Business Transformation Innovation

Schmeißt Eure Pläne über Bord. Lest mehr Luhmann!

Innovation ist nicht planbar, meint unser Kolumnist Gunnar Sohn. Zufall spiele die entscheidende Rolle, erst in der Rückschau erklärten wir alles mit Kausalitäten. Wir brauchen Räume, die zufällige Entdeckungen möglicher machen.

Foto: Karolina Grabovska, Pexels.com
Foto: Karolina Grabovska, Pexels.com

Vom Glück des Findens ohne Suchen

Bei meiner üblichen subtilen Jagd nach Veröffentlichungen von Joseph Schumpeter in seiner Bonner Zeit als Professor von 1925 bis 1932 finde ich zwei Bücher, die ich gar nicht gesucht habe. Treffender Weise mit dem Titel „Serendipity, Vom Glück des Findens - Niklas Luhmann“ und „Poetik und Hermeneutik XVII Kontingenz“. Die poetisch-hermeneutische Abhandlung ist das Ergebnis einer berühmten Tagungsreihe, die von dem Philosophen Hans Blumenberg und dem Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß in den 1960er Jahren gegründet wurde.

In der Computerisierung des Wissens will man die Möglichkeit des Zufalls ausschalten. Was für eine anmaßende Obsession.

Die Innovation dieses Formats lag in der Idee der ungehaltenen Rede: „Die Vorträge der Tagungsteilnehmer wurden nicht vorgelesen, sondern vorher an alle Teilnehmer verschickt. Die Zusammenkünfte selbst waren als Diskussion über gemeinsame Lektüren und als Vorbereitung einer gemeinsamen Publikation angelegt, und das hat sie davor bewahrt, sich in bloßer Geselligkeit zu erschöpfen. Zugleich konnten diese Vorträge, entlastet von der Rücksicht auf ein anwesendes Publikum, von einer Länge und Gründlichkeit sein, die man keinem Vortragenden jemals gestatten würde, und das wiederum kam dem Niveau der Diskussionen zugute”, erläutert der Soziologe André Kieserling.

Zufällige Schöpfung

Im Vom-Glück-des-Findens-Zettelkasten von Niklas Luhmann und in den Tagungsbänden der Wissenschaftstagungen von Blumenberg und Jauß stecken Anregungen für zufällige Kombinationen. Renate Lachmann zitiert im Kontingenz-Band den Dadaisten Hans Richter, der auch meine Recherchearbeit sehr gut beschreibt: „Der Zufall wurde unser Markenzeichen. Uns erschien der Zufall als eine magische Prozedur, mit der man sich über die Barriere der Kausalität, der bewussten Willensäußerung hinwegsetzen konnte, mit der das innere Ohr und Auge geschärft wurden, bis neue Gedanken- und Erlebnisreihen auftauchten“.

In der Computerisierung des Wissens will man die Möglichkeit des Zufalls ausschalten. Was für eine anmaßende Obsession. Der Zufall wird als Provokation gesehen. Mit mechanisch-kombinatorischen Apparaten und Tafeln versuchten vor Jahrhunderten Raimundus Lullus, Athanasius Kircher, Gottfried Wilhelm Leibniz und weitere Zeitgenossen Methoden für berechenbare Innovationen zu kreieren. Was der Mallorquiner Lullus im 13. Jahrhundert entwickelte, war ein Vorläufer der Programmiersprachen Cobol und Assembler. Seine Ars Magna wurde erfolgreich auf Großrechnern installiert. Dennoch steckt nicht wirklich Schöpferisches in diesen Buchstabenspielereien und binären Codierungen.

Wer krampfhaft nach Kausalitäten sucht, kann gedanklich ins Abseits abdriften.

Die kombinatorische Manipulation träumt von der Vorsehung sowie der Vorhersehbarkeit und landet in der Pseudologik, in Trugschlüssen, Komplott-Theorien, Paranoia, Aberglaube, Wunderglaube und Halluzination. Wer krampfhaft nach Kausalitäten sucht, kann gedanklich ins Abseits abdriften.

Bei der Suche nach Innovationen sollten wir anarchischer, dadaistischer und gelassener werden. Das beschreibt ja die Kontingenz: Das Nichtnotwendige; das, was auch hätte anders sein können. Entspannt Euch also ein wenig, wenn über Zukunftsstrategien der Bundesregierung oder Strategieprobleme Deutschlands gesprochen wird, die der Handelsblatt-Chefredakteur Sebastian Matthes skizziert: Unter der Zwischenüberschrift „Disruptionen sind kein Zufall“ formuliert Matthes: „Die Fans der Ordnungspolitik alter Schule müssen nun ganz stark sein. Die Geschichte lehrt nämlich, dass echte technologische Disruptionen höchst selten zufällig geschehen, besonders gilt das für deren Weiterentwicklung und Skalierung. In vielen Fällen sind sie das Ergebnis strategischer Planung, von Forschungsförderung und öffentlichen Aufträgen. Die Computerindustrie des Silicon Valley ist so entstanden. Die Tech-Industrie in Israel auch.“

Bei der Suche nach Innovationen sollten wir anarchischer, dadaistischer und gelassener werden.

Ist das so? Schaut man sich die Tech-Überflieger an, dann deutet doch vieles auf Zufall, Glück und Kontingenz hin. Nur allzu gern versuchen wir krampfhaft, unserem Dasein eine gehörige Portion Kausalität aufzutischen. Das sind nur Ex-Post-Konstruktionen. Wenn ein durchschnittlicher Golfer bei einem zweitägigen Turnier einen überdurchschnittlichen Start hinlegt, gehen wir davon aus, dass er auch am zweiten Tag eine gute Leistung zeigt. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings hoch, dass er wohl eher wieder ein normales Ergebnis bringt, weil das außerordentliche Glück des ersten Tages nicht anhalten wird. Für Sportreporter ist das aber keine Neuigkeit.

Was der Nobelpreisträger Dan Kahneman als Regression zum Mittelwert bezeichnet, bringt keine Schlagzeilen. Die Headline muss daher anders lauten: „Der Golfer zeigte Nerven und konnte dem Druck nicht standhalten“. Oder: „XY ist kein Siegertyp“. Oder auch: „Der Gegner zermürbte den Champion des ersten Tages“. Mit folgender Schlagzeile geben wir uns nicht zufrieden: „Der Golfer hatte ungewöhnlich viel Glück“. Da fehlt die kausale Kraft, die unser Intellekt bevorzugt.

Hinterher sind alle schlau

Wir suchen krampfhaft nach einer eindeutigen Beziehung von Ursache und Wirkung, tappen damit aber in die Falle ungerechtfertigter kausaler Schlüsse. Glück oder Zufall passen nicht zur Attitüde der Welterklärer, Chefredakteure und Politik-Berater. Das gilt auch für Rückschaufehler. Im Nachgang ist man immer schlauer und erkennt Gründe, die vorher niemanden interessierten. Schön zu beobachten beim Angriff von Russland auf die Ukraine. Es gibt nur sehr wenige Zeitgenossen, die die totalitären Absichten des russischen Präsidenten richtig einschätzten. Zu ihnen zählt Walter Kohl, der 2019 einen außenpolitische Exkurs zu Papier brachte mit dem Tenor: Das System Putin ist unser Feind. Er erläuterte seine Sichtweise auf der Fachmesse Zukunft Personal.

Besonders von Top-Managern und Politikern wird die Rolle von Können und Geschick maßlos überbewertet.

Der Handelsblatt-Häuptling könnte sich den Bestseller „Immer erfolgreich“ von Jim Collins und Jerry I. Porras vorknöpfen. Das Buch enthält eine gründliche Analyse von 18 konkurrierende Unternehmenspaarungen, bei denen eines erfolgreicher war als das andere. Jeder Vorstandschef, Manager oder Unternehmer sollte nach Auffassung der beiden Autoren dieses Buch lesen, um visionäre Firmen aufzubauen. Dann hätten sie wohl eine Strategie … 

Nach dem Erscheinen des Buches schwand der Abstand in Ertragskraft und Aktienrendite zwischen den herausragenden und den weniger erfolgreichen Firmen praktisch auf Null. Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erzielten die Unternehmen mit den schlechtesten Bewertungen im weiteren Verlauf viel höhere Aktienrenditen als die bewunderten Kandidaten. 

Die Aura der Unbesiegbarkeit und des Heldentums im Management ist in Wahrheit ein Werk der Göttin Fortuna.

Besonders von Top-Managern und Politikern wird die Rolle von Können und Geschick maßlos überbewertet. So wollten die Google-Gründer nach einem Jahr ihr Unternehmen für eine Million Dollar verkaufen, aber dem potenziellen Käufer war der Preis zu hoch und der Deal platzte. Weil jede folgende Entscheidung des Suchmaschinen-Giganten mehr oder weniger positiv ausging, deutet die Geschichte auf ein beinahe makelloses Vorauswissen hin – „aber Pech hätte jeden einzelnen der erfolgreichen Schritte zunichtemachen können“, bemerkt Kahneman. Die Aura der Unbesiegbarkeit und des Heldentums im Management ist in Wahrheit ein Werk der Göttin Fortuna.

Auf das Unerwartete vorbereiten

Deshalb empfehle ich dem Handelsblatt-Chefredakteur den Begleitband zur Luhmann-Ausstellung in Bielefeld. Dort steht etwas zu den Vorteilen von Ordnung und Unordnung, die man kombinieren kann. Niklas Luhmann bewegte sich auf der von Horace Walpole benannten Gabe der Serendipität, also der Fähigkeit, etwas zu finden, was man gar nicht gesucht hat. Eine Recherche-Methodik für überraschende Erkenntnisse.

Entscheidend ist dabei der Verzicht auf eine Priorität. Es gibt in diesem Netz der Notizen keine privilegierten Plätze und keine Zettel von besonderer Qualität. Schmeißt also die Pläne und Strategien in der Innovationspolitik über Bord, überlegt Utopien und Visionen, die eine große Bandbreite an technologischen und organisatorischen Möglichkeiten eröffnet. Der Weg zur Innovation sollte Spaß machen.

Wir sollten Räume schaffen für mehr Experimente und nicht ständig über Risiken fabulieren

Zudem kann man mehr positive Zufälle kreieren. „Oder anders gesagt, den Raum zu vergrößern, in  dem Serendipität stattfinden kann“, so Christian Busch im Interview mit Peter Felixberger und Armin Nassehi, veröffentlicht im Kursbuch 213 mit dem Schwerpunkt „Alles kein Zufall“. Man kann sich auf das Unerwartete auch vorbereiten, um besser, schneller und konstruktiver zu reagieren.

Wir sollten Räume schaffen für mehr Experimente und nicht ständig über Risiken fabulieren, wie der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber, der
ChatGPT wohl als Untergang des teutonischen oder europäischen Abendlandes wertet. Perspektiven zeigen der KI-Forscher Wolfgang Wahlster sowie Daniela Todorova und Oliver Gürtler von Microsoft Deutschland. Nicht nur lehrreich für Datenschützer.