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Mehr Hannah Arendt wagen!

Kommentar Management folgt oft, bewusst oder unbewusst, autoritärem Denken, meint Gunnar Sohn. Höchste Zeit, mit Hannah Arendt anders zu denken.

Wir müssen unser Denken von überkommenen Stereotypen befreien, um fürs heute und Morgen gerüstet zu sein. Foto: Basil James/Unsplash
Wir müssen unser Denken von überkommenen Stereotypen befreien, um fürs heute und Morgen gerüstet zu sein. Foto: Basil James/Unsplash

Nachhaltige Botschaften

Die Philosophin und politische Theoretikerin Hannah Arendt war in ihrer Präsenz eine Meisterin der Kombinatorik. Sie wusste, dass der Dreiklang von gedrucktem Text, Radio und Fernsehen die Nachhaltigkeit ihrer Botschaft sicherte. Sie nutzte die unterschiedlichen medialen Spielformen als Gelegenheit, ihre Überlegungen zu variieren. „Die Medien gaben ihr die Möglichkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen, die Sehepunkte zu ändern. Dinge, die im wahrsten Sinne des Wortes nicht in die Bücher oder Artikel passten, hatten noch immer dankbare Abnehmer bei den Radiostationen oder umgekehrt“, schreibt Thomas Meyer in seiner vorzüglichen Arendt-Biografie, erschienen bei Piper. Zuweilen ging es darum, dass das von Arendt gewählte Thema Prominenz bekam. „So war es etwa im Falle Walter Benjamins, der selbst sehr viel über Medien und die Veränderung des Denkens nachgedacht hatte. Sie schrieb eine lange Einleitung in eine Werkauswahl, hielt einen von Radio und Fernsehen übertragenen Vortrag über ihn im New Yorker Goethehaus und veröffentlichte eine Variation dieser Überlegungen in der Zeitschrift Merkur“, erläutert Meyer in dem Kapitel Dreiklangdimensionen.

Arendt war nicht nur eine der ersten Medienintellektuellen, sondern ein Medienprofi. Sie verfügte weltweit über ein sehr gut informiertes Netz von Freundinnen, Freunden und Bekannten, die mit ihr und für sie den Markt beobachteten. Das reichte bis zur Höhe von Honoraren, Tantiemen und Resonanz auf das publizierte Œuvre. Erfolge verkaufte Arendt immer als Erfolg der Publikationsorgane und Verlagsmitarbeiter. Zudem war die Philosophin und Publizistin schnell erreichbar, formulierte zugespitzte Thesen, sprach druckreif und man erhielt direkt zitierfähige Antworten. Das Schöne für Medien war der unverwechselbare Arendt-Sound, der sich nicht nur über Radio und Fernsehen, sondern auch in Printbeiträgen vermitteln ließ. Kein überheblicher Ordinarienton, kein Aburteilungsgestus, wie er heutzutage inflationär im Social Web zur Schau gestellt wird, sondern nachdenkliche und kluge Analysen.

"Zu kühn, um weise zu sein"

„Arendts Aufstieg in den amerikanischen intellektuellen Zirkeln hatte mit ihrer Fähigkeit zu tun, die Situationen ergriffen zu haben, die sich ihr boten. Zufälle ebenso anzuerkennen und zu nutzen wie die Möglichkeiten, die sich durch ihre Arbeiten ergaben“, so Meyer. Ihre öffentliche Anerkennung erhöhte sich mit jedem Artikel, jedem Buch, jeder Zeile, die über sie geschrieben wurde.

Ihre Wirkmächtigkeit drückte der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger sehr gut aus: „Sie war zu kühn, um weise zu sein.“ Im „kleinen Eckladen des Denkens“, den sie „querab von der Zeit“ betrieb, wie sie mit Vorliebe sagte, war sie glücklich über jeden Beistand, der ihr zuteil wurde, doch mußte er aus der Freiheit des Urteilens kommen: „Wo von geistigen Lagern die Rede ist, herrscht meistens der Ungeist“, sagte sie.

Sie sei weder links noch rechts, weder liberal noch prinzipienstreng und glaube nicht einmal an irgendeinen Fortschritt – sei es in der Moral, sei es im Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Selbst Theorien seien häufig nur pompöse Masken für dürre Köpfe, die auf dem intellektuellen Karneval herumspringen.

Nicht wenige hielten sie für unberechenbar, und ein gemeinsamer Freund äußerte bei Gelegenheit, sie sei für eine Philosophin allzu launisch. Ihren intellektuellen Einfluss aber könnten wir heute gut gebrauchen, in der Politik, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft.

Immerwährendes Hinterfragen

Wolf Lotter sieht mit Blick auf Arendt die Notwendigkeit einer permanenten Inventur. Diese Inventur muss deshalb erst einmal die Kultur in den Blick nehmen, ganz so, wie es Arendt in ihrer „Vita Activa“ aus dem Jahr 1958 tat: Der Arbeitsgesellschaft, so prophezeite sie darin, werde die Arbeit ausgehen, und damit die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. „Die Folgen sind immer deutlicher spürbar. Wer heute den Fachkräftemangel beklagt, hat nicht verstanden, was diesen Mangel neben dünnen Geburtsjahrgängen noch auslöst: dass immer weniger eine schwere, monotone Routinearbeit machen wollen. Die Wissensgesellschaft braucht ein anderes Konzept von Organisationen, von Kultur, Arbeit und Leistung, von Innovation und Fortschritt, Politik, Teilhabe und Selbstbestimmung als bisher. Begriffe, die wir sorglos benutzen und die für uns ganz normal sind, müssen neu definiert werden. Damit haben wir noch nicht einmal ansatzweise begonnen. Dafür ist es wichtig, klar, nüchtern und pragmatisch vorzugehen. Es ist wichtig, auch empirisches Wissen dort zu sammeln, wo es um Diversität geht. Denn noch wird die – man kann es nicht oft genug sagen – durch die Brille derer gesehen, die Wissensgesellschaft und selbstbestimmte Arbeit ablehnen oder zumindest nicht verstehen. Aus deren Perspektive wirken alle anderen und alles andere als gestört“, schreibt Wolf Lotter in seinem neuen Opus „Die Gestörten“.

Er verweist auf Jule Jankowski, die zu Beginn der Coronapandemie eine bemerkenswerte Podcast-Serie startete: Good Work, gute Arbeit. „Und das ist für sie im Wesentlichen selbstbestimmte Arbeit, die ein selbstbestimmtes Leben möglich macht. Das ist ein Programm für die Zukunft einer Gesellschaft, in der Arbeit echte Probleme löst und keine Lösungen von der Stange anbietet, die zu nichts anderem führen als zu einem Mehr vom Gleichen. Es geht nicht um eine weitere Stufe in der vom Industrialismus angeheizten Konsumgesellschaft, es geht um eine Welt, in der Arbeit wieder das hat, wonach so viele heute suchen: Sinn. Und damit ist nicht jener wohlfeile Purpose gemeint, den uns Coaches und Lebenshelfer verticken wollen, sondern tatsächlich jener Sinn, den, wie Hannah Arendt schreibt, ein ‚tätiges Leben stiftet‘. Die Gestörten haben sie, ihre Vita Activa. Und es wird Zeit, dass sie ihr Recht verlangen. Denn hier wird eine Unter-Ordnung konserviert, die nicht schützenswert ist und aus der sich viele nicht befreien können, weil sie nicht gelernt haben, wie das geht“, schreibt Lotter. 

Weg von der Wahrung des Ist-Zustands 

Gute Arbeit sei der alten Gesellschaft zu kompliziert, zu irritierend. „Was die Gestörten wollen, das widerspricht den festen Traditionen des Chefseins, des Control and Command, das der Managementtheoretiker Henri Fayol entwickelte und das bis heute als Fundament vieler Managementideen fortlebt. Fayol fasst in 14 ‚Prinzipien des Managements‘ zusammen, was in der Führung großer Organisationen unerlässlich ist. Es ist das Evangelium der Gehemmten, in dem es ausschließlich um die Wahrung des Ist-Zustands geht. Für jede Innovation, jede schöpferische Zerstörung ist dieses System völlig ungeeignet, es ist geradezu der Todfeind jeder Erneuerung“, formuliert Lotter.

Das sei kein Zufall: Fayol schrieb seine Prinzipien im Ersten Weltkrieg, 1916. Die Gehemmten, die dabei herauskommen, seien also, wenigstens als Teil des Managements, nicht nur einfach arme, unkreative Trottel, sondern eine echte Bedrohung eines offenen und demokratischen Menschenbildes. „Gerade in Deutschland sollte man das aufgrund einschlägiger Erfahrungen gelernt haben. Der Prototyp des Massenmörders ist nicht der leicht erkennbare Schlächter, sondern der harmlos wirkende Schreibtischtäter, der, der die Befehle ausführt und weiterträgt – Hannah Arendts Analyse trifft eben nicht nur auf den ‚Endlösungs-Bürokraten' Adolf Eichmann zu, sondern auf Millionen seiner Gesinnungsgenossen. Wie die wurden, was sie sind, muss man wissen wollen, um zu verstehen, was die Gestörten gerade nicht reproduzieren dürfen, wenn sie menschengerechtere, innovativere und leistungsfähigere Organisationen als heute schaffen wollen“, führt Lotter aus.

Eigenverantwortung, Neugierde, Selbstwirksamkeit

Denn nur so sei es zu schaffen, was salopp gern eine bessere Welt genannt wird, in der es nicht um Kommando und Kontrolle geht, sondern um Eigenverantwortung, Neugierde und jene Selbstwirksamkeit, die jede und jeden sagen lässt: Wir schaffen das auch ohne Befehl, Kommando, Druck und Gewalt.

Dass im deutschen Management ein Hang zu Befehl und Gehorsam existiert, liegt wohl auch an einem Mann der SS: Reinhard Höhn. Von 1939 bis 1945 amtierte er als Direktor des Instituts für Staats­forschung an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, von 1941 bis 1944 war er Herausgeber der Zeitschrift „Reich – Volksordnung – Lebensraum“, des geopolitischen Grundlagen­organs der SS.

Nach dem Krieg taucht der SS-Vordenker mit gefälschten Papieren für ein paar Jahre ab und schlägt sich als Natur­heilpraktiker durch, doch bereits ab 1950 kann er wieder unter seinem richtigen Namen auftreten. „1953 wird der Verwaltungs­jurist zum Direktor der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, eines von der Industrie finanzierten Thinktanks, in den ihn ein Netzwerk ehemaliger SS-Kader kooptiert hat. 1956 schliesslich übernimmt er die Leitung der frisch gegründeten ‚Akademie für Führungs­kräfte' in Bad Harzburg. Die Akademie, die nach dem Vorbild der Harvard Business School konzipiert ist, wird zur bedeutendsten deutschen Kader­bildungsstätte der 50er- und 60er-Jahre. Das von Höhn geschaffene sogenannte ‚Harzburger Modell' entwickelt sich zum wichtigsten deutschen Management­system der Wirtschafts­wunderjahre“, schreibt das Schweizer Magazin Republik.

Bis ins Jahr 2000 – das Todesjahr von Höhn – durchlaufen rund 600.000 Führungs­kräfte die Fortbildungs­kurse der Akademie, von BMW über Opel, Bayer, Aldi bis Thyssen und Krupp entsenden unzählige deutsche Konzerne ihre Kader nach Bad Harzburg. Dass Reinhard Höhn einst eine hohe Stellung im Sicherheitsdienst der SS innehatte und den Krieg im Rang eines SS-Generals beendete, wussten all jene in der Bundeswehr und in der Privatwirtschaft, die ihre Führungskräfte zur Fortbildung nach Bad Harzburg schickten. Dort lehrten zwei weitere ehemals hohe SS-Funktionäre, Justus Beyer und der auf Marketing umgeschulte Professor Franz Alfred Six, sowie ein einstiger NS-Arzt, der Eugeniker und Rassist Professor Kötschau, der nunmehr die erschöpften Führungskräfte mit diätetischen und ergonomischen Ratschlägen umsorgte. Nachzulesen im Buch von Johann Chapoutot „Gehorsam macht frei: Eine kurze Geschichte des Managements - von Hitler bis heute“. Wir sollten mehr Hannah Arendt wagen.