Business Transformation Innovation

Wie der Doom-Jargon die Innovationskraft Deutschlands verschlechtern könnte

Kommentar Viele sozio-ökonomische Debatten der Gegenwart sind faktenfreier Austausch von Hasstiraden und Untergangsszenarien, moniert unser Kolumnist Gunnar Sohn. Das gefährde die Innovationskraft.

Foto: Steven Weeks, Unsplash
Foto: Steven Weeks, Unsplash

Stinkbomben statt wissenschaftlicher Evidenz

Wie wissenschaftlich und empirisch abgesichert geht es in ökonomischen und politischen Debatten zu? Wenn man sich die Hasstiraden, Aburteilungen, Beleidigungen und Blockade-Exzesse unter den Protagonisten der Ökonomik, politischen Wissenschaft, Soziologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft anschaut, ist da kaum etwas von fundierter Wissenschaftstheorie zu spüren. Es regiert die schnelle Meinung und Aburteilung. Gekämpft wird in ideologischen Schützengräben. Je intensiver die abgefeuerten Stinkbomben riechen, um so mehr steigt die Zahl der Repostings und Likes.

Es sind Streit-Süchtige, die in ihrer geschützten Laptop-Umgebung die Muskeln spielen lassen und ihre Schadenfreude kaum unterdrücken können, wenn sie mit ihren Tweet-Spuckröhrchen um sich schießen und einige Treffer landen. Die empirische Evidenz der semantischen Scharfschützen hat die Relevanz der Tagesschau von vorgestern.

Es regiert die schnelle Meinung und Aburteilung. Gekämpft wird in ideologischen Schützengräben. Je intensiver die abgefeuerten Stinkbomben riechen, um so mehr steigt die Zahl der Repostings und Likes.

Vom kranken Mann in Europa bis zur angeblich zweitklassigen deutschen Technologie-Nation im Vergleich zu China und USA wird alles an „Fakten“ instrumentalisiert, um das eigene Weltbild zu untermauern. Sachlichkeit und der Versuch des Abwägens stören da nur. Ablehnung von Bundesjugendspielen: Beleg für die verweichlichte junge Generation, die sich nicht mehr anstrengen wolle. Keine einzige Medaille bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften sei ein Indikator für den Abstieg einer ganzen Nation. Das Vorrunden-Aus bei der Fußball-WM in Katar zeuge von Mittelmaß und Bräsigkeit.

Einzelfall-Empirismus

Wir könnten international nicht mehr mithalten und seien kein Champion bei Innovationen mehr. So lassen sich die dämlichen Analogien endlos fortsetzen. Die Leistungsmoral junger Leute sei unter aller Kanone. Es dominiere eine "Verpisser"-Kultur in Komfortzonen und dergleichen mehr. Einzelfall-Empirismus auf dem Niveau von Horoskop-Schreiberlingen.

Dabei zeigt das auf der Zukunft Personal vorgestellte aktuelle Karrierebarometer, dass die junge Generation leistungsbereit ist und dafür auch ordentlich bezahlt werden möchte. Was für eine Überraschung für all jene, die komplette Jahrgangs-Kohorten mit vorurteilsgeladenen Zerrbildern überzieht.

Während der Pandemie waren international die Schweiz und Deutschland jene Länder, die am schnellsten die Arbeitswelt, da wo es möglich ist, auf Homeoffice umgestellt haben. Kaum ein Wirtschaftsmedium titelte mit der Überschrift „Wir sind Remote-Weltmeister“ weit vor den angeblichen Tech-Giganten USA, China und Co. Kaum einer reflektierte, wie wir mit kluger Wirtschaftspolitik ohne großartige Firmenzusammenbrüche durch die Corona-Zeit gekommen sind. Andere Länder haben jetzt einen viel größeren Nachholbedarf und liegen deshalb in den Wachstumsraten vorn, so Wolfgang Brickwedde vom Institute for Competitive Recruiting in der Sendung #ZPNachgefragt.

 

 

Der Arbeitsmarkt sei robust und die Stellenanzeigen deuteten auf ein Ende der Stagnation hin, denn sie seien ein Frühindikator für die Entwicklung der Konjunktur, sagt Brickwedde. Rückstand bei der KI-Forschung, weil man auf falsche Pferde gesetzt hat? Nun ja. Allein beim Sprung von der Suchmaschine zur Antwortmaschine würde man ohne deutsche Forschung nicht sehr weit sein, also beispielsweise ohne die Anwendung der deutsch-schweizerischen Long-Short-Term-Memory-Software.

Seit 150 Jahren Fortschritt dank Basisinnovationen

Es ist Unternehmen in den vergangenen 150 Jahren immer wieder gelungen, Fortschritt durch Basisinnovationen auszulösen. Etwa Beiersdorf, Oetker, AEG oder Siemens. Sie glänzten mit Innovationen und konnten ihre Belegschaft besser bezahlen als die Konkurrenz. Siemens gründete bereits 1872 eine Pensions- Witwen- und Waisenkasse, AEG-Arbeiter profitierten vom sozialen Verantwortungsgefühl der Chefetage, Beiersdorf reduzierte bereits 1912 die wöchentliche Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich.

Die junge Generation ist leistungsbereit ist und möchte dafür auch ordentlich bezahlt werden. Was für eine Überraschung für all jene, die komplette Jahrgangs-Kohorten mit vorurteilsgeladenen Zerrbildern überzieht.

Die Pioniere des wirtschaftlichen Aufstiegs bauten Arbeiterwohnungen und moderne Schulen, stellten kostenlos Kinderbekleidung zur Verfügung, investierten in Wohlfahrtseinrichtungen, bauten die Gesundheitsversorgung aus und kümmerten sich um gesunde Ernährung. Diese Gründergeneration wurde von Schöpfern und nicht von Zerstörern geprägt. Es waren keine Schwätzer, sondern tatkräftige Visionäre. Und die gibt es auch heute – nicht nur bei den Hidden Champions. Etwa bei den mittelständischen Unternehmen, die die Hardware für die Energiewende herstellen. Oder Persönlichkeiten wie Timo Holm von Siemens, die Experimentierräume für Innovationen schaffen.

„Es steht außer Frage, dass Deutschland vor strukturellen Herausforderungen steht: die Rückkehr der Geopolitik und der Geo-Ökonomie, der Übergang zur Klimaneutralität, der demografische Wandel und der Fachkräftemangel. Hinzu kommen hausgemachte Probleme, insbesondere die bürokratische Schwerfälligkeit meines Landes. Und als Exportnation trifft es uns besonders hart, wenn Lieferketten unterbrochen werden und sich das Wachstum in China abschwächt“, schreibt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in einem Economist-Gastbeitrag als Replik auf die Einstufung der deutschen Wirtschaft als kranker Mann in Europa.

Der Mittelstand sei innovativ und seine vielen Hidden Champions seien stille Marktführer. „Ein breit aufgestellter Industriesektor sorgt für leistungsfähige Wertschöpfungsketten. Unsere soziale Marktwirtschaft pflegt ihre Traditionen der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften und einen starken Sozialstaat. Und nachhaltige öffentliche Finanzen lassen dem Staat viele Möglichkeiten, bei Bedarf einzugreifen“, so Habeck.

Wo bleibt die Lust auf Zukunft?

„Im letzten Winter haben wir gesehen, wozu Deutschland fähig ist, wenn alle an einem Strang ziehen, und haben unsere Abhängigkeit von russischem Gas in kürzester Zeit überwunden. Wir haben eine neue Flüssigerdgas-Infrastruktur aufgebaut, in einem neuen Deutschlandtempo. Diese Erfolge übertragen wir auf andere Bereiche, zum Beispiel auf den Ausbau der erneuerbaren Energien und der dafür notwendigen Netze, auf die Wasserstoffwirtschaft und auf regelbare Kraftwerke. Die Strompreise in Deutschland werden in den nächsten Jahren deutlich sinken, und ich bin sicher, dass meine Regierung die Mittel und den Willen finden wird, in der Übergangsphase für wettbewerbsfähige Strompreise zu sorgen“, erläutert Habeck. Auf X-Twitter wird das mit Sicherheit wieder zerredet.

Betrachten wir Ökonomie als Literatur. Vieles, was uns an volkswirtschaftlichen „Tatsachen“ umgibt, ist poetisch im altgriechischen Sinne.

Was vor diesem Hintergrund in der Ökonomik fehlt, ist die Frage, wie sich der "Verpisser"-Jargon vieler Meinungsbildner auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt? Deirdre McCloskey spricht treffend vom „Markt als Konversation“. Rund ein Viertel aller wirtschaftlichen Aktivitäten beruhten auf Überzeugungsarbeit und Imagination. Und die Wirkung der Imagination entsteht durch die Plausibilität ihrer Erzählung. Der Bullshit vieler selbst ernannter Experten zur Vorhersage der Konjunktur ist nur zu entkräften durch eine Arbeitsweise, die über die eigene Disziplin hinaus geht: Betrachten wir Ökonomie als Literatur. Vieles, was uns an volkswirtschaftlichen „Tatsachen“ umgibt, ist poetisch im altgriechischen Sinne. Insofern ist der 2:1-Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft unter Leitung von Rudi Völler gegen Frankreich doch ein wohltuendes Zeichen, wenn diese Analogien nicht so dämlich wären. Welche altgriechischen Assoziationen fallen Euch dazu ein?