Aufbrecher Organisationsentwicklung

„Employee Experience und Customer Experience sind Yin und Yang”

Wer exzellente Qualität in Richtung Kunden liefern möchte, muss den Menschen im Unternehmen das bestmögliche Umfeld bieten – vom Arbeitsplatz über die Technologie bis hin zu Führung und Kultur. Davon ist Jörg Staff, Vorstand bei Fiducia & GAD IT AG überzeugt. Deshalb müsse man Employee Experience ganzheitlich denken – inklusive einem neu gedachten Performance Management.

„HR muss sich anderen Funktionen öffnen und sich in sie integrieren, damit diese Employee Experience möglich wird“, sagt Jörg Staff.
„HR muss sich anderen Funktionen öffnen und sich in sie integrieren, damit diese Employee Experience möglich wird“, sagt Jörg Staff.

Klassische Führungsrollen abgeschafft

Herr Staff, Sie haben im vergangenen Jahr eine Querschnittsfunktion Employee Experience geschaffen, sie umfasst HR, IT, Facility Management, Organisation und Nachhaltigkeit. Was hat Sie dazu bewogen?

Wir sind seit rund zwei Jahren dabei, das gesamte Unternehmen im Rahmen der laufenden Transformation in ein agiles Zusammenarbeitsmodell mit komplett neuen Rollen zu verwandeln. Wir haben die klassischen Führungsrollen und die funktionalen Silos abgeschafft und Teams gebildet, die Lösungen in der gesamten Wertschöpfungskette, also End to End, verantworten. Ziel war und ist, unsere Kunden besser zu bedienen und ihnen bessere Kundenerlebnisse zu bescheren. Aus dieser Entwicklung heraus ist die Frage aufgetaucht, wie wir für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenfalls die Erfahrungen, die sie mit der Organisation machen, verbessern können. Also: Eine Employee Experience zu bieten analog zur Customer Experience. Unser Fokus liegt auf höherer Produktivität, größerer Zufriedenheit und damit auf besserem Engagement. Interessanterweise haben in einem der Transformations- oder Initiativen-Streams damals die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selber dieses Modell entwickelt und gesagt: „Eigentlich hilft uns die klassische HR-Funktion nicht wirklich.“

Unser Fokus liegt auf höherer Produktivität, größerer Zufriedenheit und damit auf besserem Engagement.

Die Personalabteilung spielt für die Menschen keine entscheidende Rolle?

Wenn wir uns den ganz normalen Arbeitstag eines Menschen bei uns anschauen, dann sieht er doch so aus: Man kommt morgens ins Büro, loggt sich in das System ein, ist im Internet und im Intranet unterwegs, arbeitet an den Projekten. Den ganzen Arbeitstag über bewege ich mich im Unternehmen, spreche mit Kolleginnen und Kollegen, treffe sie in der Kaffeeküche, beim Mittagessen, in Besprechungen, beim Arbeiten. Die Erfahrungen und Erlebnisse, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Unternehmen haben, sind oft völlig unabhängig von HR, es geht um eine ganzheitliche Sicht auf die Dinge. Die Frage stand im Raum, wie wir dieses 360-Grad-Erlebnis aus der Servicefunktion heraus gestalten. Unsere Antwort ist das Servicefeld Employee Experience. Hier bündeln wir die wesentlichen Berührungspunkte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Unternehmen. In meinen Augen ist das eine ganz logische Entwicklung.

Der perfect day einer Mitarbeiterin

Employee Experience hätte ich als Kernaufgabe von HR betrachtet.

Ich habe schon lange den Eindruck, dass der Impact von HR nicht so groß ist, wie die HR-Funktion selber glaubt. Der Einfluss von HR auf die Mitarbeiterzufriedenheit ist eher klein. Wenn wir uns einen normalen Tag im Leben einer Mitarbeiterin anschauen, dann trägt HR nur einen eher unwesentlichen Teil zum Gesamterlebnis der Mitarbeiterin bei. Der „perfect day“ einer Mitarbeiterin, eines Mitarbeiters hat real relativ wenige Berührungspunkte mit HR. Das Team, die Führungskraft und die Aufgabe spielen die wesentliche Rolle. Und daneben eben der Arbeitsplatz und die Technologie, mit der die Menschen arbeiten. Also all das, was wir im Servicefeld Employee Experience zusammengefasst haben.

Kundenorientierung und Mitarbeiterorientierung – beides braucht dieselbe Grundhaltung. Und die lautet Human Centricity.

Funktioniert Employee Experience im Kern wie Customer Experience? Gelten dieselben Motivatoren?

Absolut. Aus meiner Sicht sind das dieselben Motivatoren. Noch wichtiger ist in meinen Augen aber, dass beides dieselbe Grundhaltung braucht. Es geht um die Frage, wie wichtig einer Organisation die Human Centricity, die Konzentration auf die Menschen, wirklich ist. Unsere Antwort darauf lautet, dass zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Voraussetzung für zufriedene Kunden sind. Denn sie strahlen es unmittelbar aus. Richard Branson von Virgin hat es einmal so formuliert: „Kümmere dich gut um die Mitarbeiter, denn dann werden die sich gut um deine Kunden kümmern.“ Kundenorientierung darf nicht zulasten der Menschen im Unternehmen gehen. Mein Menschenbild sagt mir, dass wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stark machen müssen, dann werden sie dafür sorgen, dass die Kunden zufrieden sind und das Unternehmen eine starke Marktstellung erreicht und behält. Für mich sind Customer Centricity und Employee Centricity Yin und Yang. Es braucht beides in einer Organisation, das Verhältnis muss ausgewogen sein.

Wir alle sind von hierarchischen Modellen geprägt. Das ist tief in uns verankert. Das zu verändern, ist die große Herausforderung.

Employee Experience betrifft das komplette Arbeitsumfeld

Neulich haben Sie geschrieben: „Traditional hierarchical structures are fading away.“ Ist das wirklich eine Welle, die Unternehmen erfasst? Ich sehe da viel Beharren.

Ehrlicherweise denke ich, dass wir in dieser Hinsicht ein extremer Vorreiter sind, sogar für große Unternehmen. Weil wir von Anfang an gesagt haben, dass unsere Transformation die klassischen Führungsrollen obsolet machen wird. Und wir schaffen sie tatsächlich ab. Wir sind mittendrin und haben natürlich auch unsere Herausforderungen damit. Das läuft nicht alles easy. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wir alle, sind natürlich von hierarchischen Modellen geprägt. Das ist tief in uns verankert. Das zu verändern, ist die große Herausforderung. Und fängt bei so vermeintlich einfachen Themen wie Statussymbolen an – markierter Parkplatz, Firmenwagen, Einzelbüro et cetera. Das sind Feinheiten, auf die Menschen achten, bis hin zu der Frage, wer warum wie viel verdient. Aber wirklich konkret wird es bei der Frage, wie die Menschen in unternehmerische Entscheidungsprozesse eingebunden werden.

Unsere Antwort lautet: Wir glauben nicht mehr daran, dass ein Mensch super führen und gleichzeitig fachlich ganz tief in den Themen verankert sein kann. Wir haben die Führungsrolle getrennt, in fachliche Führung und den sogenannten People Lead. Der People Lead kümmert sich ausschließlich um die Menschen, vom Recruiting bis zu Qualifizierung und Weiterentwicklung. Der fachliche Lead ist für die Inhalte verantwortlich. Er oder sie kümmert sich um die Produkte und Lösungen, um die technische Weiterentwicklung, die Zusammenarbeit mit Kunden, darum, dass mit agilen Methoden nutzenorientierte Kundenlösungen (weiter)entwickelt werden. Und wir haben diesen zwei Rollen Expertenrollen gleichgestellt, Menschen, die in bestimmten Themengebieten Experten sind und mit der menschlichen und fachlichen Führung am Tisch sitzen, wenn es um Entscheidungen geht.

Mein Menschenbild sagt mir, dass wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stark machen müssen, dann werden sie dafür sorgen, dass die Kunden zufrieden sind und das Unternehmen eine starke Marktstellung erreicht und behält.

Wir haben noch eine vierte Rolle eingeführt, die der Projektleitung, die größere Programme und Initiativen im Unternehmen organisiert. Diese vier Rollen treffen unternehmerische Entscheidungen. Auf stärker operativer Ebene gibt es dann noch Squad Owner und Chapter Guides, die crossfunktionale Themen treiben.

Klingt nach Totalumbau.

Ich denke, wir sind da führend, denn ich kenne kein anderes großes Unternehmen, in dem bis zur ersten Ebene unter dem Vorstand fachliche Führung und Expertenrollen mit inhaltlichen Führungsrollen gleichgestellt sind. Wir haben dazu vorab Studien erstellt und nichts Vergleichbares gefunden. Es geht um eine radikale Veränderung in Organisation und Führung. Und um einen transparenten Karrierepfad im Unternehmen, der Experten auch bis hoch zum Vorstand führt.

Was macht Karriere aus?

Es gibt also noch Karriere bei Ihnen, auch ohne Hierarchie? Kann ich als Squad Owner einsteigen mit dem Ziel, einmal People Lead zu werden für 50 Menschen?

Das könnten Sie tun, ja. Allerdings sprechen wir eher von Netzwerkkarrieren. Das heißt, es gibt sehr viele Karrierewege, die darauf ausgelegt sind, zunächst einmal Rollen in unterschiedlichen Funktionsbereichen, genauer: in anderen Teams, wahrzunehmen. Denn weil wir die End-to-End-Verantwortung konsequent umsetzen, haben wir in fast allen Teams alle Funktionen, von zum Beispiel Beratung, Produktmanagement, der Entwicklung und bis hin zum Betrieb und der Einführung. Gleichzeitig haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeit, höher vergütete Rollen jenseits der Teams anzustreben. Die Menschen können sich in beide Richtungen bewegen.

Kam der Impuls zu diesen disruptiven Veränderungen, wie Sie sie nennen, von außen oder von innen?

Von außen und von innen. Im Jahr 2015 hatten wir zwei Unternehmen fusioniert, die bis dato als Wettbewerber unterwegs waren. Es gab sehr viele Spannungen im fusionierten Unternehmen und ehrlicherweise eine starke Beschäftigung mit sich selbst. Die Kunden sind in dieser Zeit ein wenig aus dem Blick geraten und wurden langsam ungeduldig insbesondere in Bezug auf Innovationen und Qualität. Zumal sich der Markt ja weiterentwickelt hat. Im Vorstand waren wir uns einig, dass in dieser Situation das Drehen an vier, fünf Schräubchen allein nicht hilft. Wir wussten, wir brauchen eine ganz andere, eine disruptive Herangehensweise in dem Unternehmen, nicht zuletzt, weil wir die drei „verlorenen“ Jahre des Post-Merger-Prozesses wieder aufholen mussten. Das war nur möglich, indem wir einen ganz neuen Weg gingen.

Performance Management neu gedacht

Im Kern ging es um die Performance zum Kunden und um Performance Management. Wie sieht Ihr Performance Management aus?

Natürlich hat jedes Organisationsmodell seine Vorteile und Nachteile. Das Organisationsmodell alleine rettet nicht alles. Sehr viel hängt mit der Unternehmenskultur zusammen und mit der Haltung, die das Handeln leitet. In Bezug auf das Performance Management sind wir gerade dabei, das neu zu denken. Unser Organisationsmodell bringt eine sehr strikte Ausrichtung auf Ziele mit sich. Wir haben begonnen, für das gesamte Unternehmen intensiv mit dem OKR-Modell zu arbeiten. Auch das ist eine große Veränderung, in Zielzuständen zu denken und die Zielfortschritte regelmäßig zu überprüfen und transparent mit allen zu teilen, zu diskutieren und zu reflektieren. Wir eignen uns diesen Prozess gerade an, der ja auch eine praktische Technik ist mit Regeln, Methoden und Rhythmen.

Die starke Ausrichtung auf Ziele wird ein wesentlicher Teil unseres Performance Management sein. Gleichzeitig gilt: Performance ist nicht nur Zielerreichung. Performance ist auch der kulturelle Fit, das Mindset, die Werte, die gelebt werden.

Das wird sicherlich zukünftig ein wesentlicher Bestandteil unseres Performance Management sein, diese starke Ausrichtung auf Ziele. Gleichzeitig gilt: Performance ist nicht nur Zielerreichung. Performance ist auch der kulturelle Fit, das Mindset, die Werte, die gelebt werden. Performance Management umfasst auch die persönliche Entwicklung im Rahmen des Karrieremodells sowie die Entwicklung und Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Upskilling ist besonders wichtig, weil sich die Märkte so schnell verändern. Das alles werden wir in unser neues Performance Management-Modell integrieren.

Die HR-Funktion löst sich aus meiner Sicht in der funktionalen (Rein-)Form, wie wir sie kennen, langfristig in eine neue, integrierte Servicefunktion auf.
Jörg Staff, Fiducia & GAD IT AG

Was wird aus HR?

Welche Rolle und welche Bedeutung hat HR bei der Transformation?

Aus meiner Sicht hat HR in seiner klassischen Rolle zu wenig „Impact“ und damit langfristig keine Überlebenschance, aus vielen Gründen. Natürlich wird es weiter Spezialistinnen und Spezialisten für Fachthemen geben, die bestimmte Dienstleistungen entwickeln und betreiben. Aber ich glaube, die Hauptherausforderung liegt in Zukunft darin, integrierte, nutzenorientierte Services für die Menschen zu erstellen. Integriert mit der IT, integriert mit dem Arbeitsplatz, integriert mit Organisation und Prozessen. Die Menschen erwarten, dass Technologie und Arbeitsplatz sie dabei unterstützen, ihr Bestes zu geben, dass die Prozesse einfach und die Systeme effizient sind. Es muss schlicht alles passen und zusammenpassen. Das ist die Hauptherausforderung für Unternehmen, und HR muss sich anderen Funktionen öffnen und sich in sie integrieren, damit diese Employee Experience möglich wird. Und im Übrigen denke ich mit Blick auf Anbieter wie Microsoft (Viva) oder Servicenow, dass die IT alles tun wird, Prozesse rund um Zusammenarbeit, um Lernen, Arbeitsprozesse et cetera für die Employee Experience gesamthaft abzudecken. Die HR-Funktion löst sich aus meiner Sicht in der funktionalen (Rein-)Form, wie wir sie kennen, langfristig in eine neue, integrierte Servicefunktion auf.