagen diese Situationen dennoch wenig aus. Und genau so ist es auch in einem Unternehmen: Es sind die äußeren Umstände, die entscheiden, ob eine Person zu einer Organisation passt – ob sie sich in dem gegebenen Rahmen als Gestalter oder Umsetzer erweist.

Denn auf den Stereotyp des reinen Gestalters oder Umsetzers, der sich kaum bis gar nicht von externen Einflüssen leiten lässt, trifft man in der Realität nur sehr selten. Und das ist auch gut so – vor allem im agilen Netzwerk, in dem weit mehr Leute gestalterisch tätig werden können und müssen, als wir das aus dem klassischen hierarchischen Organisationsdesign kennen.

Es sind die äußeren Umstände, die entscheiden, ob eine Person zu einer Organisation passt – ob sie sich in dem gegebenen Rahmen als Gestalter oder Umsetzer erweist.

Das Bäumchen-wechsel-dich der Führung und Organisationsentwicklung

Jede Entwicklungsphase eines Unternehmens stellt andere Anforderungen an Führung – von der Hands-on-Mentalität bis zum analytischen Strategen. Nur wenn das richtige Profil auf die gegebenen Anforderungen trifft, kann Führung wirklich erfolgreich sein. Doch die Übergänge zwischen einzelnen Phasen sind graduell und oft erst rückblickend nachvollziehbar. Führungskräfte wiederum entwickeln sich meist nicht im gleichen Tempo wie die Organisation. Die Folge: Die Führung wird dem Unternehmen nicht mehr gerecht und beide geraten in die Krise. Daran geht im drastischsten Fall das Unternehmen zugrunde, in den meisten Fällen aber muss die Führungskraft das Unternehmen verlassen. Oder im Idealfall in eine andere Rolle innerhalb des Unternehmens wechseln. Natürlich gibt es Ausnahmen wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg, die seit der Gründung ihrer Unternehmen immer noch an vorderster Front stehen. Aber die Erfahrung zeigt, dass sie eben genau das sind: Ausnahmen.

Doch Führungswechsel müssen nichts Schlechtes bedeuten. Ganz im Gegenteil können sie als Chance betrachtet werden, wenn richtig mit ihnen umgegangen wird. Dann können sowohl Unternehmen, als auch Führungskraft profitieren – wie es auch bei meinem eigenen Rücktritt der Fall war. Wichtig ist, dass die Führungskraft nicht ihr Gesicht verliert und bei dem Positionswechsel gut begleitet wird. Dann ist sogar eine spätere Rückkehr in die gleiche oder eine andere Führungsposition denkbar – ein Karriereverlauf, den wir als spiralförmige Führung bezeichnen.

Strukturversagen: Wenn das System Menschen ausbremst

Zur Unternehmenssituation passende Profile sind die eine Sache – eine andere sind die zu den Menschen passenden Strukturen: Je undurchsichtiger Systeme sind, desto weniger Möglichkeiten sehen Mitarbeiter, gestaltend aktiv zu werden. Sie wissen nicht, wer ihre Ansprechpartner sind; Entscheidungsbefugnisse sind unklar. Somit bleiben gute Ideen unausgesprochen; wichtige Entscheidungen werden nicht gefällt. Das führt bei Führungskräften und Mitarbeitern gleichermaßen zur Frustration oder sogar Resignation.

Darunter leidet auch die Führungsqualität. Als Beispiel: Wenn nicht geregelt ist, wer Geld ausgeben und Anschaffungen bewilligen darf, gibt es Leute, die das für sich nutzen und einfach großzügig Budget verplanen. Und es gibt solche, die durch die fehlenden Vorgaben so verunsichert sind, dass sie gar kein Budget angreifen und dadurch handlungsunfähig werden. Beide Fälle sind nicht ideal, aber keine der beiden beschriebenen Gruppen macht ihren Job besser oder schlechter – sie reagieren nur unterschiedlich auf das sie umgebende System. Unser Ziel muss es aber immer sein, unsere Mitarbeiter dazu zu befähigen, gestaltend tätig zu werden und dazu müssen wir unsere Strukturen entsprechend ausrichten. Auch das lässt sich am Budget-Beispiel verdeutlichen: Wenn ein Mitarbeiter weiß, er hat 30.000 Euro Budget zur Verfügung, um einen guten Job zu machen, dann fällt es ihm vergleichsweise leicht, damit gestalterisch tätig zu werden. Ein Mitarbeiter wiederum, der zwar eine gute Idee hat, aber kein Budget zur Umsetzung, wird stark ausgebremst.

Stellenausschreibung: Gestalter gesucht

Es ist nicht so, dass ein Mensch entweder ein Umsetzer oder ein Gestalter ist. Der Großteil aller Menschen bewegt sich irgendwo zwischen diesen Polen und kann sowohl Gestalter, als auch Umsetzer sein – je nachdem, was das System ihm abverlangt bzw. zulässt. Gerade darin liegt aber das Potential agiler Netzwerke: Wir können Mitarbeiter von Umsetzern zu Gestaltern machen, indem wir das Organisationsdesign ändern. Dabei gilt es jedoch immer zu beachten, sie an den Stellen einzusetzen, an denen sie ihrem Profil entsprechend Bestleistungen erbringen können. Diese goldene Regel haben wir in der Phase unserer Unternehmensentwicklung, in der wir der Überforderung mit klaren Top-Down-Strukturen entgegenwirken wollten, missachtet. Das Ergebnis: Etliche Mitarbeiter tauchten in eine Schattenorganisation ab, wo sie unter dem Radar der Führungsebene agierten.

Es ist nicht so, dass ein Mensch entweder ein Umsetzer oder ein Gestalter ist. Der Großteil aller Menschen bewegt sich irgendwo zwischen diesen Polen.

Organisationsentwicklung gefordert: Struktur schaffen mit Rollen und Verantwortlichkeiten

Das Aufräumen unserer überholten Strukturen war der Startschuss in eine Wachstumsphase, die vorher undenkbar gewesen wäre. Von stark operativen Aufgaben bis hin zu strategischen Problemstellungen meisterte unsere neue COO alle Herausforderungen und bezog das Team in ihre Entscheidungen ein. Gleichsam behielt sie die To Do-Listen aller Mitarbeiter im Blick, sorgte für deren Einhaltung, diente als Kommunikationsschnittstelle zwischen den Teams und wurde so zum Dreh- und Angelpunkt unseres Erfolgs.

Mitarbeiter im Schatten

Doch mit dem starken Wachstum stieg auch die Anzahl der zu treffenden Entscheidungen. Diesen hohen Anforderungen konnte schon bald keine einzelne Person mehr gerecht werden und der Erfolg der Top-Down-Phase fing an zu bröckeln. Zu viele Entscheidungen mussten in zu kurzer Zeit gefällt werden, sodass die Mitarbeiter nicht mehr einbezogen und die gefällten Entscheidungen nicht mehr verständlich kommuniziert werden konnten. Auch falsche Entscheidungen wurden getroffen. Unsere COO war zum Flaschenhals der Organisation geworden und die meisten Mitarbeiter konnten sich mit dem praktizierten Vorgehen nicht mehr identifizieren.

Als Beispiel: Wir hatten eine Mitarbeiterin, die um die Versetzung vom Support-Team ins Marketing gebeten hatte. Wir waren einverstanden. Doch kurz darauf fehlten uns Leute im Support und wir beorderten sie für eine gewisse Zeit zurück. Ich schaute bei ihrem Team im Büro vorbei und dankte ihr, dass sie bereit war, dort auszuhelfen. Da gestand sie mir, dass sie in Wirklichkeit nur dort säße, aber weiterhin ihre Marketing-Aufgaben erledigte. Der Control-Teil von Command-and-Control versagte; die Mitarbeiter setzten ihre eigenen Entscheidungen durch. Nicht aus Trotz, sondern weil sie sie für richtig hielten und nicht mehr hinter den Anweisungen des Managements stehen konnten.

Überforderte Führung – Opfer des eigenen Erfolgs

Diese ersten Anzeichen des Widerstands steigerten sich zur Unzufriedenheit – der Unmut über die aktuellen Zustände wurde offen kommuniziert, einige Mitarbeiter verließen sogar das Unternehmen. Unsere COO konnte den Anforderungen des Erfolgs, den sie selbst eingeleitet hatte, nicht mehr gerecht werden. Es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, die Last auf mehrere Schultern zu verteilen, doch ein Rücktritt kam für sie nicht in Frage. So war unser Weg letztlich ein anderer: Mit großer Dankbarkeit für ihren Beitrag, entschieden wir gemeinsam mit der COO, dass sie das Unternehmen verlassen würde.

Unser Unternehmen war zu diesem Punkt vergleichbar mit einer riesigen Kreuzung, ähnlich dem Place de l’Étoile, auf den zwölf Straßen zuführen. Bevor wir unsere COO einstellten, organisierte sich der noch spärliche Verkehr selbst – Licht- und Handzeichen reichten zunächst, um Unfälle zu vermeiden. Doch der Verkehr wurde stärker und die Unfälle häuften sich. Also stellten wir einen Verkehrspolizisten ein: die COO. Sie führte Regeln ein und strukturierte den Verkehrsfluss. Doch schon bald konnte sie den kontinuierlich zunehmenden Verkehr nicht mehr alleine regeln: Genau wie vor Einführung des Polizisten häuften sich die Unfälle. Die Fahrer bemerkten die Überforderung und fuhren einfach, wenn der Polizist gerade nicht hinsah. Als mögliche Lösungen kamen der Einsatz von zusätzlichen Polizisten oder die Einführung eines Kreisverkehrs in Frage.

Zuerst erschienen im Haufe-Blog „Mitarbeiter führen Unternehmen“.

KEY FACTS

Haufe-umantis hat es erlebt: Verschiedene Unternehmensphasen erfordern verschiedene Führungsstrukturen

Agile Organisationen nicht ins Chaos abdriften lassen

Regeln der Zusammenarbeit klären, passende Führung aufbauen