Organisationsentwicklung Agilität

Mit dem Zweiten geht es besser: Das duale Betriebssystem

Der Energieversorger EnBW hat ein zweites, agiles Betriebssystem eingeführt, um Innovationen zu fördern. In einem dualen Betriebssystem werden Agilität und Stabilität optimal kombiniert. HR hat die agilen Methoden selbst ausprobiert.

Agilität plus Stabilität gleich duales Betriebssystem
Agilität plus Stabilität gleich duales Betriebssystem

Um maximale Flexibilität zu erreichen, bilden immer mehr Unternehmen „agile Netzwerke“. Doch je agiler Mitarbeiter und Führungskräfte agieren sollen, desto mehr Stabilität und Orientierung brauchen sie auch. Wie kann die richtige Mischung aus Stabilität, Agilität, Hierarchie und Netzwerk genau aussehen? Der bekannte Management-Strategieprofessor John Kotter hat als Lösung ein sogenanntes „duales Betriebssystem“ vorgeschlagen, bei dem sich die gegensätzlichen Welten eines Unternehmens – flexible Strukturen auf der einen und die traditionellen, eher stabilen Strukturen auf der anderen Seite – die Waage halten und miteinander verwoben sind. Eine strikte Trennung der beiden Systeme – etwa, wenn Kreativabteilungen vom Rest des Unternehmens abgekoppelt sind – lehnt er ab.

Je agiler Mitarbeiter und Führungskräfte agieren sollen, desto mehr Stabilität und Orientierung brauchen sie.

In der Praxis organisiert sich das agile zweite Betriebssystem zwar im Wesentlichen selbst. Dazu gehört etwa, dass die Mitarbeiter im agilen Betriebssystem aus freien Stücken eigene Ziele formulieren und Initiativen ungeordnet anstoßen. Dennoch ist eine gute Einführung und Einbettung der neu entstehenden Netzwerke in die bestehende Organisation wichtig. Denn erst dadurch, dass die Mitarbeiter in beiden Ebenen arbeiten, profitieren beide Betriebssysteme: Das klassische Betriebssystem stabilisiert sich und bekommt innovative Impulse und das agile Betriebssystem verfolgt kreative neue Wege und bekommt Rückhalt. Der so angestoßene Wandel von innen bewirkt letztlich, dass die Mitarbeiter Neues auch wirklich umsetzen und begonnene Veränderungsprozesse nicht abrupt beenden, weil sie sich daran nicht beteiligen konnten und die Veränderungen daher nicht akzeptieren. Zudem bringt das agile Betriebssystem mit der Zeit auch immer mehr Menschen hervor, die sich für die Entwicklung des Unternehmens und die Zusammenarbeit engagieren.

Kein Einheits-Change-Management

Wie die Implementierung eines zweiten Betriebssystems in der Praxis gelingen kann, zeigt das Beispiel der EnBW Energie Baden-Württemberg AG. Auslöser für die Umorganisation war die Energiewende, die einen Umbruch des bisherigen EnBW-Geschäftsmodells und damit einen umfassenden Veränderungsprozess nach sich zog. Dabei war den Verantwortlichen klar, dass es kein einheitliches Veränderungsmanagement für alle geben konnte: Denn während in klassischen Geschäftsbereichen wie im regulierten Netzbereich oder der konventionellen Erzeugung eine klassische Veränderung getrieben werden sollte, sollten in Bereichen wie dem Innovationsmanagement, der Produktentwicklung und Digitalisierung unkonventionelle Änderungen bei Themen wie „Arbeitsweise“, „Leadership“ und „Arbeitswelten“ erfolgen.

Kein einheitliches Veränderungsmanagement für alle

Transformation startet in HR

Die Transformation starteten die EnBW-Personaler Anfang 2015 im eigenen Bereich. Unterstützung erhielten sie dabei von der Fuhrmann Leadership GmbH, die in den vergangenen Jahren schon mehreren Kunden dabei geholfen hat, duale Betriebssysteme aufzubauen. Die Personaler entwickelten gemeinsam mit den Beratern hierarchiefreie Beteiligungsformate, mit denen Mitarbeiter und HR-Führungskräfte Lösungsvorschläge erarbeiteten und ausgestalten konnten. Dabei spielte die Eigenmotivation der Mitarbeiter eine große Rolle: Sie konnten sich für die Themen bewerben, für die sie am motiviertesten waren. Anschließend arbeiteten die Mitarbeiter in sogenannten „Werkstätten“ selbstorganisiert an den Themen, ohne klassischen Projektleiter. Sie wurden ermutigt, dabei neue Herangehensweisen und Methoden wie „Time-Boxing“, „Prototyping“ oder „Design Thinking“ zu erproben. Die Mitarbeiter beschäftigten sich somit nicht nur mit inhaltlichen Lösungen, sondern automatisch auch mit dem laufenden Kulturwandel, gewannen und vermittelten Sicherheit im agilen Betriebssystem und erlebten in ihren Initiativen, wie weniger Vorschriften zu mehr Geschwindigkeit und Freiheit führen. Nebenbei wurden sie auch noch zu Vorbildern für ihre Kollegen.

Duales Betriebssystem
Duales Betriebssystem

Parallel zu diesem „Bottom-up“-Impuls arbeiteten die Führungskräfte aus HR an einer gemeinsamen Koalition: Dadurch, dass sie ein gemeinsames Zukunftsverständnis entwickelten, legten sie auch die Vertrauensbasis für die anstehende Veränderung. Gleichzeitig beschäftigte sich das Management mit agilem Leadership. So konnte HR das Topmanagement als Vorbild und die Führungskräfte als Promotoren gewinnen.

Neben den agilen Netzwerken als ungerichtete Innovations- und Verbesserungsmethode etablierte HR mit den Beratern parallel ein „Digital Office“, dessen Mitglieder zum einen Digitalisierungsinitiativen zu Geschäftsmodellen entwickelten. Zum anderen platzierte das Digital Office auch agile Coachs im Konzern, die wiederum die agilen Netzwerke bei ihren zahlreichen Innovationsinitiativen unterstützen.

Weil die Personaler die Arbeit im agilen Betriebssystem selbst erlernt und erlebt haben, können sie die neuen Denkweisen heute auch in die übrige Organisation transportieren. Mittlerweile spielt HR eine große Rolle bei der Agilisierung des Konzerns. Zusammen mit dem Digital Office und der Fuhrmann Leadership GmbH hat HR inzwischen viele Veränderungen bei Führungskräften, Mitarbeitern und in der gesamten Organisation angestoßen.

Bei den Führungskräften: HR ...

  • befähigt die Führungskräfte für ein neues Führungsverständnis.
  • baut bereichsübergreifende Führungs­teams auf und stärkt diese als zentraler Bestandteil der Führungsentwicklung im Konzern.
  • setzt Netzwerke und Austauschformate auf, wie zum Beispiel den „Leadership Tuesday“.
  • platziert agile Coachs, die Führungskräfte beim Wechsel im Führungsverständnis begleiten und unterstützen.
  • passt Incentivierungswerkzeuge an
  • wählt und entwickelt passende Führungskräfte.

Bei den Mitarbeitern: HR ...

  • schafft neue Lern- und Experimentierflächen, um neue Arbeitsweisen zu leben (zum Beispiel „1492“, ein Beteiligungsformat für Mitarbeiter aus dem Innovationscampus).
  • rekrutiert geeignete Mitarbeiter, die sich in beiden Betriebssystemen entfalten können.
  • entwickelt die Fähigkeiten der Mitarbeiter durch geeignete Trainings.
  • kommuniziert offen die Erwartungshaltung an Mitarbeiter, in kurzlebigen Strukturen zu arbeiten und diese Unsicherheit auszuhalten.
  • stellt Verständnis her für agile, selbstständige Arbeitsformen innerhalb festgelegter Spielregeln und Leitplanken, ohne die es auch im agilen Betriebssystem nicht geht.
  • hilft, Expertennetzwerke aufzubauen.
  • bietet Entfaltungsmöglichkeiten für Innovationen und Kompetenzen.

In der Organisation: HR ...

  • reduziert Hierarchie- und Silodenken, zum Beispiel durch 360-Grad-Feedbacks und übergeordnete Zielvereinbarungen.
  • fördert und treibt den Kulturwandel durch klare Strategie- und Leadership-Statements.
  • akzeptiert die unterschiedlichen Anforderungen der Geschäftsbereiche, um situativ Lösungen anzubieten.

Somit sind und waren die Personaler bei EnBW selbst integraler Bestandteil der Veränderung. Sie arbeiten aktiv an der Schnittstelle zwischen beiden Organisationsbereichen, sie entwickeln, leben und treiben somit beide Betriebssysteme zur Unterstützung der Transformation bei der ENBW.

So klappt‘s mit zwei Betriebssystemen

Damit Mitarbeiter im zweiten Betriebssystem erfolgreich selbstorganisiert arbeiten können, müssen HR und Führungskräfte einige Rahmenbedingungen schaffen.

  • Führungskräfte müssen im zweiten Betriebssystem loslassen und im Sinne von agilem Leadership fördern statt zu kontrollieren. Sie müssen zudem Ressourcen an das agile Betriebssystem abgeben und dabei verstehen, dass letztlich die ganze Organisation und auch sie selbst davon profitieren. Dafür muss HR sie stärken und trainieren.
  • HR muss neue Mitarbeiter und Führungskräfte rekrutieren, die sich in beiden Betriebssystemen – agile und hierarchische Organisation – entfalten können.
  • Die bestehenden Führungskräfte sollte HR dafür entwickeln und passende Talente innerhalb des Unternehmens als Führungsnachwuchs identifizieren.
  • Dabei gilt es, Veränderungstreiber wie die Digitalisierung zu berücksichtigen: HR muss daher neue, andere Skills und Profile suchen.
  • HR muss geeignete Weiterbildungsformate entwickeln, um Führungskräfte an das duale Betriebssystem heranzuführen und eine dauerhafte Agilität zu gewährleisten.
  • Zudem sollten Personaler Trainings anbieten, die den Mitarbeitern dabei helfen, mit den neuen Anforderungen zurechtzukommen und die verschiedenen Rollen in den beiden Betriebssystemen zu verinnerlichen, und daneben auch Trainings, in denen die Mitarbeiter lernen, mit Misserfolgen umzugehen.
  • Mitarbeiter müssen darauf eingestellt sein, in kurzlebigen Strukturen zu arbeiten und diese Unsicherheit auszuhalten.
  • Wenn Mitarbeiter sich zunächst nicht zum agilen Arbeiten motivieren lassen wollen, sollte HR versuchen, Anreize zu schaffen, es vielleicht doch einmal zu versuchen – die meisten Mitarbeiter finden es am Ende sehr attraktiv, zumindest zeitweise in der agilen Organisation mitzuarbeiten.
  • Falls zu wenige agile Mitarbeiter zur Verfügung stehen, ist es oft auch hilfreich, anderen Mitarbeitern die dafür notwendigen Kompetenzen zu vermitteln – denn wenn ein Mitarbeiter überzeugt ist, für eine neue Aufgabe gut gerüstet zu sein, steigt auch die eigene Bereitschaft, diese zu übernehmen (Sog-Wirkung).
  • Es gilt, ein Gleichgewicht und Respekt zwischen agilen, selbstständigen Mitarbeitern und den festgelegten Spielregeln und Leitplanken herzustellen.
  • HR muss sich selbst der Schnelligkeit des zweiten Betriebssystems anpassen, sich selbst agilisieren und agil arbeiten – soweit dies möglich ist – , um das zweite Betriebssystem nicht als „Fremdkörper“ zu stören.
  • Ein Expertennetzwerk muss aufgebaut werden.
  • Den Mitarbeitern müssen Entfaltungsmöglichkeiten für Innovationskräfte und Kompetenzen angeboten werden.
  • Umdenken muss in allen Ebenen des Unternehmens erfolgen; es müssen Mitarbeiter ermächtigt werden, in verschiedenen Rollen beziehungsweise innerhalb und außerhalb von Hierarchien zu agieren; neue Mitarbeiter müssen nach diesen neuen Maßstäben rekrutiert werden.
  • Das Hierarchie- und Silodenken wird durchbrochen, sobald Mitarbeiter auf beide Betriebssysteme setzen und Wechsel erleichtert werden.
  • Personaler und Führungskräfte müssen Veränderung von unten ermöglichen und die Change-Offenheit im Unternehmen erhöhen.
  • Insgesamt gilt es, einen Kulturwandel und Durchlässigkeit zu fördern.

Die Autoren

Dr. Michael Fuhrmann ist Geschäftsführer der Unternehmensberatung Fuhrmann Leadership in Karlsruhe

Marcel Schmid-Oertel ist Leiter Personal bei der EnBW in Karlsruhe

Matthias Weber ist Senior Manager Unternehmensorganisation bei der EnBW in Karlsruhe

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im Personalmagazin 10/2017.

KEY FACTS

Der Energieversorger EnBW hat das organisationale Betriebssystem um ein agiles Betriebssystem erweitert. Auf diese Weise stellt das Unternehmen sicher, dass ausreichend Stabilität und Agilität vorhanden sind. So entwickelt die Organisation sich zum dualen Betriebssystem.

Duales Betriebssystem = agile und stabile Arbeitsweise respektieren

Eigenverantwortung der Mitarbeiter stärken

Innovationsfähigkeit neben Effizienz im Tagesgeschäft erhalten