The Next Normal

„Wir fahren auf Sicht“

„Entscheidungen von gestern können heute schon wieder falsch erscheinen. Wir leben in VUCA-Zeiten. Es herrscht überall große Unsicherheit – darum fahren wir auf Sicht. Das ist anstrengend, aber gut“, sagt Åsa Lautenberg, CPO und Executive Board Member bei Viessmann Climate Solutions.

Der Umgang mit Corona als Lernreise für Mensch und Organisation. Ein Aspekt, der Åsa Lautenberg wichtig ist.
Der Umgang mit Corona als Lernreise für Mensch und Organisation. Ein Aspekt, der Åsa Lautenberg wichtig ist.

In der Krise wird vieles sehr schnell möglich

Wie hat die Corona-Krise die Zusammenarbeit bei Viessmann verändert?

Wir haben durch das gemeinsame Meistern der Krise unglaubliche Fortschritte auf unserer Transformationsreise gemacht und in vielen Dingen einen echten Mindset-Switch erlebt. Dank der Digitalisierungsoffensive, die vor vier Jahren durch Co-CEO Max Viessmann angestoßen wurde, sehen wir uns in Corona-Zeiten gut aufgestellt. Die technische Infrastruktur für mobiles Arbeiten steht seit langem. Wirklich intensiv und vor allem auch wirklich gern genutzt wird sie aber erst seit dem Lockdown. Selbst die Vorstandsmitglieder haben sich von heute auf morgen dazu entschieden, die Vorstandsmeetings rein digital abzuhalten. Es ist uns in diesen Wochen gelungen, eine Kultur zu etablieren, in der mit sämtlichen 12.300 Familienmitgliedern auch über Unsicherheiten und Ängste sehr offen gesprochen wird.

Wir erleben Real-Life-Persönlichkeitsentwicklung und positives Team-Building.

Das ist für uns wie eine „Real-Life-Kulturintervention“, die im gesamten Unternehmen gestartet hat. Auch auf das Teambuilding bei uns im Vorstand hat das alles positive Auswirkungen. Wir sprechen offener und ehrlicher miteinander. Natürlich sind wir nicht immer im Einklang und man reibt sich viel mehr aneinander. Jedoch bringt diese Reibung eine positive Energie, die uns schnell und gut voranbringt. Eines unserer größten Learnings dieser Tage ist: Fahren auf Sicht! Das ist sehr anstrengend – aber gut. Im Zusammenhang mit VUCA hat man immer darüber gesprochen, und jetzt, wo wirklich eine Zeit großer Unsicherheit herrscht, erleben wir, dass wir mit einer offenen Kultur und schnellen Entscheidungen am besten vorankommen. Denn was gestern richtig war, kann heute schon wieder falsch sein.

The Next Normal

Dieses Interview ist Teil von „The Next Normal“ – einer qualitativen Studie zur Zukunft von Organisationen, für die rund 100 Führungskräfte interviewt wurden. „The Next Normal“ ist eine Kooperation von Metaplan und Haufe. Erste Ergebnisse der Studie werden am 14. Mai in einem digitalen Symposium vorgestellt. Bei Interesse an der Studie wenden Sie sich bitte an thorsten.schaar@
haufe.com

Mut, Vertrauen, Anerkennung

Welche neuen Maßnahmen wurden konkret angestoßen?

Die höchste Priorität bei uns hat der Schutz unserer Familienmitglieder. Hierzu haben wir schnell global gültige erweiterte Sicherheitsmaßnahmen eingeführt. Zweitens ist es uns ein großes Anliegen auch in der Krise einen Beitrag in der Gesellschaft zu leisten. Wir haben unseren Fokus verstärkt auf die eigene Produktion von Desinfektionsmittel, Masken und sogar Beatmungsgeräte für die Unterstützung von Krankenhäuser und Schulen gelegt. Drittens muss am Ende auch jede Maßnahme dem Fortbestand des Familienunternehmens dienen, um die Arbeitsplätze unserer Familienmitglieder zu sichern. In unseren Niederlassungen in Deutschland haben wir bisher das Glück, weiter voll produzieren zu können und somit in allen wertschöpfenden Bereichen unter voller Auslastung weiter arbeiten zu können. In anderen Unternehmensbereichen und Märkten hingegen spüren wir Einschnitte und haben auch schon Kurzarbeit eingeführt. Zudem haben wir schon früh ein Reiseverbot ausgesprochen und unsere Kantine umgebaut, um die Einhaltung der Sicherheitsabstände zu ermöglichen. Außerdem haben wir unsere Familienmitglieder in den indirekten Bereichen ins Homeoffice geschickt.

Eine Taskforce aus dem Vorstand und den 25 wichtigsten Führungskräften ist im täglichen Austausch. Da geht es um Transparenz, Cross-Collaboration und Reporting, das braucht es auch jetzt.
Åsa Lautenberg, CPO und Executive Board Member, Viessmann Climate Solutions

Was ist in Ihren Augen im Moment das Wesentliche?

Es geht um Mut, um Vertrauen, um Anerkennung, um Zusammenhalt und um Solidarität. Wir alle bewegen uns auf völlig unbekanntem Gelände. Selten war Vertrauen in uns selbst und in die anderen wichtiger als jetzt. Denn nur auf dieser Grundlage können wir mutig nach vorne blicken. Und Mut brauchen wir, eben weil wir Schritte ins Unbekannte wagen müssen. Die große Frage, die ich mir aktuell stelle, lautet dabei, wie wir es schaffen, all die positiven Erfahrungen, die neuen Formen vertrauensvoller Zusammenarbeit und den Mut auch nach dem Ende des Lockdowns und der Krise zu bewahren. Anders formuliert: Wie geht es nach dem Rebound mit diesen kulturellen Themen weiter?

Mit einem Sprung zur lernenden Organisation

Was sollte aus Ihrer Sicht nach der Krise beibehalten werden?

Wir erleben im Moment ja zwei Dinge. Auf der einen Seite sehen wir, das Remote Work und digitale Zusammenarbeit funktionieren. Auf der anderen Seite nehmen wir mehr denn je wahr, welche Rolle Menschen und menschliche Begegnungen in unserem Unternehmen spielen. Das heißt, das Präsenzprinzip wird neu bewertet. Virtuelle Zusammenarbeit ist effizient und produktiv. Es ist nicht notwendig, dass alle immer an ein und demselben Ort sitzen, um erfolgreich zusammenzuarbeiten. Zweitens erkennen wir, dass die Digitalisierung, die wir gerade durchmachen, das Ziel der lernenden Organisation gelingen lässt. Jeder von uns und die gesamte Organisation lernt jeden Tag. Wissen zu teilen ist möglich und bringt uns weiter. Sogar Kundenveranstaltungen lassen sich digital abhalten – mit guten Ergebnissen, intensivem Austausch und ja: auch Nähe. Unser Unternehmen als Ganzes macht gerade einen riesigen Sprung nach vorne. Das alles sollte die kommenden Jahre prägen.

Wir erkennen, dass die Digitalisierung, die wir gerade durchmachen, das Ziel der lernenden Organisation gelingen lässt.
Åsa Lautenberg, CPO und Executive Board Member, Viessmann Climate Solutions

Haben Sie in der Krise besondere Organisationsreflexe beobachtet? Was wird aktuell zentral entschieden und was eher dezentral?In den ersten drei Wochen des Lockdowns haben wir mit großer Transparenz und Klarheit in die Organisation kommuniziert. Entscheidungen wurden zentralisiert, es gab klare Führung von oben. Das war notwendig, denn gerade in der ersten Phase waren schnelle Entscheidungen und klare Vorgaben gefragt. Anschließend sind wir Schritt für Schritt zurück in ein Modell der dezentralen Verantwortung zurückgekehrt und haben verstärkt auf die Kreativität aller Familienmitglieder gesetzt.

Krisenmanagement heißt auch immer Fokussierung. Welche Themen treibt Viessmann trotz der Krise weiter, was wird nicht weiter gemacht?
Es ist sehr schwer, Themen wegzulassen. Schließlich sollen Initiativen und Innovationen die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens sichern. Trotzdem haben wir sehr rigoros priorisiert und gestrichen. Auch das hat im Wesentlichen der Vorstand gemacht. Nun gilt: Wenn Projekte wieder freigegeben werden, wird über jede Freigabe intensiv diskutiert. Brauchen wir es wirklich? Bringt es uns wirklich weiter? Gibt es eine Zahlungsbereitschaft beim Kunden? Sichert es unsere Zukunft? Um diese Fragen geht es. Denn wenn ein Projekt erst einmal sechs Wochen auf Eis liegt, stellt sich quasi automatisch die Frage nach dessen strategischer Bedeutung. Dennoch haben wir von unseren großen Zukunftsinitiativen nur eine gestoppt, die anderen laufen weiter. Weil wir bei Viessmann fest davon überzeugt sind, dass die innovativen Unternehmen die erfolgreicheren sind. Wir schauen auf die Kosten, aber wir stoppen Innovationen nicht gänzlich wegen der Krise.

Das Kundenverhalten wird sich ändern

Wie sieht für Sie das neue, das „nächste Normal“ aus?

Wir alle haben so eine Krise noch nicht erlebt. Wir rechnen bei Viessmann, Stand heute, eher mit einer U-förmigen Entwicklung. Das Kundenverhalten wird sich für einige Monate ändern, einige werden größere Investitionen verschieben. Ausnahme könnte das eigene Zuhause sein, denn : Menschen möchten insbesondere in diesen Zeiten ihr Zuhause mit intelligenten und qualitativ hochwertigen Klimalösungen aufwerten. Viele werden auch Urlaub zu Hause machen müssen und sehen vielleicht, dass das gar nicht schlecht sein muss. Das gibt positive Impulse auf die wirtschaftlichen Aussichten bei Viessmann.

Für mich die wichtigste Erkenntnis der letzten Wochen: Wer kreativ und mutig neue Wege sucht, macht notwendigerweise Fehler, die wir alle akzeptieren.
Åsa Lautenberg, CPO und Executive Board Member, Viessmann Climate Solutions

Und welche Folgen für die Organisation sehen Sie?

Auch dem Letzten ist jetzt klar, dass Digitalisierung kein Hype ist, sondern notwendige Realität. Aber die digitalen Werkzeuge sind in erster Linie Befähiger, die uns helfen, besser und schneller zu werden. Gleichzeitig haben wir in den vergangenen Wochen erlebt, zu was Menschen fähig sind. Wie kreativ, flexibel und agil sie arbeiten. Dinge wurden auf einmal möglich, für die man zuvor jahrelang kämpfen musste. Die Kommunikation im Unternehmen wird sich nachhaltig ändern. Und für mich das Wichtigste: Wer kreativ und mutig neue Wege sucht, macht notwendigerweise Fehler, die wir alle akzeptieren. Eine Fehlerkultur, die den Namen verdient, wird hoffentlich auch eine Folge dieser Krise sein. Gleichzeitig haben wir erlebt, wie wichtig Austausch, Dialog und Nähe sind. Das Menschliche hält uns zusammen. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis für die Zukunft.