Innovation Agilität

Netflix-Kultur: Blaupause für New Work?

Entscheidungsfreiheit, Offenheit und eine Talentdichte, für die „schlechtere“ Beschäftigte gnadenlos ausgetauscht werden – die Netflix-Kultur polarisiert. Das neue Buch „No rules rules“ von CEO Reed Hastings und Insead-Professorin Erin Meyer erklärt den Ansatz nun gar zur kulturellen Roadmap für Unternehmen weltweit.

Wer bestimmt die Regeln?
Wer bestimmt die Regeln?

Ein siegreiches Team braucht die besten Spieler

„House of Cards“, „Orange is the new black“, „Narcos“ – die Serien von Netflix sind Kult. Der DVD-Versandhändler erkannte früh, dass die Zukunft im Streaming liegt und fing an, eigene Inhalte zu produzieren. Innovationskultur ist das Stichwort. Um diese zu beschreiben, bemüht CEO Reed Hastings gern das Bild der Sportmannschaft: Ein siegreiches Team braucht die besten Spieler – diese kommen und gehen. Auch in seinem neusten Buch nimmt er die Analogie zu Hilfe, eingebettet in zahlreiche Geschichten und Interview-Auszüge, die Co-Autorin Erin Meyer als Beobachterin von außen beisteuert.

Das „Rock-star principle“ a là Netflix nahm 2001 seinen Anfang, als das Unternehmen in den Strudel der Dotkom-Krise geriet und Leute entlassen musste. Hastings bemerkte statt der erwarteten Weltuntergangsstimmung den gegenteiligen Effekt: Die Beschäftigten schienen neu beflügelt. Da diejenigen auf der Streichliste standen, die nach Meinung der Führungskräfte nur mittelmäßig performten, entstand Hastings zufolge eine höhere Talentdichte. Seither ist Netflix bestrebt, diese ständig aufrecht zu erhalten.

Eine amerikanische Version von New Work

Grundlage dafür ist die Entlohnungspolitik: Netflix zahlt immer top-of-market. Mitarbeitende sind angehalten, mit Recruitern zu sprechen, um ihren echten Marktpreis zu erfahren, so dass Netflix externen Lockangeboten zuvorkommen und sie überbieten kann. Der Streamingdienst setzt auf Fixgehälter, um begehrte Fachleute zu gewinnen. Es gibt keine variablen Boni, da Zielvereinbarungen nicht für Voraussagen in der Zukunft funktionieren. Selbst eine Beteiligung am Profit führt laut Reed Hastings nur dazu, dass Beschäftigte sich an Produkte klammern, statt Innovation in künftige Geschäftsfelder zu befürworten. Diese Einsicht, die die empirische Motivationsforschung untermauert, würde man sich in manch anderem Unternehmen sehnlichst wünschen.

No Rules Rules: Netflix and the Culture of Reinvention (Englisch). Von Reed Hastings und Erin Meyer, Penguin Press, September 2020, ISBN 9781984877864
No Rules Rules: Netflix and the Culture of Reinvention (Englisch). Von Reed Hastings und Erin Meyer, Penguin Press, September 2020, ISBN 9781984877864

Damit „Dreamteams“ ihre volle Kreativität entfalten können, gibt es kaum Regeln oder Vorgaben. Netflix war das erste Unternehmen, das eine Urlaubsflat einführte. Auch Reiserichtlinien oder Genehmigungsprozesse für größere Budgets hat der Streamingdienst abgeschafft. Als Korrektiv dienen nicht Regeln, sondern absolute Offenheit, „Socializing“ von Ideen, ständiges Feedback und Führungskräfte, die die nötigen Informationen und den Kontext für die Entscheidungsfindung liefern. Die Transparenz reicht bis hin zu Gehalts- und Geschäftszahlen. Die Logik dahinter ist bestechend: Freiheit führt zu Verantwortlichkeit. So kann es gelingen, dass Beschäftigte wie Eigentümer im Interesse des Unternehmens handeln.

Schattenseiten: Preisspirale, Elite-Denken und Kultur der Angst

Was wie der Inbegriff von New Work klingt und absolute Freiheit verheißt, hat aber durchaus ungeschriebene Gesetze. Legendär ist der sogenannte „Keeper Test“: Führungskräfte sollen sich regelmäßig fragen, ob sie ihre Teammitglieder, wollten sie das Unternehmen verlassen, überreden würden zu bleiben. Fällt die Antwort negativ aus, muss die Person gehen. Netflix fordert Exzellenz, coacht und trainiert kontinuierlich. Doch es gibt nur Aufstieg oder Fall. Wer nicht die gewünschte Leistung bringt oder nicht mehr dem auf die Zukunft ausgerichteten Bedarf entspricht, wird aussortiert. Auch wenn die Preisspirale der Spitzengehälter das Budget sprengt, kommt der Keeper Test zum Einsatz: Die Zahl der Beschäftigten wird dann zugunsten von „Top-Performern“ reduziert. Dass hier die Sport-Metapher hinkt, muss selbst der Firmenchef Hastings zugeben: Anders als in Sportmannschaften ist bei Netflix die Zahl der „Spieler“ variabel, genauso wie die (ungeschriebenen) Spielregeln.

Rankings oder Bewertungsschemata wie die berühmte 20-70-10-Regel eines Jack Welch, die eine Verteilung festlegt, wie viele Beschäftigte gut, mittel und schlecht zu bewerten sind, lehnt Reed Hastings zwar ab. Denn Innovation kann keine Mannschaft aus Einzelkämpfern brauchen – auf Teamwork kommt es an. Allein: Auch Netflix kennt eine Kultur der Angst. Der Druck auf Manager ist groß, streng zu urteilen, um nicht als Weichling dazustehen. Menschen aus sozialen Gründen an Bord halten? Das sieht diese Kultur nicht vor. HR teilt die Belegschaft in operative und kreative Aufgaben. Top-Gehälter fließen nur im Kreativbereich in einer sehr spitz aufgestellten Branche. Manche Jobs und damit auch die Personen, die sie ausführen, haben eine kurze Halbwertzeit – solange eben gewisse Kenntnisse gefragt sind. Nachhaltige Personalentwicklung sieht anders aus.

Clash der Kulturen: Nur eine Frage der Kommunikation?

Dennoch hat die Netflix-Kultur viele Bewunderer. Und Reed Hastings unterstreicht mit „No rules rules“ seinen Vorreiteranspruch, indem er die eigene Unternehmensgeschichte mit Tipps und Learnings als Roadmap für andere präsentiert. Das ist gewagt, denn Unternehmenskulturen lassen sich bekanntlich nur schwer kopieren. Spannender sind die Anekdoten, die verdeutlichen, wie Reed Hastings selbstverständlich geglaubte Formen der Zusammenarbeit immer wieder in Frage stellt – indem er beobachtet, wie Menschen sich verhalten. Schritt für Schritt lernt daraus auch die Organisation.

Neu ist das allerdings nicht. Vieles, was „No rules rules” beschreibt, ist bereits aus anderen Veröffentlichungen bekannt. Nur Erin Meyer bringt ein neues Element ins Spiel: Die Autorin des Buchs „The Culture Map“ kennt sich mit den interkulturellen Fragen aus, die im Zuge der Internationalisierungsstrategie auf Netflix zukommen. Denn eine Leistungskultur mit schonungsloser Transparenz funktioniert vielleicht in den USA, wo Menschen eine hohe Wechselbereitschaft mitbringen, sich durch hohe Gehälter locken lassen, um ihre Ausbildung an Eliteunis zu finanzieren, oder wo es quasi keinen Kündigungsschutz gibt. Anderswo sieht das anders aus. Im abschließenden Kapitel gehen die Autoren auf die globale Kulturfrage ein, reduzieren sie jedoch weitgehend auf ein Kommunikationsproblem in Sachen Offenheit. Die Up-or-Out-Kultur steht nicht zur Diskussion. Es ist fraglich, ob es dafür ein eigenes Buch gebraucht hätte.