Innovation Business Strategie

„Uns fehlt der Wille zur Exzellenz“

Interview Die Unternehmen haben den Sinn selber aus sich vertrieben, sagt Gunter Dueck. Der alleinige Fokus auf Effizienz habe nicht nur den Purpose gekillt, sondern auch unser Verständnis von Qualität und Exzellenz. Der Ausweg? Anerkennen, dass wir unten angekommen sind.

Der Sinn fehlt. Und man kann ihn nicht erfinden

Herr Dueck, Sie haben ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Bitte keine Sinnfragen!“. Und das in einer Zeit, in der alle Welt von Sinn und Purpose spricht. Was war der Treiber?

Im Grunde bedeutet das Reden über Sinn und Purpose, dass der Sinn fehlt. Und darüber machen sich die Menschen Gedanken. Und wenn der Sinn fehlt und man sich zwingen will, einen Sinn zu beschreiben, dann geht das nicht. Denn es ist ja nichts da. Das ist nichts Neues, das wiederholt sich immer wieder. Früher haben wir von der Mission einer Unternehmung gesprochen, die man unbedingt brauchte und dann auch konstruiert hat. Zudem haben wir nach Unique Selling Propositions gesucht, nach Punkten, die das jeweilige Unternehmen von all den anderen Unternehmen unterscheidet. Wir haben Visionen erarbeitet – alles, um die Frage zu beantworten: Warum gibt es uns? Im Grunde sind das Pflichtübungen von Stabsabteilungen, die irgendetwas Schönes fabrizieren. Das oft völlig abgekoppelt ist von der Wirklichkeit.

Foto: Dominik Butzmann
Foto: Dominik Butzmann

Aber die Mission soll der Organisation doch das Ziel offenbaren, den Zweck, für den alle morgens aufstehen.

Nehmen wir die Deutsche Bahn. Deren Purpose lautet sinngemäß „Wir bringen den Passagier pünktlich von A nach B“. Und das regt mich auf. Ich bin gestern wieder Bahn gefahren, es herrschte völliges Chaos wegen einer Weiche, die nicht funktioniert hat. Bei jeder Bahnfahrt plane ich mittlerweile einen Puffer von drei Stunden ein, damit ich in jedem Fall pünktlich bei Terminen bin. Das kostet mich Lebenszeit. Aber der Purpose ist definiert, das ist das Wichtigste. Die Deutsche Bank behauptet, sie stehe an der Seite derer, die vorankommen wollen. Und helfe, eine bessere Zukunft zu schaffen. Und ist dann alle vier Wochen in einen neuen Korruptionsskandal verwickelt.

Gunter Dueck
Prof. Dr. Gunter Dueck war bis August 2011 Chief Technology Officer (CTO) der IBM Deutschland. Seitdem ist er freischaffend als Schriftsteller, Business-Angel und Speaker tätig und widmet sich weiterhin unverdrossen der Weltverbesserung.
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Efficiency kills purpose

Sie schreiben in Ihrem Buch, der Sinnverlust gehe zurück auf die 80er Jahre, als die Unternehmen den Effizienzgedanken für sich entdeckten. Mit all den Kostenreduktionen und Sparmaßnahmen hätten sie den sozialen Kontrakt mit den Mitarbeitenden aufgekündigt. Und diese den Sinn verloren.

Früher hat niemand danach gefragt, ob Menschen mit ihrer Arbeit zufrieden waren. Weil sich diese Frage gar nicht gestellt hat, sie waren schlicht zufrieden. Und sie waren stolz auf ihre Arbeitgeber. „Ich bin IBMer“, „Ich schaffe beim Benz“, „ich bin Siemensianer“: Arbeit und Arbeitgeber waren Teil der Identität, ganze Familiendynastien haben bei einem und demselben Unternehmen gearbeitet. Und es gab einen ungeschriebenen Vertrag: Ihr arbeitet daran, Produktivität und Ertrag zu verbessern, und wir beteiligen Euch daran mit Lohnerhöhungen und indem wir die Produktion nicht verlagern. Dann kam diese berühmte Toyota-Studie über die Zukunft der Automobilproduktion. Darin stand „Verschwende nichts. Mach keine Unordnung. Erzeuge keine Prozesse und Ausnahmen von Regeln, die zu Chaos führen. Überlaste die Maschinen nicht. Überlaste die Menschen nicht.“ Alles richtig, das kann man heute noch so veröffentlichen. Nur: In Deutschland hat man sich ausschließlich auf das Thema Verschwendungsvermeidung gestürzt, sprich Effizienz.

Früher hat niemand danach gefragt, ob Menschen mit ihrer Arbeit zufrieden waren. Weil sich diese Frage gar nicht gestellt hat, sie waren schlicht zufrieden.

Das war ja sicher nicht falsch.

Verschwendung gab es, ohne Frage. Doch die Berater sind durch die Unternehmen gezogen und haben festgestellt: Die Menschen arbeiten nur 60 Prozent ihrer Zeit ganz konkret an dem, wofür sie eingestellt wurden, sagen wir Softwareentwicklung. Der Rest der Zeit floss in Meetings, in Dienstreisen, in den Austausch mit anderen, ins Lernen. Und Unternehmen haben versucht, diese 40 Prozent vermeintliche Zeitverschwendung wegzubekommen. In der Folge wurden Weihnachtsfeiern und andere Events gestrichen, vermeintlich unproduktive Zeit sollte so stark wie irgend möglich reduziert werden. Und weil man gerade dabei war, wurden auch noch Feierlichkeiten zu Betriebsjubiläen beendet. Hatte davor der Chef bei einem kleinen Umtrunk den Menschen für 25, 30, 40 Jahre Betriebszugehörigkeit gedankt und ein kleines Präsent überreicht, gab es jetzt, wenn überhaupt, ein Schreiben mit ein paar warmen Worten. Viele solcher sinnstiftenden Rituale wurden als Verschwendung abgeschafft. Gleichzeitig gab es Mandate, die produktive Zeit von 60 auf nahezu 100 Prozent anzuheben. Doch was ist mit all den Reisezeiten, den Zeiten, die für Protokolle draufgehen, die nach Meetings geschrieben werden müssen, mit Mitarbeitergesprächen? Das alles brauchte man ja nach wie vor. Ergebnis: Die Zahl der Überstunden ist explodiert.

Früher stellte sich die Sinnfrage nicht

Und damit haben die Menschen den Sinn ihrer Arbeit verloren?

Ich habe immer kritisiert, dass von all den richtigen Punkten der Toyota-Studie nur die Effizienzsteigerung umgesetzt wurde. Dass es mindestens genauso wichtig ist, die Menschen nicht zu überlasten und auch nicht das Material, haben alle ignoriert. Die Folge sehen wir jetzt: Wir haben uns fast zu Tode optimiert. Viele Menschen gehen wegen der Überstunden und der Entgrenzung der Arbeit am Stock, bildlich gesprochen, sind krank oder kündigen innerlich. Straßen und Brücken sind noch geradeso nutzbar, das Schienennetz der Bahn ist gerade noch in der Lage, Züge irgendwie von A nach B fahren zu lassen. Wir sehen jetzt, dass jede kleine Störung in maximal optimierten Lieferketten desaströse Folgen hat. Und der ausschließliche Fokus auf Effizienz hat desaströse Folgen für die Motivation der Menschen – weil Sinn und Erfüllung fehlen.

Wir haben uns fast zu Tode optimiert. Viele Menschen gehen wegen der Überstunden und der Entgrenzung der Arbeit am Stock, sind krank oder kündigen innerlich. Straßen und Brücken sind noch geradeso nutzbar, das Schienennetz der Bahn ist gerade noch in der Lage, Züge irgendwie von A nach B fahren zu lassen.

Die New York Times hat neulich berichtet, dass in den USA und Großbritannien Software, mit der Tastenanschläge am PC getrackt werden können, steile Wachstumsraten hat. Weil die Unternehmen genau messen wollen, ob die Menschen arbeiten …

Da werden dann Kennzahlen erfunden, die vermeintlich Rückschlüsse auf die Produktivität zulassen. Eben zum Beispiel die Zahl der Anschläge je Zeiteinheit.

Die Gerade-noch-Gesellschaft

Mich treibt die Frage um, wie wir heute Leistung messen können. Rein quantitativ reicht nicht.

Ich war lange Zeit Hochschulprofessor für Mathematik. Und ich kann Ihnen sagen: Ich sehe schon bei der Vergabe des Diplomarbeitsthemas, welche Note jede und jeder erzielen wird. Diejenigen, die sagen, „Ich verstehe, ich gehe morgen an die Arbeit“, erreichen eine Eins. Diejenigen, die sagen „Das traue ich mir zu. Ist zwar ein schweres Thema, aber das packe ich schon“ kriegen eine Zwei. Und die, die ein bisschen Panik haben und sagen „Oh, das wird aber schwierig“, kommen auf eine Drei. Das ist im Arbeitsleben auch so. Führungskräfte leben oft über Jahre mit ihren Mitarbeitern zusammen und wissen, was sie jeweils können und wie gut sie sind. Das ändert sich auch nicht stark über die Jahre. Wer als Führungskraft ehrlich ist und keine Machtspielchen spielt, kann eine ehrliche Leistungsbewertung vornehmen. Der gesunde Menschenverstand spielt dabei eine bedeutende Rolle. Im Grunde geht es um Eigeninitiative, um Ideen, darum, ob die Menschen etwas auf die Straße bringen und Dinge bewegen. Ob sie zuverlässig sind. Diese Punkte fallen bei dem ganzen Messen zu oft unter den Tisch.

Wer als Führungskraft ehrlich ist und keine Machtspielchen spielt, kann eine ehrliche Leistungsbewertung vornehmen. Der gesunde Menschenverstand spielt dabei eine bedeutende Rolle.

Das Ergebnis zählt.

Viele Menschen haben kein Gefühl für Qualität. Nehmen wir den Fall, dass jemand einen Antrag schreibt. Es geht darum, das Go für ein Projekt zu bekommen. Und in dem Antrag finden sich am Ende dutzende Rechtschreibfehler. Entweder, weil sie Probleme mit der Orthografie haben oder weil sie denken, das spiele keine Rolle. Und fallen dann aus allen Wolken, wenn der Antrag abgelehnt wird, weil die Entscheider sagen, wer es nicht schaffe, einen fehlerfreien Antrag zu stellen, werde es auch nicht schaffen, ein Projekt zum Erfolg zu führen. Da ist es dann auch bedeutungslos, wie viele Tastenanschläge sie gebraucht haben.

Wo ist der Grundkonsens?

Fehlt uns das Verständnis für Exzellenz?

Menschen, die auf Note Vier stehen, fehlt das Verständnis für die Note Eins. Für Exzellenz. Das hat mittlerweile die ganze Gesellschaft erfasst. Wir sind mit dem Durchschnittlichen zufrieden. Vor über 30 Jahren hat der Toyota Corolla seinen Siegeszug begonnen. Dieses Auto hatte weltweit die beste Pannenstatistik. Das haben wir in Deutschland damals als Niederlage erlebt. Die deutsche Automobilindustrie wollte das nicht auf sich sitzen lassen, es war Ansporn, besser zu werden. Heute stört es niemanden, wenn Elon Musk mit Tesla den Markt für Elektroautos bestimmt. Wir nehmen das achselzuckend hin, Nachzügler zu sein. Dass andere die Standards setzen. Bildlich gesprochen sind wir von einer Eins irgendwo zwischen der Note drei und vier gelandet. Und fühlen uns da ganz wohl.

Vielen fehlt das Verständnis für Exzellenz. Das hat mittlerweile die ganze Gesellschaft erfasst. Wir sind mit dem Durchschnittlichen zufrieden.

Und wie kommen wir da wieder raus?

Ich werde das immer wieder gefragt. Aber ich bin ja kein Wunderheiler. In jedem Fall ist es schwierig. Das weiß jede Mutter, jeder Vater von einem Kind, das in der Schule gerade so durchkommt. Das sagt „Immerhin habe ich ein Ausreichend“. Es ist unglaublich schwierig für Eltern, dieses Kind für die Idee zu begeistern, dass es sich lohnt, die Note gut anzustreben. Und wenn die Menschen schon in der Familie oft daran scheitern, Begeisterung für Exzellenz zu wecken, wird es für eine ganze Gesellschaft nicht leichter.

Genau dort liegt ja das Hauptproblem: Dass wir keinen Konsens haben darüber, dass wir handeln müssen.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Vielleicht erkennen wir, dass wir unten angekommen sind. Und raffen uns dazu auf, das zu ändern. Ich hoffe, dass wir erkennen, dass diese skizzierten Probleme wirklich existieren. Das ist im Moment etwas schwieriger, in Zeiten, in denen heiß diskutiert wird, ob es Corona wirklich gibt und ob in der Ukraine wirklich ein Angriffskrieg tobt und in denen die Wahrheitsfindung so kompliziert und die Konsensbildung sehr langsam geworden ist. Genau dort liegt ja das Hauptproblem: Dass wir keinen Konsens haben darüber, dass wir handeln müssen. Vielleicht kommt mit der aufwachsenden Generation wieder Schwung und Lust auf eine gute Zukunft.