New Work Selbstorganisation

Die Kraft der Bottom-up-Transformation oder die Kunst loszulassen

Graswurzelinitiativen sind das Beste, was Unternehmen passieren kann: Menschen denken mit, entwickeln gemeinsam Ideen, wie es (noch) besser gehen könnte – und suchen den intensiven Austausch mit dem Management. Mehr Engagement und Identifikation sind kaum denkbar. Darauf verzichten könne nur, wer keine aktiven MitarbeiterInnen brauche, meinen Sabine und Alexander Kluge in ihrem Gastbeitrag.

Kreativität und Innovation, Begeisterung und Identifikation in Organisationen wachsen von unten. Photo by Chuttersnap on Unsplash
Kreativität und Innovation, Begeisterung und Identifikation in Organisationen wachsen von unten. Photo by Chuttersnap on Unsplash

Graswurzelinitiativen: Ein Glücksfall für Organisationen?

Veränderung aus der Unternehmensmitte – ohne Auftrag, ohne Genehmigung, ohne Budget: Kann Entscheidern, Unternehmenslenkern, etwas Besseres passieren, als dass sich die Organisation in unseren so wechselhaften Zeiten aus sich heraus, am besten kontinuierlich, selbst erneuert, während man sich selbst um die ganz große strategische Richtung der Unternehmensentwicklung konzentrieren kann?
Nun, die schlechte Nachricht zuerst: Die Duldung, gar die Förderung selbstorganisierter Graswurzelinitiativen im Unternehmen fordert ihren Tribut: Zum Beispiel das unkontrollierbare Infragestellen von Grundtatbeständen des Unternehmens, die bis gestern noch dem autokratischen Entscheidungsmonopol hierarchischer Organisationssysteme oblagen. Oder das eigenmächtige Umwidmen von Arbeitszeit und womöglich auch finanzieller Mittel, um Themen voranzutreiben, die sich in keine orchestrierte Top-Down-Transformationsinitiative einordnen lassen – als ob unsere rasend komplexer werdende Arbeitswelt nicht genug Unkontrollierbares für die Unternehmenslenkenden bereit hielte.

Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Wenn sich heute in den zahlreichen Organizational Healthchecks von Unternehmen Entscheider(innen) gern über den geringen kulturellen und digitalen Reifegrad ihrer Mitarbeitenden beklagen, dann setzen die Erfahrungen aus den Graswurzelinitiativen hier einen deutlichen Kontrapunkt. Denn in der Mitte des Unternehmens ist ein großer Gestaltungswille zu finden, der oft einher geht mit der Bereitschaft, hohe Risiken einzugehen, um die Geschicke des Unternehmens mitzubestimmen. Nur eben nicht formal verankert, und daher wenig steuerbar.

Ausbremsen oder Fördern?

Damit stellt das zunehmend verbreitete Phänomen von Graswurzelinitiativen in traditionellen Unternehmenskulturen eine ganz besondere Herausforderung an jene, die eigentlich hauptverantwortlich zeichnen für die Geschicke der Organisation, nämlich die Unternehmenslenker und Führungskräfte.

In der Mitte des Unternehmens ist ein großer Gestaltungswille zu finden, der oft einher geht mit der Bereitschaft, hohe Risiken einzugehen, um die Geschicke des Unternehmens mitzubestimmen.

Per Hausrecht und Hierarchie hätten sie  die Macht, derlei Bewegungen mit einem Federstrich zu eliminieren – wer könnte es ihnen verdenken. Nicht selten enden hier Initiativen abrupt am Horizont der Führungskraft. Im klügsten Fall aber leisten Führungsverantwortliche aber den entscheidenden Beitrag, um die aus der Mitte der Organisation wachsende Kraft mit zu entfalten und im Sinne des Unternehmenserfolgs zu nutzen.

Bewegung braucht Freiraum

Seit rund fünf Jahren versuchen Unternehmen unter hohem energetischem und – nicht zu verachten – auch finanziellem Aufwand, ihre Organisationen beweglicher zu machen. Gerade große, traditionell geführte Tanker tun sich dabei schwer, aber auch erfolgreiche  Mittelständler, deren strategische Ausrichtung sich bisweilen in Absolutheit auf einen zentralen, genialen, erfolgreichen Vordenker fokussiert, nämlich jene(n), der/die das Unternehmen groß gemacht hat.

Graswurzelinitiativen werden nicht geplant, nicht angeschaltet und ausgerollt – und sie werden nur unter Schmerzen ausgeschaltet.

Nun also der Zwang, agil zu werden: Moden und Methoden halten Einzug, Design Thinking, Scrum, Soziokratie sollen für die selbstorganisierte, am Kunden ausgerichtete, partizipative Entscheidungskompetenz jener sorgen, die dem Markt, dem Kunden und dessen Bedürfnisse am Nächsten sind. Und weil das Mitgestalten und Über-den-eigenen-Tellerrand-hinaus-Denken offenkundig großen Spaß machen, wirken all diese Moden und Methoden wie ein großer, unübersichtlicher Spielplatz: In Krisenzeiten verzichtbar. Die gut geplante und gern nach innen und außen gezeigte Agilitätsoffensive verschwindet still und wird so schnell abgeschaltet wie sie verordnet wurde.

Was ist anders an Graswurzelinitiativen?

Graswurzelinitiativen werden nicht geplant, nicht angeschaltet und ausgerollt – und sie werden nur unter Schmerzen ausgeschaltet. Denn in diesem Fall fragen Mitarbeiter gar nicht mehr, ob sie auf den Spielplatz dürfen, sondern schaffen ihn sich praktisch selbst, auch wenn sie qua Aufgabenbeschreibung und Budget ganz anders „zugeteilt“ sind. Sie erkennen Entwicklungspotentiale oder Missstände, sie sammeln informell und anfangs unsichtbar für das Management ihre Mitstreiter um sich und adressieren die Themen, die offenbar brachliegen im Unternehmen. Verzichtbar?Ja! Klar! Aber nur, wenn die Organisation nicht auf Eigeninitiative, Selbststeuerung, Kreativität und Innovation seitens derer angewiesen ist, die ihr Haus, ihre Kunden und deren Bedürfnisse besser und vielfach auch länger kennen, als ihre Unternehmenslenker. 

Sabine und Alexander Kluge porträtieren erfolgreiche Graswurzelinitiativen in ihrem neuen Buch.
Sabine und Alexander Kluge porträtieren erfolgreiche Graswurzelinitiativen in ihrem neuen Buch.

Die Kunst loszulassen

Aber wie kann es Führungskräften, eingezwängt in Systemgrenzen der Formalstruktur, gelingen loszulassen? Und warum scheint für diese Wirksamkeit die Vernetzungskompetenz aller Akteure immer wichtiger zu werden? In einer sich immer schneller verändernden Welt mit schwer durchschaubare Ursache-Wirkung-Beziehungen haben autokratische Führungsstrukturen wenig Chancen, die Zukunft von Unternehmen zu sichern. Entscheidungen müssen dort getroffen werden, wo das Problem auftritt. Das erfordert das Vertrauen in MitarbeiterInnen – und eine gute Sensorik im Management: Zuhören, wahrnehmen, und vielleicht auch Dinge laufen lassen. Haltungen, die nicht jeder traditionellen Führungskraft vertraut sind.

Graswurzelinitiativen verzichtbar?Ja! Klar! Aber nur, wenn die Organisation nicht auf Eigeninitiative, Selbststeuerung, Kreativität und Innovation angewiesen ist. 

Denn richtungs- und handlungsweisende Signale, die der Peripherie entstammen, können mit durchlässigen Kommunikationsstrukturen, die der gewohnten Berichtsstruktur der Hierarchie eigentlich zuwider laufen, einen unmittelbaren und offenen Dialog ermöglichen: Die wichtigste Grundlage guter und schneller unternehmerischer Entscheidungen.

Hier hat die interne soziale Vernetzung ihre große Stunde – und Unternehmenslenker können sich nicht früh und intensiv genug darum bemühen, an diesem Kanal zu partizipieren. Denn sie stellen damit vor allen Dingen eines sicher: Dass ihre eigene Sensorik in Bezug auf Erkenntnisse und Belange innerhalb und außerhalb der Organisation kontinuierlich auf Empfang ist.

Zielrichtung der Sensorik

Genau in diesem Punkt gibt es einen fundamentalen Bruch mit der traditionellen Hierarchie: Denn die Zielsetzung dieses Teilhabens, Sichtbarseins und der Responsiveness im Dialog im Netz ist nicht, kontrollierend zu erfahren, wo sich im Sinne eines Risikos Menschen scheinbar gegen die Interessen der Organisation opponieren.

Vielmehr geht es jetzt darum, hinhören zu wollen, verstehen zu wollen, selbst offen und transparent zu informieren – und auch im Falle von Meinungsverschiedenheiten zu vermitteln, warum aus Sicht der Unternehmensleitung womöglich manche Entscheidung anders getroffen werden muss. Denn nur so fühlen sich Menschen verbunden mit dem Ort, an dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbringen.

Graswurzelinitiativen und vernetzte Führung: Zwei Seiten der gleichen Medaille

Hier das Netzwerk der Akteure, die sich in einer gemeinsamen Wahrnehmung, in einem gemeinsamen Interesse finden. So haben wir in unserem Buch Bewegungen in Organisationen portraitiert, die beispielsweise im Schatten großer Transformationsinitiativen eine Welle der „Du“-Kultur für mehr Augenhöhe erzeugt haben. Und wir haben informell organisierte „kritische Ingenieure“ kennengelernt, die im Zuge des Dieselskandals, in die ihr Arbeitgeber verwickelt war, ein neues Werteverständnis in der Organisation etablieren wollen – ohne Auftrag, aber mit viel Liebe zu ihrem Unternehmen. In diesen informellen Netzwerken werden Meinungen und Haltungen kalibriert und geschärft, weil interne soziale Vernetzung auch ein gesundes Regulativ für die subjektive Wahrnehmung des Einzelnen ist.

Genau hier ist die Riesenchance für Entscheider(innen), sich einzubringen, in den Dialog zu treten, zu verstehen, was die „Außenposten“ im Feld wahrnehmen und wo für ein gemeinsames Verständnis gesorgt werden kann, gesorgt werden muss. …und dort Unternehmenslenker, die sich auf diese Weise ihrer Organisation zuwenden, und als Mitwisser und Sparringpartner zu Sponsoren, Mentoren, ja auch zu Beschützern der so wirksamen Kraft aus der Mitte der Organisation werden.

Heute geht es für die Unternehmensleitung darum, hinhören zu wollen, verstehen zu wollen, selbst offen und transparent zu informieren – und auch im Falle von Meinungsverschiedenheiten zu vermitteln, warum aus Sicht der Unternehmensleitung womöglich manche Entscheidung anders getroffen werden muss. Denn nur so fühlen sich Menschen verbunden mit dem Ort, an dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbringen.

Eine Transformationsinitiative wird so zu jenem wünschenswerten weil wirksamen partizipativen Teamjob, der das Unternehmen wirklich voran bringt – oder wie es der Vorstand eines Automobilkonzerns anerkennend den 500 Mitgliedern einer stark gewachsenen Graswurzelintitiative in seinem Unternehmen zurief: „Wenn wir es schaffen, alle Potentiale unseres Unternehmens zu nutzen, und künftig unser Wissen zusammenzubringen, um bessere Lösungen für unsere Kunden zu entwickeln – wer soll uns dann eigentlich noch aufhalten?"