Business Transformation Change Management

„Resilientes Leadership heißt, Anpassungsfähigkeit und Kreativität zusammenzubringen“

Interview Resilienz lässt sich lernen, meint Iris Brachmaier, seit August 2023 Group Chief People Officer der UNIQA Insurance Group AG, einer Versicherungsgesellschaft mit etwa 21.000 Mitarbeitenden in 18 Ländern. Im Interview auf dem Global Peter Drucker Forum 2023 spricht sie über die Unterstützung, die Führungskräfte und Mitarbeitende dafür brauchen – und über ihren eigenen Lernweg.

Fotos: www.druckerforum.org
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Permanente Überforderung

Frau Brachmaier, vor einigen Jahren waren Führungskräfte vor allem busy, heute sind viele erschöpft. Haben Führungskräfte ein Resilienzproblem?

Im Moment rollen so viele unterschiedliche, auch widersprüchliche Anforderungen auf Führungskräfte zu. Sie müssen Ansprüchen von den Mitarbeitern, den Kunden, dem Markt und von regulatorischen Gremien gerecht werden. Fachkräftemangel, die Suche der Mitarbeitenden nach einem Purpose, Digitalisierung, KI und fehlende Planungssicherheit – die Geschwindigkeit der Transformation ist ein enormer Stressfaktor. Das kann eine gewisse Erschöpfung hervorrufen, wenn man nicht gut darauf vorbereitet ist und nicht die Methoden kennt, wie man gut damit umgeht.

Resilientes Leadership heißt für mich, Anpassungsfähigkeit und Kreativität zusammenzubringen. Man muss das, was man Neues lernt über sich verändernde Umfelder in die Zukunftsarbeit des Unternehmens integrieren.

Resilienz bedeutet vereinfacht gesagt, dass man damit zurechtkommt, was auf einen einstürmt. Das heißt noch lange nicht, dass man dabei kreativ ist und etwas Neues schafft. Besteht da ein Widerspruch?

Resilientes Leadership heißt für mich, Anpassungsfähigkeit und Kreativität zusammenzubringen. Man muss das, was man Neues lernt über sich verändernde Umfelder in die Zukunftsarbeit des Unternehmens integrieren. Also nicht nur schauen, dass man den Kopf noch irgendwie über Wasser hält, sondern den Schwung der Veränderungswelle mitnehmen für neue Dinge. Deshalb hat Resilienz ganz viel mit einer Innovations- und Fehlerkultur zu tun. Sind wir da schon? Nein, vermutlich nicht. Aber wir arbeiten hart daran, dieses Verständnis von Führung zu etablieren. Für Resilienz sind vor allem drei Dinge wichtig: Selfcare, Training der nötigen Führungseigenschaften und laufendes Feedback. Der erste Punkt ist eigentlich die Grundvoraussetzung: Als Führungskraft muss ich mich um mich selbst kümmern können und dafür sorgen, dass es mir gut geht.

Das heißt, Resilienz kann man lernen?

Ja, auf jeden Fall! Deswegen haben wir unter anderem mit unserem „Inspiring Coach Compass“ für bestimmte Führungskräftezielgruppen ein zielgerichtetes Feedback-Programm etabliert. Das ist ein kraftvolles Instrument. Es fokussiert unsere Führungsprinzipien. Und dazu gehören auch zentrale Führungsqualitäten, die Resilienz bilden sollen – wie eben die Fähigkeit zur Selfcare. Aber auch der Umgang mit Ambiguität, also Mehrdeutigkeit, und beidhändige Führung. Führungskräfte müssen mit dem Daily Business umgehen und gleichzeitig Krisen oder zukunftsgerichtete Innovation managen. Außerdem gilt es zu lernen, wie empathisch sie mit Mitarbeitenden umgehen sollen. Wir adressieren das Herz der Führungskraft, entwickeln ihre Skills und geben ihnen auch die notwendigen Tools an die Hand.

Im Prinzip ist dieses Feedback-Tool eine Art 180-Grad-Feedback. Das heißt, Führungskräfte erhalten ein Feedback von ihren Peers und Vorgesetzen zu ihrem Führungsverhalten. Das wird vierteljährlich in einem Online-Tool geteilt. Und zweimal im Jahr führen wir sogenannte Calibration-Sessions durch. Wir setzen uns im Führungskräfteteam zusammen und reflektieren das Feedback gemeinsam. Das ist ein Safe Space, ein geschützter Raum. Wir folgen dabei bestimmten Regeln für einen respektvollen Umgang, weil wir sehr offen über positives Feedback und Entwicklungspotentiale sprechen.

Art und Weise der Kommunikation ist entscheidend

Was sind die Kriterien, um zu erkennen, dass jemand nicht so resilient ist?

Das Feedback zum Führungsverhalten beruht auf Beobachtungen in unterschiedlichen Settings und Situationen im Unternehmen. Wie erlebe ich meine Führungskolleginnen und -kollegen in Meetings, in der Kommunikation mit ihren Mitarbeiterinnen? Dringen die Themen, die wir top-down kommunizieren wollen, in den einzelnen Bereichen durch? Entspricht das Verhalten der Führungskraft unseren Führungsprinzipien? Die Art und Weise der Kommunikation ist ganz wichtig. Wir wollen, dass gewisse Themen sehr transparent an die Menschen in der Organisation kommuniziert werden und sie diese nachvollziehen können.

Man muss in einer großen Organisation top-down den Fokus vorgeben. Und darin sehe ich eine große Schwierigkeit, dass das auf allen Ebenen konsistent ist.

Sie haben die vielen widersprüchlichen Anforderungen in Unternehmen angesprochen. Fehlt Führungskräften der Fokus?

Ja, das geht vielen so. Wenn wir klar priorisieren, sind wir schneller. Man muss in einer großen Organisation top-down den Fokus vorgeben. Und darin sehe ich eine große Schwierigkeit, dass das auf allen Ebenen konsistent ist. Häufig gibt es einen Blumenstrauß von ganz vielen Prioritäten. Da besteht die Gefahr, dass man sich verzettelt.

Wie gehen Sie damit um, wenn Sie feststellen, dass Führungskräfte die Führungsleitsätze nicht erfüllen oder nicht resilient genug sind?

Wir unterstützen Führungskräfte sehr individuell – und erkennen durch unser Vorgehen die persönlichen Entwicklungsbereiche. Von einem One-size-fits-all-Ansatz verabschieden wir uns mittlerweile. Führungskräfte sollten nicht alle das gleiche Programm durchlaufen. Manche erhalten ein Coaching, andere ein individuelles Entwicklungsprogramm.

Kulturentwicklung basiert auf persönlicher Entwicklung

Sprechen Sie dabei explizit von Resilienz-Coaching oder Resilienz-Entwicklung?

Wir bezeichnen das eher generell als Entwicklungsweg. Und diese persönliche Entwicklung ist die Grundlage für die Kulturentwicklung im Unternehmen. Ich habe in meinem Bereich ein eigenes Kultur-Office, das sich damit beschäftigt. Wir bieten unter anderem Experimentierreisen an, bei denen Führungskräfte, aber auch Mitarbeitende ohne Führungsverantwortung Kulturaspekte in ihrem persönlichen Arbeitskontext verändern können. Da geht es viel darum, wie wir aus Fehlern lernen und das kommunizieren. Das ist sehr wirkungsvoll, da man direkt in die Veränderung kommen kann. Ich kenne wenige Organisationen, wo das wirklich in der Kultur schon so fix verankert ist.

Führungskräfte sollten nicht alle das gleiche Programm durchlaufen. Manche erhalten ein Coaching, andere ein individuelles Entwicklungsprogramm.

Inwiefern fokussieren Sie beim Thema Resilienz auch die Mitarbeitenden ohne Führungsverantwortung?

Alle Mitarbeitenden haben als Privatmenschen ihren persönlichen Rucksack zu tragen. Wir bieten deshalb für alle Unterstützung an, ihre persönliche Resilienz zu stärken. Das ist auch Teil des Kerngeschäfts der UNIQA. Wir sind keine klassische Versicherung, sondern auch ein Gesundheitsdienstleister – mit einem entsprechenden Ökosystem. Wir haben ein eigenes Unternehmen namens Mavie, das spezielle Programme für psychische und physische Gesundheit anbietet. Auch Coaching und Mentoring ist Teil unseres gesamten Weiterbildungs- und Entwicklungsprogramms.

Dennoch sind für die Organisation resiliente Führungskräfte besonders wichtig. Wenn sie nicht resilient sind, hat das enorme Auswirkungen. Dann kann das Unternehmen nicht gut mit all den anstehenden Veränderungen umgehen. Und die Organisation wird es langfristig schwer haben, stabil zu bleiben. Also steht und fällt der Unternehmenserfolg mit der Resilienz und Qualität der Führung. Denn sie gibt den Mitarbeitenden ein Gefühl von Sicherheit. Wenn sie das nicht haben und die Führung nicht konsistent ist, dann verlassen viele das Unternehmen.  

Für die Organisation sind resiliente Führungskräfte besonders wichtig. Wenn sie nicht resilient sind, hat das enorme Auswirkungen. Dann kann das Unternehmen nicht gut mit all den anstehenden Veränderungen umgehen.

Um eine resiliente Organisation zu schaffen, muss man aus Ihrer Sicht vor allem die Menschen resilient machen. Was ist mit den dafür nötigen Organisationsstrukturen?

Natürlich muss Führungsentwicklung und Organisationsentwicklung immer Hand in Hand gehen.  Aber es ist ein großer Schritt getan, wenn Führungskräfte resilient sind. Dann können sie die nötigen Strukturen für alle Mitarbeitenden schaffen und alle mitnehmen und sie auf das Unerwartete vorzubereiten.

Gerade gibt es Bestrebungen in einigen Unternehmen, die Möglichkeiten von Homeoffice wieder einzuschränken. Welche Rahmenbedingungen braucht es in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsort, um Resilienz zu fördern?

Es fördert nicht die Resilienz, wenn alle wieder ins Büro kommen müssen. Davon halte ich gar nichts. Die hybride Arbeitswelt ist gekommen, um zu bleiben. Und diesen Ansatz vertrete ich auch bei UNIQA. Wir als Führungskräfte sind gefordert, mit der hybriden Arbeitswelt umzugehen. Eine resiliente Führungskraft schafft es auch, mit einem remote verteilten Team umzugehen. In meinem direkten Team arbeiten 45 Menschen, die in allen Teilen der Welt sitzen. Manche sehe ich nur zwei oder dreimal im Jahr. Das erfordert eine andere Art der Kommunikation, der Meetingstrukturen und der Informationsflüsse. Auch wir sind noch im Experimentierstadium. Aber das zu organisieren ist eine Führungsaufgabe. Natürlich mag es andere Gründe geben, die Mitarbeitenden ins Büro zu holen. Einen Grund sehe ich in von Männern geprägten Führungskulturen

Es fördert nicht die Resilienz, wenn alle wieder ins Büro kommen müssen. Davon halte ich gar nichts. Die hybride Arbeitswelt ist gekommen, um zu bleiben.

Inwiefern sehen Sie da einen Zusammenhang?

Also ich beobachte einen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Führungskulturen. Wir haben dazu in unserem Vorstandskreis eine durchaus offene Diskussion zur Diversität in unseren Führungsstrukturen.  In unserem Vorstandsteam gibt es nur eine einzige Frau. Die Kommunikation ist deshalb oft sehr analytisch und geprägt von der linken Gehirnhälfte. Wir denken darüber nach, wie wir mehr Leidenschaft für unseren Unternehmenspurpose entfachen können und wie sich dafür die Kommunikation ändern muss.

Resiliente Führung braucht Diversität

Sie persönlich waren bis Sommer 2023 Personalvorständin bei dem mittelständischen Automobilzulieferer Gebauer & Griller. Dort hatten Sie eine große Umstrukturierung auf der Agenda – eine Aufgabe, an der man in HR auch grandios scheitern kann. Inwiefern hat Sie das resilient gemacht? 

Schon die COVID-Krise hat Gebauer & Griller hart getroffen. Da ist das Unternehmen noch gut rausgekommen. Aber dann kam der Ukraine-Krieg und die Probleme in den Lieferketten. Automobilzulieferer brauchen viel Vorinvestition in Forschung und Entwicklung. Deshalb mussten wir massiv restrukturieren und Personalkosten minimieren – das hieß auch Personalabbau. Unser Chief Restructuring Officer hat danach zu mir gesagt: „Frau Brachmaier, ich habe schon viele Restrukturierungen erlebt, mit Ihnen hat es richtig Spaß gemacht.“ Nun, über Spaß kann man diskutieren, aber ich war mir bei jedem Step sicher, was zu tun ist. Gleichzeitig war das privat eine sehr schwierige Zeit für mich. Mein Vater ist damals gestorben. Das hat meine Perspektive geändert in Bezug auf das, was beruflich passiert ist. Und mir geholfen, mich auf die wichtigsten Dinge zu fokussieren. Dadurch habe ich eine große Klarheit und weitere Sicherheit mitgenommen. Deshalb schaue ich jetzt auch sehr positiv auf den kulturellen Transformationsprozess bei UNIQA. Mein Resilienzlevel ist ganz weit oben, mich kann nicht so schnell etwas umwerfen.

"Der Unternehmenserfolg steht und fällt mit der Resilienz und Qualität der Führung." – Iris Brachmaier, Group Chief People Officer, UNIQA

Führungskräfte sollen sich engagieren und hinter der eigenen Organisation stehen. Aber gerade hochengagierte Führungskräfte sind besonders gefährdet auszubrennen. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Ja, es ist ein Problem. Es ist unser Leadership-Verständnis, dass die Führungskräfte hinter dem Purpose stehen sollen. Wer nur auf einem Hero-Trip ist, sollte bei uns keine Karriere machen. Doch diejenigen, die mit Herzblut dabei sind, vergessen oft persönliche Grenzen zu setzen. Auch da hilft unser Ansatz der offenen Feedback-Loops. Wir sind mit HR sehr nahe an den Führungskräften dran, können ihnen die Verantwortung aber nicht komplett abnehmen.

Was passiert, wenn Ihr Entwicklungsansatz bei einzelnen Führungskräften nicht fruchtet?

Dann muss man sich die Frage stellen, ob das noch eine Führungskraft sein kann. Ich hatte in jüngerer Vergangenheit zwei Fälle, da musste ich das offen ansprechen. Und ich habe festgestellt, dass die Menschen dann sogar froh waren, weil sie das selbst aus eigener Kraft nicht adressieren konnten oder sich nicht getraut haben zu sagen, „ich kann nicht mehr, das ist nicht mein Ding, das ist zu anstrengend für mich oder ich bin erschöpft“. Nur, wenn man das ausspricht, kann man sich überlegen, welchen anderen Platz es in der Organisation für diese Menschen gibt.