New Work Selbstorganisation

„New Work heißt Empowerment“

Interview Bei New Work geht es um das Erleben von Bedeutsamkeit, von Wirksamkeit, von Selbstbestimmung und von Einfluss. Sagt der New Work-Forscher Prof. Carsten C. Schermuly. Davon profitierten Mitarbeiter:innen und Unternehmen gleichermaßen.

"Menschen sind selbständiger in dem, was sie jeden Tag tun, als vor 40 oder 50 Jahren." Prof. Dr. Carsten C. Schermuly Foto: Ivgenia Möbus
"Menschen sind selbständiger in dem, was sie jeden Tag tun, als vor 40 oder 50 Jahren." Prof. Dr. Carsten C. Schermuly Foto: Ivgenia Möbus

Es geht um Empowerment

Herr Schermuly, es gibt wenige Begriffe, die so stark benutzt werden wie New Work. Gleichzeitig ist das ein Containerwort, dass jede:r so füllt, wie es gerade passt. Sie forschen über New Work. Was meinen Sie, wenn Sie New Work sagen?

Der Begriff New Work wird mittlerweile mikropolitisch genutzt. Jede:r steckt in den Container rein und holt aus ihm heraus, was gerade passt. Wer New Work mit Homeoffice assoziiert und das im Unternehmen umsetzen möchte, holt „Homeoffice“ aus dem Container, wer irgendetwas Anderes voranbringen möchte, nennt das dann New Work, weil der Begriff scheinbar immer zieht. Wir führen jedes Jahr gemeinsam mit personalmagazin, HR Pepper und dem Bundesarbeitsministerium die Studie „New Work Barometer“ durch und fragen dabei verschiedene Verständnisse von New Work ab.

Bei New Work handelt es sich um Maßnahmen und Initiativen, die das psychologische Empowerment der Mitarbeiter:innen stärken.
Prof. Dr. Carsten C. Schermuly

Darunter ist auch meine Definition von New Work, die ich vertrete und erforsche. Sie lautet: Bei New Work handelt es sich um Maßnahmen und Initiativen, die das psychologische Empowerment der Mitarbeiter:innen stärken. Das heißt konkret, dass es um vier Komponenten geht – das Erleben von Bedeutsamkeit am Arbeitsplatz, das Erleben von Kompetenz am Arbeitsplatz, das Erleben von Selbstbestimmung und das Erleben von Einfluss. Laut New Work Barometer ist dieses Verständnis mittlerweile in Deutschland am stärksten akzeptiert. Die ursprünglich von Fritjof Bergmann formulierte Sozialutopie New Work fällt immer weiter zurück.

Prof. Dr. Carsten C. Schermuly
Carsten C. Schermuly ist Professor an der SRH Hochschule Berlin. Er gehört zu den führenden New Work-Forscher:innen in Deutschland und führt regelmäßig die Studie New Work-Barometer durch.
Carsten C. Schermuly auf Linkedin

Bevor wir auf die genannten vier Komponenten kommen, noch eine grundsätzliche Frage. Warum diskutieren wir so intensiv darüber, wie wir heute und zukünftig arbeiten? Ist der Wandel so radikal, den wir erleben?

Zwei Fragen in einer (lacht). Ich fange mit der ersten an. Arbeit verändert sich kontinuierlich. Es gibt Langzeitstudien, die in den 70er Jahren begonnen wurden, um gewisse Arbeitsfaktoren zu analysieren. Und diese Studien zeigen uns, an welchen Stellen sich die Arbeitswelt verändert. Das betrifft vor allem zwei Bereiche – die Variabilität und die Autonomie. Das heißt, Menschen haben immer vielfältigere Aufgaben, die Arbeitsanforderungen werden ebenfalls vielfältiger. Und die Arbeitsautonomie nimmt zu. Menschen sind selbständiger in dem, was sie jeden Tag tun, als vor 40 oder 50 Jahren. Dieser Wandel ist ein kontinuierlicher Prozess, der permanent fortschreitet.

Viele Menschen machen sich Gedanken darüber, welchen Stellenwert Arbeit in ihrem Leben und für ihr Leben hat. Das ist nicht neu, aber augenscheinlich hat nicht zuletzt die Pandemie dazu geführt, dass sie es noch intensiver tun.
Prof. Dr. Carsten C. Schermuly

Dass das Thema im Moment so dringlich ist, hat damit zu tun, dass viele Menschen derzeit mehr Zeit haben, über das Thema Arbeit nachzudenken. Da liegen in meinen Augen auch die Gründe für die momentan hohe Fluktuation, Stichwort Great Resignation. Viele Menschen machen sich Gedanken darüber, welchen Stellenwert Arbeit in ihrem Leben und für ihr Leben hat. Auch das ist nicht neu, aber augenscheinlich hat nicht zuletzt die Pandemie dazu geführt, dass sie es noch intensiver tun.

Empowerment hilft Mitarbeitenden – und Unternehmen

Sie heben stark ab auf das psychologisches Empowerment der Menschen, für Sie ist das der Kern von New Work. Ist die wachsende Bedeutung von psychologischem Empowerment Teil des beständigen Wandels oder ist die vor allem durch jüngere Generationen so wichtig geworden?

Das hat mit jüngeren Generationen zu tun, die in den Schulen, an den Hochschulen eine andere Sozialisation erleben. Bei uns an der Hochschule zum Beispiel gibt es keine klassischen Vorlesungen mehr, keinen Frontalunterricht. Wir begegnen einander auf Augenhöhe. Das ist sicher ein Grund dafür, dass so etwas wie psychologisches Empowerment für Unternehmen wichtiger geworden ist, aber auch für die Mitarbeiter:innen.

Mehr und mehr Unternehmen erkennen, dass sie die komplexe Außenwelt mit innerer Komplexität spiegeln sollten.

Auf der anderen Seite ist es schiere ökonomische Notwendigkeit. Wir wissen aus Studien, dass das Erleben von Empowerment zu pro-aktiven Verhaltensweisen führt und beispielsweise das Innovationsverhalten stärkt oder die Leistung verbessert. Menschen fühlen sich weniger gestresst und gehen sogar später in den Ruhestand. Und die Fluktuation sinkt. Psychologisches Empowerment bringt handfeste Vorteile. Mehr und mehr Unternehmen erkennen, dass sie die komplexe Außenwelt mit innerer Komplexität spiegeln sollten. Dazu gehören vor allem pro-aktive Mitarbeiter:innen, die nicht warten, bis ein Problem eskaliert, sondern frühzeitig an dessen Lösung arbeiten. Dafür aber brauchen sie psychologische Sicherheit und Empowerment und die vier genannten Dimensionen.

Kurz gesagt: Es ist eine Frage von Persönlichkeitsfaktoren und vielleicht auch Generationen, aber auch von unternehmerischen Notwendigkeiten, Arbeit anders zu gestalten und neu zu denken.

Sie sprechen die Leistung der Menschen an. Ich gewinne oft den Eindruck, dass Performance in der New Work-Diskussion oft vernachlässigt wird und es immer nur um Entwicklung und Persönlichkeit geht …

Den Eindruck habe ich auch. Ich halte das für gefährlich und falsch. Ich schreibe gerade ein Buch, in dem ich eine New Work-Utopie entwickle. Das erste Axiom, das erste Arbeitsprinzip der entworfenen New Work-Organisation lautet „New Work dient dem Unternehmen und nicht das Unternehmen New Work“. New Work, die neue Gestaltung von Arbeitsprozessen, sollte das Unternehmen befördern und die Mitarbeiter:innen darin stärken, erfolgreicher zu sein. New Work darf nicht zur Ideologie verkommen. Sonst wäre das Thema ganz schnell tot. Die Unternehmensleitung käme zum Schluss, dass New Work dem Unternehmen nichts bringt. Und auf der anderen Seite würden die Mitarbeiter:innen fragen, wofür und warum sie das machen sollen.

Reziproke Abhängigkeit von Kultur und Struktur

Die Szene der Berater:innen ist in diesem Punkt oft recht unkonkret und drückt sich manchmal darum, die Folgen und Erfolge von New Work zu messen und zu dokumentieren. Dabei sind die positiven Folgen des Empowerment von Mitarbeitenden belegbar. Denn auch das ist fatal, dass in vielen Diskussionen New Work auf eine Haltungsfrage reduziert wird. New Work ist aber keine Haltung, sondern die permanente Unterstützung von Menschen. 

Es ist eine Frage von Persönlichkeitsfaktoren und vielleicht auch Generationen, aber auch von unternehmerischen Notwendigkeiten, Arbeit anders zu gestalten und neu zu denken.
Prof. Dr. Carsten C. Schermuly

Ein weiteres Axiom in Ihrem Buch lautet „Eine New Work-Kultur ist wichtiger als jede Struktur“. Gleichzeitig sagen Sie, New Work sei keine Haltung. Wie ist die Wechselwirkung zwischen Struktur und Kultur in der neuen Arbeitswelt?

Das geht in beide Richtungen. Struktur beeinflusst Kultur, die Art und Weise, wie Menschen denken, welche Werte sie haben. Gleichzeitig bestimmt die Kultur in einem Unternehmen, welche Strukturen sich das Unternehmen gibt. Das ist eine komplexe Dynamik. Struktur und Kultur können wir nicht trennen und wir sollten sie gemeinsam steuern. In dem fiktiven Unternehmen Stärkande in meinem Buch arbeiten die Starkänder:innen mit einer holokratischen Hierarchie. Das heißt, sie haben sich für eine Mischung aus beiden Welten entscheiden: Keine komplette Selbstorganisation, aber auch nicht die klassischen hierarchischen Strukturen. Dafür bedarf es aber einer bestimmten Kultur, die das ermöglicht. Eine Kultur, in der es ein Mitarbeitenden-Leitbild gibt. Eine Kultur, in der Mitarbeitende Verantwortung übernehmen, Führungskräfte einen gewissen Führungsstil praktizieren. Ein Umfeld, in dem die Kultur erlebbar wird.

Struktur beeinflusst Kultur, die Art und Weise, wie Menschen denken, welche Werte sie haben. Gleichzeitig bestimmt die Kultur in einem Unternehmen, welche Strukturen sich das Unternehmen gibt.
Prof. Dr. Carsten C. Schermuly

Es ist wichtig, dass wir beide Seiten im Blick haben, Struktur und Kultur. Vor allem in größeren Unternehmen, denn dort werden Strukturen ja besonders wichtig. In einem Unternehmen mit fünf oder sechs Menschen spielt die Struktur nur eine untergeordnete Rolle. Stärkande beispielsweise ist ein Unternehmen mit fast 1.200 Mitarbeiter:innen. Da spielen Strukturen und die Art, wie die Menschen zusammenarbeiten, eine erfolgsentscheidende Rolle. Stärkande hat entschieden, dass Unternehmensbereiche maximal 150 Mitarbeitende haben sollen, sobald es mehr werden, wird ein neuer Bereich gegründet. Eben weil die Begegnung und der Austausch so wichtig sind, und ab einer gewissen Größe ist das nicht mehr gegeben.

Dennoch: Bedingt die Kultur den Strukturwandel oder kann man mit Strukturwandel einen Kulturwandel vorantreiben?

Die Struktur beeinflusst die Kultur und die Kultur beeinflusst wiederum die Struktur. Und es wird noch komplexer: Die Menschen im Unternehmen, die Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen spielen ja auch noch mit und prägen beide Seiten. Unternehmen können den Kulturwandel verstärken, indem sie die Menschen in der Organisation befähigen und neue Mitarbeiter:innen auch danach auswählen, wie gut sie in die Kultur passen. Diese reziproke Abhängigkeit von Kultur und Struktur kommt in vielen Betrachtungen zu kurz.

Prinzip der geregelten Freiheit  

Die neue Arbeitswelt hat viel mit Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Eigenverantwortung zu tun. Viele Führungskräfte fürchten aber, dass zu viel Freiheit für die Einzelnen den Erfolg gefährden könnte. In einer LinkedIn-Diskussion haben Sie neulich von „geregelter Freiheit“ gesprochen. Wie viele Regeln braucht Freiheit?

Zunächst wissen wir aus empirischen Untersuchungen, dass Autonomie positiv wirkt – auf die Motivation, auf die Leistung der Menschen. Deswegen ist Autonomie auch ein wesentlicher Teil des Empowerment-Ansatzes. Aber natürlich hat Autonomie Nebenwirkungen. Das Prinzip der geregelten Freiheit bedeutet, dass Unternehmen Freiheit so organisieren, dass sie größtmögliche positive Wirkung entfaltet, ohne zu viele Nebenwirkungen zu produzieren.

Von welchen Nebenwirkungen sprechen wir?

Auf der Individualebene kennen wir aus der Forschung das sogenannte Autonomie-Paradox. Autonomie führt bei sehr vielen Menschen zu mehr Zufriedenheit, auch zu mehr Leistungsfähigkeit, aber sie kommt irgendwann an einen Kipppunkt. Wenn die Autonomie zu groß ist – wann dieser Punkt erreicht ist, ist individuell verschieden und unter anderem abhängig von Persönlichkeitsfaktoren – kommt der Moment, an dem Menschen Entscheidungsprobleme haben. Sie wissen dann nicht mehr, wie sie handeln sollen, sind verängstigt und empfinden auf einmal Autonomie als Risiko und Stressfaktor. Auf Teamebene kann die Autonomie der einen die Autonomie und Handlungsfähigkeit der anderen beeinflussen beziehungsweise einschränken.

Autonomie führt bei sehr vielen Menschen zu mehr Zufriedenheit, auch zu mehr Leistungsfähigkeit, aber sie kommt irgendwann an einen Kipppunkt. Wenn die Autonomie zu groß ist, kommt der Moment, an dem Menschen Entscheidungsprobleme haben.
Prof. Dr. Carsten C. Schermuly

Stellen Sie sich vor, alle Briefträger:innen könnten jeden Morgen frei entscheiden, welche Tour sie nehmen. In solch komplett freien Settings setzen sich zumeist die Starken  durch. In unserem Fall käme etwa der unverheiratete, kinderlose Mann als erster ins Briefzentrum und nimmt sich die leichteste Tour. Und Menschen, die morgens Kinder in die Kita bringen oder ihre Eltern versorgen müssen, kommen entsprechend später und müssen die unangenehmen Touren übernehmen. Und das jeden Tag. Das schränkt deren Freiheit stark ein. Geregelte Freiheit bedeutet für mich in dieser Situation, dass alle gemeinsam entscheiden, wer wann welche Tour fährt. Das Unternehmen gewährt den Mitarbeitenden die Zeit, die sie dafür brauchen.

Empowerment für alle, nicht nur für Wissensarbeiter:innen

Die Tourenplanung wird also nicht von oben diktiert, liegt aber auch nicht im Belieben einzelner Menschen. Die Regeln werden gemeinsam nach gewissen Kriterien bestimmt. Das ist geregelte Freiheit.

Dasselbe gilt für Hybridarbeit. Wenn jede:r selber entscheidet, welche Tools sie einsetzt, wenn der eine nur morgens, die andere immer abends arbeitet, wird Kooperation in Teams und zwischen Teams unmöglich. Es braucht einen Rahmen, innerhalb dessen dann die Menschen gemeinsam entscheiden, wie die Zusammenarbeit aussehen soll. Diese geregelte Freiheit ist viel aufwendiger in der Steuerung als der Weg, den viele Unternehmen gehen, die entweder komplette Freiheit oder komplette Kontrolle anordnen.

Schön, dass Sie gerade explizit von Briefträger:innen gesprochen haben. Denn fast immer geht es bei New Work um Bürojobs. Viele andere Menschen sind davon ausgeschlossen beziehungsweise die Diskussion hat mit ihrer Lebenswelt wenig zu tun. Wie elitär ist die Debatte, die wir hier gerade führen?

Wenn wir New Work als Eliteprogramm verstehen und nur bestimmte Menschen oder Jobprofile im Blick haben, dann hat die Debatte Spaltungspotenzial. Viele Berater:innen oder auch Journalist:innen konzentrieren sich auf Büroarbeitsplätze, weil das die Welt ist, die sie kennen. Aber so schöpft New Work sein Potenzial nicht aus.

Wir können alle Menschen empowern, die vier Komponenten sind nicht beschränkt auf bestimmte Gruppen. Es geht darum, die Menschen einzubinden.
Prof. Dr. Carsten C. Schermuly

Wenn man das Empowerment ernst meint und damit arbeitet, kann man auf empirische Daten zurückgreifen, die belegen: Empowerment steigert die Leistungsfähigkeit von Menschen, egal, welche konkreten Aufgaben sie übernehmen. Das hilft der Briefträgerin, der Handwerkerin oder demjenigen, der in der Produktion arbeitet. Wir können alle Menschen empowern, die vier Komponenten sind nicht beschränkt auf bestimmte Gruppen. Es geht darum, die Menschen einzubinden. In einem Forschungsprojekt haben wir alle Mitarbeitenden eines großen Unternehmens danach gefragt, wie stark sie sich empowert fühlen. Und zur Überraschung aller war das Empowerment-Erleben bei den Menschen, die in der Nachtschicht arbeiteten, am geringsten. Sie fühlten sich nicht bedeutsam und hatten teilweise Angst, wenn sie nachts allein an den Maschinen gearbeitet haben. Also galt es, mit diesen Menschen in intensive Gespräche zu gehen, um zu verstehen, was ihnen fehlt, welche Unterstützung sie benötigen.