New Work Selbstorganisation

Karriere ohne Aufstieg!?

Positionen, Senioritätslevel und Beförderungen sind für viele Beschäftigte entscheidende Merkmale von Karriereentwicklung. Doch was geschieht, wenn ein Unternehmen in Selbstorganisation geht und es fast keine Hierarchien mehr gibt? Auf den Spuren der „New-Work-Karriere“ bei der metafinanz in München.

Foto:  Edvard Alexander Rølvaag on Unsplash
Foto: Edvard Alexander Rølvaag on Unsplash

Revolution? Klimawandel?

Mal nennt er sich HRevoluzzer, mal Agile Coach oder Klimawandler, je nachdem, was gerade am besten passt. Den Jobtitel kann er frei wählen, dieser sollte nur das ausdrücken, was er auch tatsächlich tut: Thomas Resch ist interner Coach bei der metafinanz und Agilitätsberater für Kunden des Software-Beratungshauses. Entstanden 1991 im Schwarzwald, bot die metafinanz anfangs vor allem Software zur Unterstützung von Prozessen im Versicherungswesen. Ein bekanntes DAX-notiertes Versicherungsunternehmen war schon damals Kunde, entwickelte Interesse an dem Unternehmen und holte es 1995 in den Konzern. Noch heute beraten die Mitarbeitenden im IT-Umfeld und begleiten Kunden auf dem Weg in die digitale Welt. Seit 2010 ist München Hauptfirmensitz.

Karriere betrachten wir ganzheitlich. Dazu gehört die Wahl der passenden Tätigkeit, aber auch ein Jobzuschnitt, den man mit Familie und Privatleben vereinbaren kann. Beruflichen Aufstieg gibt es, aber nicht im üblichen Sinne.
Thomas Resch, metafinanz

Die „meta“, wie die Beschäftigten ihren Arbeitgeber auch nennen, belegt seither ein komplettes Gebäude im Herzen Schwabings. Wir treffen uns im Open Space im Erdgeschoss, wo die großen Schaufenster einen freien Blick auf die Leopoldstraße bieten und diejenigen der knapp 800 Mitarbeitenden, die gerade im Büro sind, zum Kaffee und Kollegen-Treffen vorbeikommen.

Die holistische Career Journey

Thomas Resch ist ein „eingefleischter“ Personaler. Für Amway, einen multinationalen Direktvertrieb in Familienbesitz, agierte er jahrelang als Vergütungsexperte. „Wenn ich in Kontakt mit Menschen bin, sie begeistern kann und unvorhergesehene Dinge passieren – dann geht mein Herz auf. Ich liebe Komplexität. Als Personaler musste ich aber früher vor allem Excel-Sheets und SAP-Datenblätter hin und her schieben“, erzählt er mit verschmitztem Blick. Er hatte es zum Beispiel mit der Frage zu tun, ob vor dem Jobtitel eines Beschäftigen Executive oder Senior zu stehen habe. Oft waren dies „Alibi-Titel“, die mit der der Realität wenig zu tun hatten. Er habe mitgespielt, Karriere gemacht und schon fast aufgegeben, seinen Traum vom „Beruf mit Menschen“ noch zu erreichen. Da kam ein Anruf von einem Headhunter, ob er sich auch einen Job im Umfeld von Digitalisierung und Agilität vorstellen könnte. Warum nicht?

Thomas Resch, metafinanz
Thomas Resch, metafinanz

„Im Vorstellungsgespräch erzählte man mir, es gebe eine Karriereberatung, die ganz individuell sei. Da war ich skeptisch.“ Doch er ließ sich darauf ein und heuerte bei der metafinanz an. Die Personalabteilung heißt „Staff Development“, kurz SD, und versteht sich als Service-Einheit. Beschäftigte können sich nach dem Pull-Prinzip ein Sparring für ihre Karriereorientierung holen – beispielsweise in Form von Feedback, Coaching oder einer Stärken-Analyse. Viele HRler haben sich für diese neuen Kernaufgaben zum Coach ausbilden lassen – auch Thomas Resch durchläuft gerade eine mehrjährige Ausbildung. „Karriere betrachten wir ganzheitlich. Dazu gehört die Wahl der passenden Tätigkeit, aber auch ein Jobzuschnitt, den man mit Familie und Privatleben vereinbaren kann. Beruflichen Aufstieg gibt es, aber nicht im üblichen Sinne.“

Die Karriere bei der metafinanz verläuft auf allen Ebenen nahezu horizontal. Das kommt einer kleinen Revolution gleich. Der Begriff Karriere, der sich hierzulande im 18. Jahrhundert aus dem Französischen einbürgert, bedeutet so viel wie Rennbahn oder Laufbahn. Im gestreckten Galopp beruflich vorankommen, daraus wurde die Karriereleiter und die Vorstellung, dass es immer aufwärts gehen muss in der Hierarchie. „Man zieht den Karren nach oben und weil das so anstrengend ist, gibt es ordentlich Schmerzensgeld, wenn man es geschafft hat. Dabei ist man nicht im Team, sondern allein oben auf dem Gipfel. Und muss aufpassen, dass man nicht runtergeschubst wird“, so Thomas Resch.

Der etwas andere Karriereknick

Dieses Bild sitzt tief und prägt die berufliche Identität vieler Menschen. Das weiß auch der CEO der metafinanz. Rainer Göttmann ist heute per Videokonferenz zugeschaltet. Die Technik spielt nicht mit, sein Bild ist partout nicht groß zu kriegen auf dem riesigen Screen. So hängt er klein rechts oben in der Ecke. Was er ganz passend findet: „Das ist meine Position: Ich bin nur zur Inspiration da und neben mir ist ganz viel Raum zum Zeichnen und Gestalten.“ Das war nicht immer so. Rainer Göttmann gab am Anfang seiner Karriere richtig Gas. Vor 30 Jahren fing er bei der Allianz an, war sofort im Talent-Programm und durchlief die üblichen Assessments. Die Ergebnisse stimmten und er hatte die nötige Sichtbarkeit, als 1995 eine Geschäftsführungsstelle im neuen Tochterunternehmen zu vergeben war. Er erinnert sich noch gut: Sein Name war im Rennen, abends um acht Uhr schickte er seine Bewerbung, am nächsten Morgen hatte er die Zusage.

Das ist meine Position: Ich bin nur zur Inspiration da und neben mir ist ganz viel Raum zum Zeichnen und Gestalten.
Rainer Göttmann, CEO, metafinanz

Fast 20 Jahre lief das Business in gewohnten Bahnen. Es gab Umstrukturierungen, aber keine einschneidenden. Doch langsam wurden die Stimmen der Kunden lauter, dass andere Dienstleister schneller und flexibler reagierten und einen smarteren Prozessfluss hätten. „Der Druck des Marktes war ernorm. Wir hatten echte Schmerzen“, so Rainer Göttmann. Er ließ mal wieder ein Change-Konzept ausarbeiten von der üblichen Management-Runde, es war solide, aber folgte dem alten Muster. Dann hatte er diesen einen mutigen Moment, ein Bauchgefühl. Er schlug vor, den Wandel radikal anzupacken.

Jasmin Karbach, metafinanz
Jasmin Karbach, metafinanz

Im Dezember 2017 verkündete er der Belegschaft, dass sie sich fortan in sogenannten Business Areas (BA) organisieren würden: in etwa 40 autonomen Teams, die ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung anbieten und eigenständig am Markt agieren. Die rund 70 Manager im Unternehmen sollten sich in den kommenden fünf Monaten in die Teams eingliedern und für sich eine neue Aufgabe finden. Nur ein kleiner Nukleus von etwa 16 Personen in Key Functions vom CEO über HR bis hin zu disziplinarischen Funktionen blieb bestehen – und zwar in fünf Services-Einheiten, die die metafinanz als Shops bezeichnet.

Ganz schön meta: Schockmoment und Tschaka!

„Mich hat die Neuausrichtung ziemlich überrascht“, sagt Jasmin Karbach. Die studierte BWLerin war lange bei Accenture in der Beratung und fing vor rund sieben Jahren als Projektmanagerin bei der metafinanz an. Sie startete mit einer Führungsposition im Account-Management – mit Kunden, Mitarbeitenden und Budget. Der typische Karriereweg in der Beratung eben, hinterfragt hat sie das nicht. Zunehmende Erfahrung und Lust auf Führung kamen bei ihr zusammen. „2017 musste ich hier mit dem Umbruch praktisch noch einmal von vorne anfangen.“ Die IT-Beraterin saß mit ein paar Kollegen zusammen, und sie schnappten sich mutig ein neues Thema, das damals im Unternehmen noch nicht so attraktiv erschien. „Ich hatte keine Angst vor Veränderung, denn notfalls wäre ich selbstbewusst genug gewesen, andere Wege zu gehen.“

Beschäftigte können wählen, von wem sie disziplinarisch geführt werden möchten. Es geht dabei etwa um den Arbeitsvertrag, den Gehaltsrahmen oder die Kündigung.

Evi Friedenberger erlebte die Umbruchphase anders. Die studierte Informatikerin fing 1997 bei der metafinanz als Softwareentwicklerin an. Sie durchlief den klassischen Entwicklungspfad von einer Projektleitung in diverse Führungsrollen. Kurz vor der Transformation hatte sie sich entschieden, dass sie zu weit vom Fachlichen weg war und wieder in Kundenprojekte zurückwollte. Als sich dann die Business Areas bildeten, wurde sie einem Team zugeordnet. Die ehemaligen Bereiche schnitt man nach Themen, so dass etwa 40 BAs dabei herauskamen. So hatten zunächst nicht alle die freie Wahl und auch die Teamleitungsposition wurden noch von oben bestimmt. „Für mich hat sich das zunächst gar nicht nach Agilität angefühlt, sondern nach totaler Hierarchie“, erinnert sie sich. In der Zeit waren aus ihrer Sicht die Rollen noch unklar. Eigentlich sollten alle Verantwortung übernehmen, und trotzdem gab es eine formale Führungsrolle, die den Prozess der Selbstorganisation erschwerte. Als der Business Area Lead in Elternzeit ging, übernahm das Team die Führung. „Dann waren wir plötzlich selbstbestimmt und haben richtig an Fahrt aufgenommen.“

Führungskräfte in der Identitätskrise: Angekratztes Selbstverständnis

Auch für Rainer Göttmann selbst war die Transformation einschneidend. „In der hierarchischen Struktur war ich der Bestimmer, nun saß ich plötzlich vor einem leeren Schreibtisch“, sagt der CEO. Früher hatte er zwar Vertrauen gepredigt, aber immer alles kontrolliert. Nun waren die Alltagsthemen auf einmal weg. Vier Coachs hat er gebraucht, um mit der neuen Situation klarzukommen. Zum einen war da die Angst zu scheitern. Hätte die Transformation nicht funktioniert, hätte er als Erster gehen müssen. Zum anderen musste auch er seine Aufgaben neu definieren. „Ich habe die Verantwortung dafür, dass die Menschen hier auch morgen noch einen Job haben und wir ein nachhaltiges Unternehmen werden. Das heißt ich arbeite nicht mehr im System, sondern am System“, sagt er heute.

Evi Friedenberger, metafinanz
Evi Friedenberger, metafinanz

In der ersten Zeit beobachtete er, wie zahlreiche Führungskräfte in Schockstarre verfielen, nachdem ihnen plötzlich ihr Lebensziel „Karriere machen“ abhanden gekommen war. Manche waren sich sehr sicher, dass ihre Teams sie brauchen und dass es ohne sie nicht geht. Als niemand anklopfte, war die Enttäuschung groß. Viele Beschäftigte legten ohne sie ganz engagiert los. Doch die Abwanderungswelle blieb aus – nur eine Handvoll Führungskräfte kündigte. „Die Neugierde war größer als der Fluchtreflex. Menschen möchten wissen, wie sich Dinge entwickeln“, so Rainer Göttmann. Und die Entwicklung ging weiter: Nach zwei Jahren Transformation änderte sich das Führungsverständnis noch einmal stark. Die Team Leads wurden ganz abgeschafft. Es gibt weiterhin Führungsaufgaben in Sales, Businessentwicklung oder Personalentwicklung, aber sie ist in den Teams verteilt. Seither ist niemand mehr für alle Tätigkeiten in einem Bereich zuständig und keiner kann sich mehr hinter einem Titel verstecken. „Früher haben wir in Positionen gedacht, jetzt in Ambitionen“, so Rainer Göttmann.

Viele Ex-Führungskräfte merkten schnell, dass ihre Führungskompetenz weiterhin gebraucht wird, berichtet Thomas Resch. Doch der Personaler ist auch selbstkritisch. Wie man Führungskräfte entwickelt, ist eine bekannte HR-Disziplin, wie man sie aus starren Positionen rausholt noch Neuland. „Da hätten wir mehr machen müssen“, findet er. Viele Führungskräfte waren die größten Skeptiker des Wandels. „Für sie war es ein Gesichtsverlust, dass sie nicht mehr sagen konnten, ich führe 100 Leute.“ Mögliche Widerstände hat die metafinanz allerdings umschifft und sich auf diejenigen konzentriert, die mitmachen wollten. Das Ende der Karriereleiter und der Statusverlust – das war kein Thema. Inzwischen haben viele eine passende Aufgabe gefunden, aber auch der Umgang damit ist ein anderer.

Teams rücken ins Zentrum

Es gibt weiterhin eine kleine Compliance-Struktur, da das regulatorisch nötig ist: etwa 20 Personen, darunter die Geschäftsführer, Mitarbeitende, die sich um Datenschutz und Legal-Themen kümmern, sowie die sogenannten „Staff Development Manager“. Letztere nehmen vor allem die arbeitsrechtlich notwendige Fürsorgepflicht wahr. Beschäftigte können wählen, von wem sie disziplinarisch geführt werden möchten. Es geht dabei etwa um den Arbeitsvertrag, den Gehaltsrahmen oder die Kündigung. Und auch die persönliche Entwicklung kann Thema sein.

Für mich hat sich das zunächst gar nicht nach Agilität angefühlt, sondern nach totaler Hierarchie. Erst als das Team sich selbstorganisiert hat, hat das richtig Fahrt aufgenommen.
Evi Friedenberger, metafinanz

Erleichtert hat die Entwicklung der Fokus auf die Teams. Sie standen schnell im Zentrum, denn sie leisten die Wertschöpfung beim Kunden. Die Mindestanforderung für neue Business Areas ist, dass sich mindestens fünf Personen finden, die ein Geschäftsfeld gemeinsam bearbeiten möchten. Sie definieren einen Purpose und stellen einen einfachen Businessplan auf. Dann können sie auch schon loslegen – ganz ohne Freigabeprozess. Anfangs loteten manche die Grenzen aus. Einen Hightech-Bauernhof gründen, warum nicht? Doch spätestens nach drei Jahren soll das Produkt marktfähig sein. Das Controlling ist für alle transparent und wenn Teams nicht performen, steigt der soziale Druck. Letztlich sind die BAs Teams aus Intrapreneuren.

Auch Thomas Resch hat eine neue Business Area mit aufgebaut: für agile Begleitung von Organisationen. Leute von außerhalb wollten mehr über die Transformation bei der metafinanz erfahren. Man trank gemeinsam einen Kaffee, Interessierte kamen zu Besuch nach München und erste Workshops waren am Start. Es entstand eine kleine Koalition von Gleichgesinnten, die Lust hatten mitzumachen. Der Entschluss, es mit einer eigenen BA zu versuchen, war nicht mehr weit. Die Resonanz ist bisher sehr positiv – das Team ist nach eineinhalb Jahren von fünf auf acht Personen gewachsen. „Wir sind Unternehmer im Unternehmen. Dieses Intrapreneurship ist genial: Es bringt uns eine steile Lernkurve.“

Vor dem Süßigkeiten-Regal

Letztlich können alle Beschäftigten ihr Team frei wählen und gestalten, solange es eine Nachfrage dafür gibt. Die hohe Selbstbestimmtheit hat aber auch ihren Preis:  Es ist nicht immer leicht, angesichts der Vielfalt an Möglichkeiten die Entscheidung zu treffen, die für einen persönlich am besten passt. „Manchmal fühle ich mich wie ein Kind vor dem Süßigkeiten-Regal: Wenn man sich zu viel herausnimmt, hat man hinterher Bauchweh“, sagt Jasmin Karbach. Außerdem bestehe die Gefahr, dass Aufgaben, die nicht so attraktiv sind, zu lange liegenbleiben. Wenn jemand nicht so gern Vorstellungsgespräche führt oder Controlling macht, fände sich zwar meist jemand. „Aber wäre ich noch Führungskraft, würde ich viel früher die Aufgaben verteilen. Unser Problem ist: Wir sind oft zu nett, weil wir alle Peers sind“, meint die IT-Beraterin.

Rainer Göttmann, metafinanz
Rainer Göttmann, metafinanz

Menschen, die gern zusammenarbeiten und sich persönlich mögen, trauen sich oft nicht in Konflikte zu gehen – das ist ein bekanntes Phänomen. Die Gefahr dabei: Teams können auseinanderdriften. Coach Thomas Resch kennt sich mit dieser Dynamik aus. Er und seine SD-Kollegen sind auch dafür da, die Konfliktfähigkeit der Teams im Blick zu behalten und „ruinierende Empathie“ zu verhindern. Sie bieten zum Beispiel einen Workshop an, in dem es darum geht, Teams auf der Suche nach ihrem Sinn und Zweck zu unterstützen. An einem Tag dreht sich alles um die Frage, was das geilste Projekt wäre, für das Teammitglieder alles stehen und liegen lassen würden. Was als Team-Reflexion gedacht ist, wird häufig zur leidvollen Selbsterkenntnis. Da fließen auch Tränen, wenn jemand merkt, dass persönliche Wünsche nicht mit dem Team oder der Firma vereinbar sind. „Erst wenn man weiß, wer man ist, kann man etwas verändern. Das ist eine Form von Karriereberatung.“

Woran kann man ablesen, dass man sich entwickelt?

Doch allein eine passende Tätigkeit, die man gerne tut, macht noch keine erfolgreiche Karriere – auch in agilen Organisationen nicht. Menschen möchten sehen, dass sie sich entwickeln, auch im Vergleich zu anderen. Was bleibt als Gradmesser, wenn Status, Positionen und Feedback der Führungskraft wegfallen? „Anfangs war ich irritiert, als unser Geschäftsführer Rainer sagte, er sei nicht dafür zuständig, dass Mitarbeitende Wertschätzung bekommen“, erzählt Jasmin Karbach. Heute weiß sie, dass sie ihren Selbstwert nicht an einer Führungskraft festmachen muss. „Ich merke ja selbst, ob meine Arbeit auf Gefallen stößt.“

Manchmal fühle ich mich wie ein Kind vor dem Süßigkeiten-Regal: Wenn man sich zu viel herausnimmt, hat man hinterher Bauchweh.
Jasmin Karbach, metafinanz

Ein weiterer Orientierungspunkt für persönliche Entwicklung ist das Gehalt. Die Mitarbeitenden können jederzeit einen Prozess der Gehaltsüberprüfung anstoßen. Neben einem SD-Kollegen wählen sie jemand aus ihrem Team als Compensation Responsible. Gemeinsam geht es in die Aushandlung: Wie komme ich bei Kunden an? Habe ich neue Auftraggeber akquiriert? Wie liegt mein Gehalt im Marktvergleich und Branchen-Benchmark? Und wie viel mehr ist überhaupt angesichts des Gehaltsgefüges im Unternehmen möglich? Thomas Resch berichtet, dass sich in Gesprächen mit Kollegen niemand für absolute Gehaltstransparenz ausgesprochen habe, bei der jeder sieht, wie viel andere verdienen. „Das würde zu langen Diskussionen führen.“ Wichtiger sei vielmehr, dass Mitarbeitende eine realistische Selbsteinschätzung vornehmen. 

Die Gehälter der ehemaligen Manager hat metafinanz mit dem Wandel nicht nach unten korrigiert – in Deutschland ist das ein Tabu. Auch eingefroren hat das Beratungshaus die Gehälter nicht. Jede ehemalige Führungskraft soll dafür eine Aufgabe finden, in der sie genauso viel Wertschöpfung bringt wie vorher. Ob das immer gelingt? Jasmin Karbach wagt das zu bezweifeln. „Ich fühle mich schon entlastet dadurch, dass ich keine Führungsverantwortung mehr habe. Warum sollte jemand, der Projektarbeit macht wie andere auch, deutlich mehr verdienen, nur weil er oder sie mehr Führungserfahrung hat?“, fragt sie. Meistens bringen ehemalige Führungskräfte den Kunden durch ihre Erfahrung einen größeren Mehrwert, kontert Thomas Resch.

Wir alle haben das intrinsische Bedürfnis, besser zu werden. Und wenn das gelingt, ist das für mich Karriere – egal, ob es um Generalisierung, Spezialisierung oder gute Zusammenarbeit geht
Evi Friedenbacher, metafinanz

Klar ist jedenfalls, dass das Gehalt nicht das alleinige Maß für Entwicklung sein kann. Das findet auch Evi Friedenberger. Dass sie nicht mehr so große Gehaltsschritte mache wie Berufsanfänger, sei in Ordnung. „Aber wir alle haben das intrinsische Bedürfnis, besser zu werden. Und wenn das gelingt, ist das für mich Karriere – egal, ob es um Generalisierung, Spezialisierung oder gute Zusammenarbeit geht“, meint die IT-Beraterin. Sie weiß, bei der metafinanz kann sie sich entwickeln, aber es bleibt ein Gefühl. Es gibt nichts, woran sie konkret ablesen kann, welche Kompetenzen sie erworben hat. „Wir haben hier eine Herausforderung, die Entwicklung sichtbar zu machen.“  

Noch nicht sozial anschlussfähig

Das individuelle Karrierecoaching kann helfen, aber nicht alles abfangen. Deshalb ist es vermutlich so schwer, die Positionsfixierung abzulegen. Immer wieder beobachtet Evi Friedenberger, dass in Vorstellungsrunden Kolleginnen und Kollegen ihre Führungsrollen aus der Vergangenheit hervorkramen.

Das kann auch Jasmin Karbach bestätigen, die neuen Mitarbeitenden gerne als eine Art Veteranin mit Führungserfahrung präsentiert wird. Sie lege zwar keinen Wert auf Statusdenken. In ihrem Freundeskreis müsse sie sich für ihre Arbeit auch nicht rechtfertigen. Aber noch immer nutzt sie die Position Business Area Lead auf ihrem LinkedIn-Profil. Denn bei Kontakten in die Business-Welt tue sie sich oft schwer. Viele ihrer ehemaligen Kollegen seien inzwischen „Vice President“ oder „Head of Irgendwas“. Neulich fragte sie ein Kunde, mit wem er reden müsse, wenn er sich beschweren wolle. Dass sie hier die verantwortliche Person ist, genügte ihm nicht. Zum nächsten Termin nimmt sie deshalb einen der Geschäftsführer mit. Sie müsse erst noch Vertrauen aufbauen und dem Kunden zeigen, dass sie die richtige Ansprechpartnerin ist, auch ohne wohlklingenden Titel. „Manchmal wäre es schon einfacher, wenn ich sagen könnte, ich bin hier die Chefin. Das pikst mich immer wieder etwas an.“ 

Können wir es uns leisten, Menschen zu gewinnen, die auf Titel Wert legen? Wir suchen Leute, die Selbstverantwortung und Teamwork lieben.
Thomas resch, metafinanz



„Der soziale Druck kann groß sein, wenn der Nachbar oder die Eltern nicht verstehen, was man bei der Arbeit macht. Da fehlt die social connectivity“, gibt auch Rainer Göttmann zu. Menschen möchten den Anschluss an gesellschaftliche Konvention nicht verpassen. Es lohnt sich dennoch, einen anderen Weg zu gehen – gerade, weil diesen bisher so wenige Unternehmen beschreiten. Die Fluktuationsrate der metafinanz liegt bei etwa 10 Prozent – im Branchen-Vergleich guter Durchschnitt. Team- und Projektleitungen, Auslandserfahrung oder ein neuer Standort, die Gründe sind vielfältig. Einige lockt die klassische Karriere beim Mutterkonzern. „Manche Menschen schreckt unsere Karrierevorstellung ab, andere zieht sie besonders an“, so Thomas Resch. Auf die Frage, ob es sich das Unternehmen leisten kann, auf manche Fachkräfte zu verzichten, fragt der Personaler zurück: „Können wir es uns leisten, Menschen zu gewinnen, die auf Titel Wert legen? Wir suchen Leute, die Selbstverantwortung und Teamwork lieben.“ Wichtig sei es nur, dies in den Vorstellungsgesprächen deutlich zu kommunizieren, um keine falschen Erwartungen aufkeimen zu lassen.

Erfolge im Rücken

Diese klare Haltung speist sich auch aus den Erfolgen. Angetreten schneller und agiler zu werden, hat die metafinanz sich von knapp 40 auf 60 Business Areas herangepirscht. Der Gewinn hat sich seit Beginn der Transformation mehr als verdreifacht. Die Kundenzufriedenheit nimmt zu: Der Net Promoter Score, eine Kennzahl, die misst, inwiefern Konsumenten ein Produkt oder eine Dienstleistung weiterempfehlen würden, kletterte zuletzt um vier Punkte von 87 auf 91. Auch die Zufriedenheit der Mitarbeitenden ist gestiegen oder auf hohem Niveau geblieben. Das Unternehmen hat diverse Arbeitgeberpreise abgeräumt – darunter Platz 1 von „Deutschlands Beste Arbeitgeber in der ITK 2021“ in der Größenklasse 501 bis 1.000 Mitarbeitende.

„Das hätten wir nicht erreicht, wenn wir heute immer noch in Positionen, Anzahl Directs und Budgets denken würden“, ist der CEO überzeugt. Budgets seien dazu da, sie auszugeben. Aber bei der metafinanz haben die Teams ihre eigene Gewinn- und Verlustrechnung, entscheiden in einem vorgegebenen Rahmen eigenverantwortlich über Gelder, neue Mitarbeitende oder Vertriebsaktivitäten. Dazu gehört ein hoher Grad an Transparenz, die Beschäftigte auch lesen können. Sie müssen verstehen, welche Zusammenhänge sich hinter Geschäftszahlen verbergen.

Stadtpläne gestalten

Das alles ist anstrengend, gerade wenn es um eine nachhaltige Zukunft geht. Eine Gefahr besteht darin, dass alle ihrer eigenen Agenda folgen, anstatt in die gleiche Richtung zu marschieren. Rainer Göttman versucht immer wieder, persönliche Präsenz zu zeigen und mit den Beschäftigten in Dialog zu kommen. „Die Identifikationsarbeit ist mein Thema: Ich möchte eine starke Vision vorgeben, der alle gerne folgen.“ Er erzählt von Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das sei ein Angebot, sich passende Produkte und Projekte dazu an Land zu ziehen und darin den Sinn für die eigene Karriere zu entdecken. „Wir sind alle ein bisschen wie ein Start-up“, sagt Jasmin Karbach. Sie und Evi Friedenberger ertappen sich oft in Gesprächen mit Freunden oder ehemaligen Kollegen über deren Job dabei, dass sie sich nicht mehr recht vorstellen können „einen Chef“ zu haben und um Titel kämpfen zu müssen. „Es ist total schön, dass in vielen Projekten auch junge Kolleginnen und Kollegen ganz begeistert in die Verantwortung gehen. Wir können hier etwas bewirken“, erklärt Evi Friedenberger.

Die Identifikationsarbeit ist mein Thema: Ich möchte eine starke Vision vorgeben, der alle gerne folgen.
Rainer Göttmann, metafinanz

Karrierewege sind wie Verkehrslinien im Stadtplan, meint Rainer Göttmann. Man kann irgendwo einsteigen, zum Beispiel die U-Bahn nehmen und was Neues lernen. Dann biegt man auch mal ab oder steigt in den Bus um. Stufe für Stufe, immer ein bisschen höher – das passt für ihn nicht mehr in die heutige Zeit. „Mit einem Managementjob im Konzern hätte ich mehr soziale Anerkennung erlangt“, weiß der CEO. „Für mich ist Karriere aber, wenn es mir gelingt, Dinge zu verändern und Wert zu schaffen.“