New Work Selbstorganisation

New Work unterm Brennglas

Mittelstand, Handwerk, New Work – für manche wird dieser Dreiklang komisch klingen, bei dem Familienunternehmen Heiler wird er seit mehr als sechs Jahren gelebt. Dann kam Corona und damit auch eine harte Probe für das Unternehmen.

Corona wirft Licht auf Konfliktpunkte, die bisher verborgen geblieben sind.  Foto:  João Jesus from Pexels
Corona wirft Licht auf Konfliktpunkte, die bisher verborgen geblieben sind. Foto: João Jesus from Pexels

Unter der Dusche kommen bekanntlich die besten Ideen. Heureka-Momente, nach denen alles anders ist. Oft schleicht sich ein Gedanke allerdings auch langsam, aber beständig ein. So ist es bei Stephan Heiler der Fall gewesen, der 2011 die Rolle des Geschäftsführers der Alois Heiler GmbH von seinem Vater Alois Heiler übertragen bekommen hatte. Das Unternehmen mit zirka 55 MitarbeiterInnen hat seinen Sitz im badischen Waghäusel in der Nähe von Karlsruhe und ist spezialisiert auf die Herstellung von maßgefertigten Glaslösungen - für Büroräume, Wohnflächen und für Duschen. Stephan Heiler übernahm sozusagen einen Handwerksbetrieb, der prädestiniert ist für Heureka-Momente. Und nach denen ging er von Beginn der Firmenübernahme an auf die Suche. Von Begriffen wie VUCA oder New Work hatte der neue Firmenchef, der bereits über 14 Jahre im Unternehmen seines Vaters gearbeitet hatte, noch nichts gehört, trotzdem war er getrieben von dem Wunsch nach Veränderung: „Ich hatte noch keine abstrakten Denkmodelle im Kopf. Es war mehr das Gefühl, dass ich in diese normale Unternehmerwelt irgendwie nicht reinpasse. Ich wollte eine Stimmigkeit feststellen, in dem, was ich mache und auch einen Sinn in meiner Tätigkeit erkennen.“

Chef sein? Lieber was bewegen

Als Stephan Heiler dann 2009 auf den Unternehmensberater Gebhard Borck traf, wurden aus den groben Ideen konkrete Denkmodelle und logische Prinzipien für ein in seinen Augen sinnvolleres Wirtschaften und Zusammenarbeiten. Nach der erfolgreichen Nachfolge wurde an der konkreten Umsetzung der Transformation gearbeitet. Zuerst mit einem kleinen Change-Team. Nachdem dies nicht zum ersehnten Ziel kam, wurde die gesamte Belegschaft zur Mitgestaltung eingeladen. Seitdem hat sich einiges getan in dem Unternehmen. Führungskräfte gibt es nicht mehr, dafür Teams – bei Heiler Organe genannt, die selbstverantwortlich Entscheidungen treffen. Ihre Erfahrungen haben Stephan Heiler und Gebhard Borck 2018 in dem Buch „Chef sein? Lieber was bewegen! Warum wir keine Führungskräfte mehr brauchen“ geteilt, in dem sie auch von sehr schwierigen Zeiten berichten, die das Unternehmen auf die Probe gestellt haben.

„Ich wollte eine Stimmigkeit feststellen, in dem, was ich mache und auch einen Sinn in meiner Tätigkeit erkennen“, sagt Stephan Heiler.
„Ich wollte eine Stimmigkeit feststellen, in dem, was ich mache und auch einen Sinn in meiner Tätigkeit erkennen“, sagt Stephan Heiler.

Jetzt, sechs Jahre nach dem Beginn der Transformation, kann Stephan Heiler wieder von unsicheren Zeiten berichten – so wie wahrscheinlich die meisten KMU-Geschäftsführer: Corona, rückläufige Aufträge, Kurzarbeit. Es waren aufreibende Monate. „Jetzt geht es wieder in Richtung Normalität“, erzählt Stephan Heiler am Telefon, „aber die fühlt sich alles andere als sicher an.“

In unsicheren Zeiten, so heißt es, werden die Rufe nach einer starken Führung laut. New Work sei nicht mehr als ein Trend für Unternehmen, deren Auftragsbücher gut gefüllt und in denen die Arbeitsplätze sicher sind. Kann das selbstorganisierte Unternehmen Heiler diese Befürchtungen bestätigen? Stephan Heiler berichtet von einem eindrücklichen Beispiel. „Es gab bei den Diskussionen zur Kurzarbeit unterschiedliche Sichtweisen in der Belegschaft. Es wurden Stimmen laut im Unternehmen, die wollten, dass ich als Geschäftsführer und Inhaber auf den Tisch haue“, erzählt er. „Ich konnte diese Forderung sehr gut verstehen und ich war auch kurz davor, ein Machtwort zu sprechen.“

Volle Transparenz statt der Faust auf den Tisch

Am Ende fiel allerdings keine Faust auf den Tisch, auch dank Caroline Hess. Die Organisationsbegleiterin arbeitet seit September 2019 bei Heiler. Außerdem betreut sie selbstständig weitere Unternehmen, die Veränderungen angehen wollen. Betriebskatalysatorin, so lautet Caroline Hess´ offizielle Stellenbeschreibung. „Zwischen unseren selbstorganisierten Organen braucht es eine fließende Kommunikation, dafür bin ich zuständig“, erzählt sie am Telefon. „Ich nehme Spannungen auf und versuche, gemeinsam mit allen Beteiligten diese Spannungen aufzulösen.“ Zu ihren und Stephan Heilers Aufgaben gehört es, Unternehmensabläufe und -zahlen transparent zu machen. Das haben die beiden auch zu Beginn der Corona-Pandemie gemacht. „Wir haben gespürt, dass weniger Auslastung da ist und haben für die Belegschaft ein Info-Video gemacht, in dem alle aktuellen Zahlen vorgestellt wurden und auch, was Kurzarbeit für die MitarbeiterInnen finanziell bedeuten würde“, erzählt Caroline Hess.

Wenn man auf formale Hierarchien verzichtet, dann muss man immer darauf verzichten, mit allen Konsequenzen.
Stephan Heiler

Grundsätzlich legt das Unternehmen einen großen Wert auf Transparenz, schließlich müssen sich die Organe über die Auswirkungen ihrer Entscheidungen im Klaren sein. So sei es auch bei der Entscheidung für die  Kurzarbeit der Fall gewesen. Nur ein zehnköpfiges Team, beziehungsweise eine Gruppe in einem Organ, wollte nicht mitziehen. „Sie waren arbeitstechnisch noch ausgelastet“, erzählt Caroline Hess, „ihre Entscheidung hatte zur Folge, dass die Belegschaft gespalten war.“ Der Ruf nach der Faust auf den Tisch wurde in Richtung Stephan Heiler laut. Mit der Hilfe von Caroline Hess widerstand er dem Drang, Kurzarbeit für alle von oben herab zu bestimmen. „Wenn man auf formale Hierarchien verzichtet, dann muss man immer darauf verzichten, mit allen Konsequenzen. Und man muss alles dafür tun, dass es trotzdem zu guten Entscheidungen kommt“, sagt Stephan Heiler. Schließlich löste sich das Problem: „Zwei Wochen später hat das Team geschlossen gesagt, dass sie die Gründe nachvollziehen können, die rückläufigen Aufträge machten sich auch bei ihnen nun bemerkbar“, erzählt Caroline Hess. Das Team ging in Kurzarbeit. „Mit dieser Entscheidung war im gesamten Team und damit im gesamten Unternehmen eine ganz andere Akzeptanz für die Kurzarbeit da, als ich sie in anderen Unternehmen wahrnehme. Die Kurzarbeit war gewollt, nachvollziehbar und selbst gewählt – zum Wohle der Organisation.“

Caroline Hess betreut Unternehmen, die Veränderungen angehen wollen.
Caroline Hess betreut Unternehmen, die Veränderungen angehen wollen.

Es sei dieses unternehmerische Denken, der Blick auf das System und nicht nur auf das eigene Wohl, welches man in den MitarbeiterInnen verankern wolle, betont Caroline Hess. Aber birgt so eine ausgeprägte Teamdynamik nicht auch Gefahren? Gibt es trotz der abgeschafften formalen Hierarchie Machtstrukturen, die das Wohl des Unternehmens gefährden könnten? „Die Teamdynamik kann anstrengend sein“, sagt Caroline Hess, „vor allem, weil Verantwortung nicht abgegeben werden kann. Man muss hinter seinen Entscheidungen stehen.“ Es sei aber nicht so, dass sich nur einzelne AkteurInnen an den Entscheidungen beteiligten. „Natürlich haben wir verschiedene Charaktere, aber die Leute halten ihre Meinung nicht zurück. Auch Introvertierte spüren, dass sie Verantwortung haben für das eigene Arbeitsumfeld und bringen ihre Ideen und Anliegen vor.“

Ich bin der Überzeugung, dass es unsere Firma nicht mehr geben würde, hätten wir diese Transformation 2014 nicht gestartet.
Stephan Heiler

Wird das den Leuten nicht manchmal zu viel? Diese Freiheit, aber auch die damit einhergehende Verantwortung? Stephan Heiler spricht als Antwort auf diese Frage von verschiedenen Reifegraden, die jede und jeder im Unternehmen habe. „Wir selbst teilen uns nicht nach solchen Reifegraden ein, aber unsere Unternehmensorganisation ist ein Entwicklungsprozess für jede Person.“ Aber, so Stephan Heiler, man könne sich diesem Prozess auch verweigern. „Es gibt bei uns Menschen, die in einem anderen hierarchischen Betrieb genauso funktionieren könnten. Die werden dieses System für sich nie komplett in Anspruch nehmen wollen.“ Eine hundertprozentige Abdeckung brauche es auch nicht. Trotzdem ist der Firmenchef davon überzeugt, dass es eine „kritische Masse“ an UnterstützerInnen im Unternehmen gibt. „Ich bin der Überzeugung, dass es unsere Firma nicht mehr geben würde, hätten wir diese Transformation 2014 nicht gestartet. Wir hätten die ganzen Aufgaben der letzten Jahre nicht bewältigt bekommen.“

Zukunftsstrategie? Wetten statt Planung!

Wer von der Disruption ganzer Wirtschaftszweige spricht, hat dabei nicht unbedingt sofort einen Handwerksbetrieb vor Augen. „Ja, der Markt ist stabil“, sagt Stephan Heiler, trotzdem habe auch ein Unternehmen wie Heiler mit vielen Herausforderungen zu kämpfen. „Vor unserem Veränderungsprozess waren wir auf eine einzige Zielgruppe eingeschossen, das hat uns krank gemacht“, erzählt er. „Es wurde immer mehr Kraft notwendig, um den Umsatz zu halten. Wir mussten uns unsere Nische suchen.“ Dafür war eine Strategie notwendig, die Stephan Heiler gemeinsam mit der Belegschaft erarbeiten wollte. „Zuvor hatten wir eigentlich kein Konzept von Zukunft, das hing alles an meinem Vater dran. Alle haben von ihm verlangt, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das war nicht gesund.“

„Wir, also die Belegschaft und ich, sprechen über aktuelle Herausforderungen und überlegen anhand dieser konkreten Beispiele, wie wir uns aufstellen wollen. Ich habe nichts gegen Visionen, aber es darf nicht zu starren Plänen, zu fixierten Soll-Ist-Vergleichen in der Zukunft führen. Wir schauen nach Ist-Ist: Wie ist die Situation heute? Was funktioniert gut? Was können wir verbessern?“ Jetzt, mit Corona, helfe dieses Grundprinzip, das Stephan Heiler „Wetten statt Planung“ nennt. „Wir investieren überhaupt keine Zeit, unsere Pläne anzupassen, sondern wir schauen in Echtzeit auf die Entwicklungen und die aktuelle Lage. Dieser Flug auf Sicht fühlt sich nicht immer sicher an, aber mit allem anderen würde man sich etwas vormachen. Viel weiter kann man aktuell nicht planen.“

Wenn ein Unternehmen sagt, wir wollen agiler werden, frage ich: In was? Was stört euch denn?
Caroline Hess

Auch Caroline Hess wendet diesen Flug auf Sicht bei ihrer Arbeit mit veränderungswilligen Unternehmen an. „Wenn ein Unternehmen sagt, wir wollen agiler werden, frage ich: In was? Was stört euch denn?“ Losgelöst vom Tagesgeschäft lasse sich keine neue Organisationsform aufbauen. Corona, sagt sie, habe wie ein Brennglas gewirkt und viele Spannungen sichtbar gemacht. „Ich hoffe, dass diese Spannungen jetzt ernsthaft betrachtet werden und es zu keiner oberflächlichen Symptomkur kommt.“

Nächster Schritt: New Pay

Bei Heiler Glas möchte man dank der Erfahrungen der vergangenen Monate wieder ein paar Schritte weitergehen. Ein neues ERP-System soll implementiert werden und mit ihm lean und agile Prozesse. Außerdem möchte das Unternehmen eine neue Kundengruppe erschließen. Und dann gibt es da noch die Fragen, die sich in einem Unternehmen ohne Führungskräfte quasi automatisch ergeben. „Die Organe haben die volle Transparenz über ihr Budget. Sie sehen die Personalkosten und sie regeln die Neueinstellungen“, erzählt Caroline Hess. „Wenn es aber um das Thema individuelles Gehalt geht, wenden sie sich noch an Stephan Heiler oder mich. Aber eigentlich können wir darüber nicht entscheiden. Das zeigt uns, dass wir hier eine Lücke im System haben.“ Deswegen sei nun die Auseinandersetzung mit New-Pay-Modellen angestoßen worden. Irgendwann möchte Stephan Heiler zudem gar nicht mehr alleiniger Geschäftsführer sein, sondern das Unternehmen in eine Gesellschaft in Verantwortungseigentum umwandeln. Damit wäre gewährleistet, dass das Unternehmen Heiler immer aus der Belegschaft heraus geführt wird. Die Kapitaleigner wären dann nur noch Dividende berechtigt. Ein Verkauf, eine Anweisung von Seiten Eigentümer wäre formell nicht mehr möglich.

Es sei also noch viel zu tun, sagt Stephan Heiler, er ist aber auch stolz auf das, was er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis jetzt geschafft haben. „Heute, mehr als sechs Jahre nach der Initialzündung für diesen allumfassenden Wandel in der Unternehmensorganisation, sind wir mehr denn je überzeugt, dass die klassische Rangordnung mit Weisungsbefugnissen auf der einen und blindem Befehlsempfangen auf der anderen Seite in der modernen Unternehmenslandschaft ausgedient hat. Nur Belegschaften, die eigenverantwortlich und unermüdlich zusammen an der Unternehmensentwicklung arbeiten, sichern sinnvoll ihre Zukunft und die Konkurrenzfähigkeit.“