Organisationsentwicklung The Next Normal

„Man hat eh keine Chance, hierarchisch zu leiten“

Norbert Janzen, Chief Human Resources Officer für IBM in Deutschland, Österreich und der Schweiz über den IBM-Krisenmodus, was den gemeinsamen Kaffee ersetzt und mit welchen Führungskräften verantwortungsvolle Verantwortungsabgabe funktioniert.

"Wir haben Verantwortung klar in Bereiche und Teams abgegeben." Norbert Janzen, CHRO, IBM DACH
"Wir haben Verantwortung klar in Bereiche und Teams abgegeben." Norbert Janzen, CHRO, IBM DACH

Angenommen, Sie sitzen irgendwann in der Zukunft mit einem Freund in der Kneipe und erzählen ihm von den Anfangstagen dieser Krise. Was glauben Sie, wäre mit Blick auf IBM das Spannendeste?

Zuerst wohl die Geschwindigkeit, in der wir damit umgegangen sind. Wir hatten schnell den Großteil unserer Mitarbeiter im Home Office und haben von einem Tag auf den anderen alles in Web Sessions organisiert – sogar Betriebsratssitzungen. Es war spannend zu sehen: Selbst diese verliefen remotely extrem produktiv – obwohl einem im Videocall die Möglichkeit fehlt, sich hier und da auch noch einmal schnell informal auszutauschen was normalerweise sehr wichtig ist. Eine Erkenntnis ist, dass Meetings remotely deutlich kürzer und fokussierter sein müssen. Die Ausdauer in Videokonferenzen ist eben begrenzt. Stattdessen braucht es eine höhere Frequenz. In meinem Team treffen wir uns jetzt jeden Tag eine halbe Stunde zu einem „Standup“: Da besprechen wir nicht nur den Stand der Dinge. Es geht immer auch ganz bewusst um die Frage: „Wie geht’s euch?“. Im Büro konnte das beim Treffen auf dem Gang oder beim Kaffee passieren. Jetzt muss man diese Momente ganz bewusst schaffen.

The Next Normal
Dieses Interview ist Teil von „The Next Normal“ – einer qualitativen Studie zur Zukunft von Organisationen, für die rund 100 Führungskräfte interviewt wurden. „The Next Normal“ ist eine Kooperation von  Metaplan und Haufe, die Studie erscheint am 14.Mai. Vorabergebnisse liefern wir im New Management Talk mit Judith Muster, Partnerin bei Metaplan, am 7.Mai um 15 Uhr. 

Es werden aktuell oft zwei Möglichkeiten diskutiert, wie Organisationen sich durch die Situation verändern: Sie entdecken entweder gerade jetzt die Agilität heißt es, oder sie entscheiden wieder stärker entlang klassischer hierarchischer Linien, weil das schneller und effektiver sei. Wie ist es bei Ihnen?

Am Anfang hatte ich tatsächlich die große Befürchtung, dass wir die Hierarchie wieder stärken werden. Wir haben schnell ein Krisenmanagement-Team aufstellt, was ja schon mal nach Hierarchie klingt: Ein Team also, das Entscheidungen treffen oder vorbereiten soll, die dann schnell und direkt über die Geschäftsführung herunterkaskadiert werden. Was dann daraus wurde, ist aber etwas anderes – und auch viel spannender: Es ging für das Krisenmanagement-Team viel mehr darum, schnell und einheitlich zu informieren, als konkrete Entscheidungen zu fällen: Wie genau setzen wir Maskenpflichten um? Welche Offices machen wir wann zu? An wen kann man sich bei welchen Fragen wenden? Wir geben den MitarbeiterInnen die Informationen, die sie brauchen, um dann selbst gut entscheiden zu können. Wir haben dafür auch mit neuen Formen der Kommunikation experimentiert, mit Video-Chats zum Beispiel und schnell produzierten selbstgemachten Inhalten – zum Beispiel über die bestmögliche Einrichtung des Home-Offices. Der plötzliche Informationsbedarf ist ja riesig.

In den Teams selbst liegt nun deutlich mehr Verantwortung bei den einzelnen Mitarbeitern als bei den Führungskräften.
Norbert Janzen, CHRO, IBM DACH

Aber Entscheidungen mussten ja dennoch gefällt werden. Wie ist das passiert?

Es fand eine deutliche Verantwortungsübergabe in die Bereiche hinein statt. Die BereichsleiterInnen haben auf Grundlage dessen, was im Krisenteam erarbeitet wurde, selbst überlegt, was die richtigen Entscheidungen sind und wie man sie umsetzen kann. Zum Beispiel, wie bei ihnen Urlaub, oder Kurzarbeit zu regeln ist. Sie haben das dann schnell und autark umgesetzt. Dazu kommt: In den Teams selbst liegt nun deutlich mehr Verantwortung bei den einzelnen Mitarbeitern als bei den Führungskräften. Ich selbst zum Beispiel mache zwar regelmäßig mit meinen Leuten Abstimmungscalls. Es geht aber immer nur darum, wie es gerade läuft. Was sind die kritischen Punkte? Wo braucht ihr Hilfe? Meines Erachtens hat man in solchen Phasen als Führungskraft doch eh keine Chance, hierarchisch zu leiten. Was in den einzelnen Bereichen vor sich geht, ist aus dem Home-Office heraus nicht so gut zu erfassen, wie wenn man sich jeden Tag in der Firma sieht.

Welche Eigenschaften braucht eine Führungskraft, damit die Verantwortungsübergabe an das eigene Team gut funktioniert?

Ich brauche jemanden, bei dem oder der ich mich darauf verlassen kann, dass er oder sie die Werte der Firma verfolgt – aber alle neuen Informationen und Vorgaben so verarbeitet und adaptiert, dass sie im jeweiligen Rahmen Sinn machen. Ich brauche niemanden, der nur irgendwelche Entscheidungen durchreicht und meint: ‚Aber der Vorstandsvorsitzende hat gesagt!‘ Die Führungskraft muss selber entscheiden: Wen muss er ins Office schicken? Wer muss zum Kunden? Und das mit dem Team auf Augenhöhe abstimmen. Wir haben gesehen: Das funktioniert. Hier wurde viel mehr Verantwortung übernommen und es wurde viel weniger hierarchisch entschieden, als ich am Anfang befürchtet habe.

Ich brauche niemanden, der nur irgendwelche Entscheidungen durchreicht und meint: ‚Aber der Vorstandsvorsitzende hat gesagt!‘ Die Führungskraft muss selber entscheiden.
Norbert Janzen, CHRO, IBM DACH

Werfen wir noch mal einen Blick in die Zukunft: Welche der jetzt spürbaren Veränderungen werden auch nach der Krise bleiben?

Eine persönliche Einschätzung von mir ist, dass wir alle gezielt weniger reisen werden. Natürlich kann auf man nicht komplett auf menschlichen Kontakt verzichten. Aber wir haben jetzt doch gesehen, was alles per Videokonferenz funktioniert. Und auf uns bezogen glaube ich, dass wir die neue Distanz zum Hierarchischen halten werden. Das entwicklet eine Kraft. Insbesondere in einer globalen Organisation wie IBM merkt man das. Es gab keinerlei zentrale Anweisungen aus New York, wie wir handeln sollen. Die haben die Power in die Länder gegeben, weil nur da die aktuellen Geschehnisse auch begutachtet werden konnten. Die Ländern wiederum haben sie in die Bereichen gegeben und diese wiederum weiter runter in die Managementebenen und in die Teams. Ich glaube, dieses Momentum des Empowerments wird bleiben. Das gleiche gilt für den intensiveren Austausch, die engere Abstimmung mit den Mitarbeitern. Vielleicht machen wir die täglichen Stand-Ups einfach weiter. Das waren positive Erfahrungen, an denen wir uns in Zukunft orientieren werden.